REV 11.12.2007

Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos

Rezensiert von Andreas Beyer
Redaktion: Livia Cárdenas
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Die Verbindung von Amor und Psyche, also jene des zu den ältesten, am Beginn der Welt stehenden Divinitäten zählenden Liebesgottes mit der überirdisch schönen Königstochter, die als jüngste Göttin zu Unsterblichkeit gelangt ist, verklammert die antike Götterwelt an ihren Enden. Der Stoff zählt nicht zur griechischen Textüberlieferung, sondern findet sich erst in einem lateinischen Roman, den „Metamorphosen“ („Der Goldene Esel“) des Lucius Apuleius ausgebreitet und zählt zu den beliebtesten Sujets der Kunst- und Literaturgeschichte. Auf antiken Gemmen und Sarkophagreliefs, in pompejanischen Fresken und in Bildwerken hat dieses Liebesthema überdauert; für dessen prominenteste neuzeitliche Rezeption, Raffaels Fresken für die „Loggia di Amor e Psiche“ in der Villa Farnesina, aber blieb die antike literarische Vorgabe und deren frühneuzeitliche Texttradition massgeblich. Schon in Raffaels Rekurs auf die schriftliche Quelle, unter offenbar bewusster Vermeidung jeder bildgestützten Herleitung, artikuliert sich die besondere Eigenart dieses Mythos, der in einer auffällig wechselwirksamen Dynamik zwischen Literatur und Bild zu stets neuen Darstellungen und Interpretationen gefunden hat. In der Folge freilich sollte, aufschlussreich genug, für die malerische Rezeption des Mythos Raffaels „Loggia“ massgeblich bleiben.
Der enormen Popularität des Gegenstands steht dessen merkwürdige wissenschaftliche Marginalisierung namentlich im deutschsprachigen Raum entgegen – für die Kunstgeschichte wenigstens hat Christel Steinmetz in ihrer Kölner Dissertation von 1989 („Amor und Psyche. Studien zur Auffassung des Mythos in der bildenden Kunst um 1800“) die Beschäftigung auf neue und solide Grundlagen gestellt.
Christiane Holm widmet ihre Dissertation nun der Neu-„Erfindung“ dieses Mythos „in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur“ an der Epochenschwelle um 1800 und geht dessen „langlebiger“ Konjunktur von der anakreontischen Dichtung bis zum Vormärz nach. Dabei darf es das Geheimnis der Autorin bleiben, worauf sie mit den im Untertitel gegebenen Jahreszahlen „1765-1840“ verweist; die Anakreontik setzt ja rund zwei Jahrzehnte früher ein und der Vormärz reicht bekanntlich bis in den Spätwinter 1848. Und wo es schon um die Titelei geht; es wird zunächst auch nicht ganz verständlich, warum dort die „Literatur“ nicht unter den Feldern figuriert, auf denen die weitere Mythenbildung verfolgt wird, wo doch die literarische Tradition von Johann Wilhelm Ludwig Gleim über Wieland, Herder und Goethe bis zu Friederike Bruhn, Karl Philipp Moritz sowie Achim und Bettine von Arnim eigentlich im Fokus steht und die Autorin, das bleibt unüberlesbar, Literaturwissenschaftlerin ist. Es verbirgt sich dahinter aber eine Strategie, nämlich die „Ineinssetzung“ von bildender Kunst und Literatur, die sich für den interessierenden Zeitraum zwar regelrecht aufzudrängen scheint, die aber auch Gefahr läuft, die jeweils eigene Konsistenz der Künste zu vernachlässigen.
Holm, die für sich ein dezidiert „intermediales Erkenntnisinteresse“ reklamiert, unterstreicht zu Recht, dass der jeweilige Rückgriff auf die andere „Gattung“ in der Rezeptionsgeschichte des Mythos bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist. Die Kunstgeschichte habe die Bilderzyklen weitgehend auf den Text, die Skulptur dagegen – bis hin zu Antonio Canovas ultimativer Formulierung des Themas in seiner Amor und Psyche-Gruppe von 1793 – auf die antike Bildtradition zurückgeführt. Die Literaturwissenschaft wiederum habe Bilder allenfalls als illustrative Bestätigung vorgeprägter Lesarten betrachtet. In Anlehnung an Hans Blumenbergs gleichermassen bildhaft-sprachliche Ordnungsfunktionen „Metapher und Mythos“, die hier als theoretische Grundlage und Ausgangspunkt genommen werden, definiert Holm auch die Beschäftigung mit Amor und Psyche als jene „Arbeit am Mythos“, die von Strategien subjektiver Selbstbehauptung gegen eine in ihrer Zufälligkeit unverständliche und als Bedrohung erfahrene Wirklichkeit ausgeht. Dabei seien freilich sowohl der narrative wie der ikonische Kernbestand des „Grundmythos“ niemals wirklich präfiguriert, sondern würden erst durch die jeweils historischen Bedürfnisse entdeckt, erprobt und bekräftigt. Insofern kommt jede Verhandlung eines Mythos einer Neu-Erfindung gleich und bleibt in ihrer selektiven Ausprägung an die unmittelbare Zeitgenossenschaft gebunden.
In weitgehend unbekümmerter, zunächst auch erfrischender Geste wird in dieser Studie mit dem Begriff des Mediums jongliert: Ziel der Arbeit sei „nicht nur, die produktive Herausforderungslage durch die mediale Zweisträngigkeit von antikem Bildmaterial und lateinischer Erzählung herauszuarbeiten, sondern ebenso, die daraus resultierenden Aneignungsweisen des Mythos in ihrer spezifischen Medialität zu analysieren (…) weil dieser Stoff in sich medial gespalten ist.“ (S. 23) Ob aber viel gewonnen wird mit dieser Begrifflichkeit, die ihre Gegenstände zu reinen Bildträgern deklariert und sie, als schiere Instrumente der Kommunikation, ihres eigenen Rechts verlustig gehen zu lassen droht, bleibt fraglich, zumal Holm der Begriff ja, und das ist dringlich, zunächst und vor allem zu Unterscheidungen dient.
Nicht weiter definiert wird auch der Begriff des Mythos selbst, den Holm im Grunde nur zur Bezeichnung des Sujets einsetzt, ohne dessen spezifische Ausprägungen wirklich verlässlich zu differenzieren – so bleibt, trotz einiger Einlassungen der Autorin, etwa dessen Abgrenzung zum „Märchen“ unscharf, obwohl oder gerade weil mit der romantischen Erfindung des „Volksmärchens“ eine synkretistische Amalgamierung von antiker Mysterienpraxis und zeitgenössischer Märchenkultur stattfindet.
Hilfreich ist der materialreiche Exkurs zur antiken Überlieferung in Bild- und Textdokumenten und zu deren „Revision“ in der Renaissance, nicht weniger auch das Kapitel zur altphilologischen und archäologischen Verwissenschaftlichung der Debatte um christliche Seelenmystik und antike Mysterien. Das alles dient zur Vorbereitung auf die eigentlich interessierende Kernzeit, in der die Autorin drei Ebenen definiert, die das Interesse am Amor und Psyche-Mythos um 1800 geweckt haben sollen: die mythologisch-religiöse und die göttlich-menschliche sowie jene der geschlechtlichen Identitäten. Korrespondieren sieht sie damit drei Schwellen – jene an der die Amor und Psyche-Erzählung im Umbruch von der griechischen zur römischen Mythologie platziert ist, und, damit verbunden, also an der von der heidnischen zur christlichen Religion, dann deren Lokalisierung am Grenzbereich zwischen Göttern und Menschen und, drittens, zwischen Kindheit und geschlechtlicher Identität. Dieses Schwellenpotenzial, in dem die veränderten Umgangsformen mit der mythischen Überlieferung, die Diskursivierung der Seele und die Neuordnung der Geschlechter sich artikulieren, steht im Zentrum des Buches.
Vor allem die Figur der Psyche erscheint hier in einem Spannungsfeld von Antike und Moderne, von Symbol und Allegorie, das auch in der Bildkunst schliesslich von der Entkörperung zur Verkörperung der Seele, vom rite de passage des Todes zu jenem der Pubertät, der Geschlechtwerdung führt. Besonders erhellend sind die am Beispiel von Christian Daniel Rauchs Psyche-Plastiken erörterten Aspekte der Geschlechtssemantik, wie überhaupt der Skulptur die inventivere und innovativere Praxis zuzukommen scheint. Holm exemplifiziert das an den antiquarisch inspirierten Beschreibungen und Interpretationen etwa Heinrich Meyers, Carl Ludwig Fernows und Carl August Böttigers und erkennt vor allem in Bertel Thorvaldsens Standplastiken – die sich sowohl an Antonio Canovas Bilderfindung wie an der lateinischen Textquelle orientieren – jene konstitutive Interdependenz von Text und Bild, die sie der gesamten Konjunktur des Themas um 1800 zuschreibt.
Glänzend wird dabei beobachtet und dargestellt, wie sich in der Bildkunst das bewusste Auseinanderfallen von Aktion und Reflexion manifestiert, wobei dann besonders irritiert, dass die Fixierung auf die vermeintliche „mediale Zweisträngigkeit“ offenbar die grundlegend unterschiedliche, spezifische Beschaffenheit von Text und Bild ignorieren lässt. Das artikuliert sich am deutlichsten an dem von Holm immer wieder eingesetzten, der Dramaturgie entlehnten Begriff des „Plots“. Der nämlich ist auf die bildende Kunst, die nicht Handlung und Narration, sondern auf den Punkt gerichtete Positionen, „Spots“ also allenfalls, zeigt, nicht übertragbar. Merkwürdig auch, dass Lessing in diesem Buch nur im Zusammenhang mit der ikonographischen Deutung des geflügelten Genius als Anspielung auf Sterben und Tod aufgerufen wird, nicht aber mit seinen die Zeit bekanntlich vital beschäftigenden Fragen über die jeweiligen Grenzen von Malerei und Poesie, die Holm hier gänzlich ausser Acht zu lassen sich ermächtigt fühlt.
Dass Karl Philipp Moritz seine „Götterlehre“ von 1792 von Umrisszeichnungen des Asmus Carstens begleiten liess, spiegelt seine Überzeugung wider, dass die Neuformulierung der antiken Mythen zwischen Text und Bild vermitteln musste. Gewiss. Aber gerade die solcherart vollzogene Parallelisierung unterstreicht den je eigenen Charakter der Darstellungsmittel, die einander vielleicht weniger rezipieren, als vielmehr miteinander korrelieren. In der beeindruckenden, gelegentlich überbordenden Materialfülle von Holms Buch, das jeden Anspruch machen darf, das Thema von Amor und Psyche in einer entscheidenden Phase von Kunst und Literatur gleichermassen neu zu umreissen, droht das Verschwimmen der Grenzen den um 1800 noch einmal, ein letztes Mal sich rührenden Effort der Gattungen um seine Pointen zu bringen.

Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765 - 1840) (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.]: Deutscher Kunstverlag 2006
ISBN-13: 978-3-422-06554-3, 336 S., 49,90 EUR

Empfohlene Zitation:
Andreas Beyer: [Rezension zu:] Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765 - 1840) (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.] 2006. In: ArtHist.net, 11.12.2007. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/175>.

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