REV 27.11.2007

Felfe/Lozar (Hgg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur

Rezensiert von Barbara Segelken, Frankfurt
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Die frühneuzeitlichen musealen Sammlungen lieferten mit ihrem integrativen Ansatz ein historisches Modell, das Pluralität, Heterogenität und Differenz in sich vereinigte. Gerade die charakteristischen Verfremdungen und Verschlüsselungen auf der formalen und der semantischen Ebene sowie das Prinzip der Vieldeutigkeit gegenüber der Eindeutigkeit haben seit den 1980er Jahren zu einem andauernden Interesse an diesen Sammlungen geführt. Der von Robert Felfe und Angelika Lozar herausgegebene Sammelband „Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur“, der aus einer Tagung hervorgegangen ist, untersucht die Bedeutung des Sammelns als eine wesentliche Erfahrungs- und Handlungsform mit dem Fokus auf deren performativem Charakter. Einleitend verortet Felfe die verschiedenen Zugänge der Forschung zu diesen Sammlungen. Sie sind Schauplätze sozialen Handelns und zugleich Orte, die - jenseits repräsentativer Strukturen - spezifische Wahrnehmungs- und Empfindungsmuster produzierten. Die Perspektive auf das Sammeln an sich und seinen Repräsentationen soll in Beziehung gesetzt werden zu der Frage, inwiefern in literarischen Texten das Sammeln und der museale Raum reflektiert, organisiert und erweitert wurden.

Chronologisch geordnet umfasst der Band elf Beiträge, die einen Bogen von spätmittelalterlichen Bildquellen bis zu Goethes Sammlungskonzeption spannen. Die Beiträge erörtern die Sammlung - ihre Präsentation und Inszenierung - in verschiedenen Kontexten als ein performatives, das heißt situatives und aufführungsähnliches Geschehen. Vor allem die Kunstkammer hatte seit ihrer Entstehung im 16. Jahrhundert eine Reihe spezifischer Ordnungs- und Inszenierungsstrategien entwickelt, die den Gesamtzusammenhang der Teile darstellten und eine Verhältnismäßigkeit des gesammelten Materials aufzeigten. Das einmal Geordnete konnte erneut bearbeitet und organisiert werden, wodurch die Sammlungen neben ihrer memorativen eine erkenntnistheoretische Funktion erhielten.

Der museale Raum, der traditionell als zeitloser Raum verstanden wird, soll als ein sich vollziehender Prozess begreifbar gemacht werden. Versteht man die Sammlungspraktiken als Teil frühneuzeitlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, so haben diese Praktiken konstituierenden Anteil an eben diesen Verhältnissen. Sie bilden sie nicht nur ab oder spiegeln sie wider, sondern produzieren diese unweigerlich mit, das heißt, sie sind Teil der gesellschaftlichen und damit der politischen Verhältnisse. Die ersten vier Beiträge thematisieren die Aspekte des Sammelns im Hinblick auf den Umgang mit Bildern. Christel Meier spannt einen Kontinuitätsbogen von spätmittelalterlichen Bildüberlieferungen - beispielsweise aus Naturkunde- und Stundenbüchern - bis hin zu Stillleben und Darstellungen von Sammlungskabinetten aus dem 17. Jahrhundert. Dem Bildraum weist Meier dabei die Funktion eines Bühnenraums zu. Die frühneuzeitlichen Sammlungsinterieurs - darunter Stilllebenensembles und Bücher - interpretiert sie als „virtuelle Wunderkammern“ (30). Auch wenn die hergestellte Kontinuitätslinie nicht immer überzeugt, anhand des Bildmaterials erarbeitet Meier mit dem Cluster- oder Streubild, dem gerahmten Register und Rahmengitter sowie dem Parallelbild verschiedene Bildtypen und damit verschiedene Darstellungs- und Inszenierungsformen. Carolin Zöhl untersucht mit der Bibliothek Louises von Savoyen (1476-1531) ein Beispiel literarischen Mäzenatentums von Frauen und interpretiert die Schriften als Schauplatz des politischen und sozialen Handelns. Das Besondere an dieser Bibliothek war, dass sie zum großen Teil Schriften enthielt, die eigens für Louise verfasst und mit komplexen Bildprogrammen ausgestattet waren. Zöhl weist nach, dass die Bildprogramme im engen Zusammenhang mit Louises politischen Ambitionen - Zugehörigkeit zum französischen Königshaus und Thronanwartschaft ihres Sohnes Franz - standen. Barbara Welzel thematisiert in ihrem Beitrag die Grenze zwischen „ausstellen“ und „aufführen“. Mit den Stichworten „Verhüllen“ und „Inszenieren“ untersucht sie die Sammlung als Bühne für ein situatives Geschehen. Ausgehend von einer Passage aus Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96) erörtert Welzel das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Handlung, Körper und Sprache als Moment der Bedeutungsproduktion anhand verschiedener Bildwerke. Ähnlich wie Welzel schildert Stephan Brakensiek Aufbau und Funktion der druckgrafischen Sammlung des Abbé Michel de Marolles‘ (1600-1681) im Sinne des Begriffs der Performanz als eine Form der „Äußerung“ (131). Die Aufbewahrung von Grafiksammlungen erfolgte in der Regel in Mappen oder in buchartigen Folianten mit Kleber fixiert. Die Form der Montage ermöglichte das Zusammenstellen von Gruppen sowie die Lenkung des Blicks und der Wahrnehmung. Das Charakteristische an der Sammlung Marolles war die Ordnung nach zu erlernenden Themenkomplexen und die Zusammenstellung nach zusammengehörigen Entitäten (152). Brakensiek zeigt, dass den Grafiksammlungen neben der memorativen, auch eine erkenntnistheoretische Funktion zukam.

Die folgenden fünf Beiträge legen den Fokus auf den Zusammenhang von Sammlung und Gesprächs- beziehungsweise Schreibkultur. Am Beispiel des „Colloquium heptaplomeres“, ein Text der Jean Bodin (1529-1596) zugeschrieben wird, erläutert Angelika Lozar den Zusammenhang von Kunstkammer und Gesprächskultur. Lozar zeigt anhand der Bedeutungsverschränkung der Textebenen, dass sich derartige Zeugnisse nicht als Dokumentationen begreifen lassen, sondern dia- und synchron aufeinander Bezug nahmen. Arno Löffler widmet sich den Schriften Thomas Brownes (1605-1682) im Hinblick auf deren Qualitäten als „literarische Raritätenkabinette“ (177). Mit dem Fokus auf „The Garden of Cyrus“ von 1658 und dem „Musaeum Clausum“, 1684 nach Brownes Tod publiziert, zeichnet Löffler in den Texten ein essayistisches Schreiben nach, das - nicht auf Vollständigkeit bedacht - Fragen, Beobachtungen, Reflexionen und Autorenzitate aneinanderreihte (181). Grundlegendes Motiv des „Garden of Cyrus“ ist die Raute. Sie bildet als Diagramm und geometrische Figur eine symmetrische und variierbare Rasterstruktur; als potentielle Ordnungsstruktur ist sie in allen Bereichen anzutreffen (182). Das essayistische Schreiben und die Rautenstruktur entsprechen einer zentralen Eigenschaft der Kunstkammer: die Ordnungs- und Inszenierungsstrategien stellten den Gesamtzusammenhang der Teile dar und zeigten Verhältnismäßigkeiten des gesammelten Materials auf. Ausgehend von diesen Verhältnismäßigkeiten ergaben sich neue Variationsmöglichkeiten, die neue Beobachtungen und Fragen produzierten. Ähnlich wie Löffler beschäftigt sich Christoph Heyl am Beispiel der Londoner Sammlung Tradescant und dem Katalog von 1656 mit textuellen Beziehungen von Sammlung und Literatur. Heyl schildert, wie die im Katalog verzeichneten und stichwortartig erläuterten Objekte einen Kosmos von Phantasiewelten bereitstellten, die die Vorstellung auf vielfältige Weise stimulierten. Den Wörtern lagen die Ursprünge indigener Sprachen zugrunde; oftmals wurden mehrere Sprachen miteinander gemischt, so dass sich exotische Klanggebilde ergaben (200). Löffler spannt in diesem Zusammenhang den Bogen zu Lewis Carroll und Alan Milne bis zu Joan Rowling. Die im Katalog verzeichnete Sammlung evozierte ein Figuren- und Dingrepertoire auf mehren Vorstellungsebenen, das den Wahrnehmungshorizont des Betrachters nicht nur erweiterte, sondern auch das Abwesende präsent werden ließ (213). Wolfram Nitsch erörtert die enge Verknüpfung von Sammeln und Schreiben am Beispiel von Jean de La Bruyères (1645-1696) „Les caractères ou les mours de ce siècle“ von 1688. Das Spiel mit literarischen Gattungen und Schreibformen zeigt sich hier ebenso wie die Schilderung exzentrischer Sammlercharaktere, die verschiedene soziale Typen darstellen, als ein „Kuriositätenkabinett“ (223, 226). La Bruyères Beschreibung ähnelt dem Charakter nach einem Kabinett, das eine große Nähe zum topografischen wie historischen Mikrokosmos der Kunstkammer aufweist (229). Andreas Gipper argumentiert am Beispiel von Diderots „Encylopédie“, dass dieses Projekt den Gedanken des Museums auf eine neue Grundlage stellte: nicht nur die Höhepunkte einer Kultur, sondern eine komplette Zivilisation sollte in diesem Großprojekt der französischen Aufklärung vorgestellt werden (242-243). Die Entdeckung des Alltags - so Gipper - findet in der „Enzyclopédie“ einen wirkmächtigen Vorläufer, das Arbeitsleben erhält gleichsam museale Dignität (243). Problematisch an Gippers Argumentation ist, dass aus den Ausführungen nicht hervorgeht, was mit „nur die Höhepunkte einer Kultur“ oder einer „kompletten Zivilisation“ gemeint ist. Welches Zivilisation- oder Geschichtsbild wird hier präfiguriert? Abschließend zeigt Matthias Buschmeier im Spannungsfeld von Abstellen und Aufführen, Verbergen und Enthüllen den performativen Charakter von Sammlungen am Beispiel von Goethes Antikensammlung. Buschmeier zeigt, dass erst der Umgang mit den Gemmen, Statuen und Medaillen, ihre Unterbringung und Zurschaustellung sowie ihre Schilderung in Textform den Objekten ihre Bedeutung zuschrieb. In der Sammelungs- und Inszenierungspraxis wird die künstlerische Produktion von Bedeutung als Produktion von Zeitlichkeit sichtbar, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Beziehung zu einander gesetzt werden.

Der Sammelband ermöglicht in seiner Vielfalt eine neue Akzentuierung des Blicks auf die Sammlungsgeschichte. Als fruchtbar erweist sich der Dialog zwischen den Bereichen Sammlung und Literatur. Es entsteht ein facettenreiches Bild der verschiedenen Spielformen und Praktiken, auch wenn das Konzept der Performativität nicht immer ausreichend und überzeugend erörtert wird. Im Wissen um die Kontingenz einer Sammlung beschreiben die Autorinnen und Autoren die Sammlungspraxis und die literarischen Reflektionen als einen offenen, von stetiger Beweglichkeit gekennzeichneten Prozess.

Felfe, Robert; Lozar, Angelika (Hrsg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur. [Beiträge einer Tagung, die am 25. und 26. Februar 2005 in Berlin stattfand], Berlin: Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte 2006
ISBN-10: 3-936872-77-5, 273 S., ca. EUR 30.00

Empfohlene Zitation:
Barbara Segelken: [Rezension zu:] Felfe, Robert; Lozar, Angelika (Hrsg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur. [Beiträge einer Tagung, die am 25. und 26. Februar 2005 in Berlin stattfand], Berlin 2006. In: ArtHist.net, 27.11.2007. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/172>.

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