REV 29.08.2007

Silke Horstkotte (Hg.): Lesen ist wie Sehen

Rezensiert von Noel Reumkens
Redaktion: Rainer Donandt
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"Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text" lautet der Titel des von Karin Leonhards und Silke Horstkotte herausgegebenen Sammelbandes, in dem elf Beiträge über unterschiedliche Manifestationen von intermedialen Wechselbeziehungen zwischen Bild und Text mit einem Nachwort von Peter Wagner dargeboten werden. In den Aufsätzen und in den darin kommentierten Artefakten werden die Wahrnehmungsperformanzen Lesen und Sehen miteinander verknüpft. Im Kontext des von Peter Wagner entwickelten Begriffs des Ikonotextes wird analysiert, auf welche Art und Weise die Dichotomie von Bild und Text in den besprochenen künstlerischen Arbeiten, die aus verschiedenen Bereichen und Disziplinen stammen, aufgehoben wird. Es handelt sich dabei sowohl um Arbeiten, die der Definition des Wagner'schen Begriffs im engeren Sinne ("an artifact in which the verbal and the visual signs mingle to produce rhetoric that depends on the copresence of words and images"), wie auch um solche, die ihr im weiteren Sinne ("the use of [by way of reference or allusion, in an explicit or implicit way] an image in a text or vice versa") entsprechen.

Den wichtigsten Fokus des Bandes sollten - der Ankündigung im Untertitel des Bandes entsprechend - Mediengrenzen überschreitende Zitate bilden. In der Praxis sind diese jedoch keineswegs in allen Aufsätzen tatsächlich der Hauptgegenstand des Interesses - es sei denn, dass eine sehr weite Fassung des Zitatbegriffs gehandhabt würde. So stellt sich die Frage, inwieweit bei der von Birgit Mersmann thematisierten japanischen Kalligraphie tatsächlich von Zitaten als solchen die Rede sein kann. Analoges gilt auch für die von Sabine Müller besprochene Warhol'sche Porträtserie "Alexander the Great", auf die später noch zurückzukommen ist.

Die meisten in dem Sammelband veröffentlichten Beiträge beleuchten medial hybride Kunstwerke, so zum Beispiel die japanische Kalligraphie aus der Sicht Roland Barthes' (Birgit Mersmann), mittelalterliche Initialbuchstaben (Bernd Mohnhaupt) und den Band "Schwindel. Gefühle" von W.G. Sebald (Michael Niehaus). Auch wenn manche der in diesen Aufsätzen behandelten Werke medial nicht eindeutig zu klassifizieren sind, geht es meist um konventionell der Literatur zuzuordnende Werke. Die Artikel von Christoph Zuschlag, Sabine Müller, Tobias Vogt und Julia Gelshorn jedoch befassen sich aus intermedialer, ikonotextueller Perspektive mit visuellkünstlerischen Werken und Themen.

Christoph Zuschlags Aufsatz "Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität" ist der einzige Aufsatz dieses Bandes, der nicht ein konkretes Werk oder eine konkrete Gruppe von Werken als Ikonotext beleuchtet. Er schlägt vielmehr eine intermediale Impfung der Kunstwissenschaft durch die Literaturwissenschaft vor, indem er darüber referiert, ob und wie die theoretischen Errungenschaften der literaturwissenschaftlichen Intertextualität für die Kunstwissenschaft in Form der "Interikonizität" fruchtbar gemacht werden könnten. Zuschlag stellt somit einen intermedialen Bezug im Bereich der Heuristik her, indem er untersucht, ob es möglich wäre, potenzielle Herangehensweisen an intramediale (Bild-Bild-)Zitate in Anlehnung an die Methoden der herkömmlichen Intertextualitätstheorie zu entwickeln.

Tobias Vogts Aufsatz bildet in diesem Band eine interessante Ausnahme. Vogt beschäftigt sich auf vielschichtige Art und Weise mit dem den Rahmen eines Gemäldes überschreitenden intermedialen Bezug zwischen Medium (dem visuellkünstlerischen Gebilde) und Paramedium (dem Titel des Werkes). Darüber hinaus hebt er die eher als intertextuell zu bezeichnenden Bezüge des Titels "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue" von Barnett Newman zu anderen "Texten" hervor. Die Brisanz der Titel im visuell-künstlerischen Bereich und der von ihnen ausgehenden intermedialen Bezugnahmen wird von Vogt in seinem Aufsatz anhand sehr aufschlussreicher Beispiele demonstriert.
Außerdem wird von Vogt das Aemulatio-Konzept als mögliches Theoriemodell für die Analyse interikonischer Bezüge in der Gegenwartskunst angeführt. Christoph Zuschlag zieht die Nützlichkeit des AemulatioKonzeptes für die Interikonizität in seinem Aufsatz in Zweifel. Gemäß Zuschlag sind in der Moderne weder ein klassischer Kanon noch etwaige Stil- und Gattungsmuster vorhanden. Vogt zeigt in seinem Betrag jedoch klar, dass und wie die von ihm besprochenen Künstler in ihren Kreationen wie auch in deren Titeln aufeinander und auf andere Künstler der Moderne Bezug nehmen.

Stephan Ditzens fokussiert in seinem Beitrag auf diachronische - mehrere Jahrhunderte einbeziehende - Weise die interpikturale, intertextuelle und nicht zuletzt auch intermediale Wirkung von Darstellungen und Beschreibungen von mit einem Mikroskop wahrgenommenen Lebewesen. Intermedialität wird hier als historischer Prozess dargestellt, der sich "zwischen" Kunstwerken verschiedener medialer Prägung abspielt. So vermag Ditzen den dynamischen Prozesscharakter intermedialer Verknüpfungen aufzuzeigen.

Lediglich der letzte Aufsatz des Bandes - der Beitrag von Susanne Stemmler - befasst sich mit einem monomedialen literarischen Text ("Las babas del diablo" von Julio Cortázar), der das fremdmediale System, auf das er sich bezieht - die Fotografie - nur mit den eigenen Mitteln, d.h. in der Schriftsprache, wachruft. Es geht hier um einen Fall expliziter Systemreferenz, die sowohl auf der Discours- als auch auf der Histoire-Ebene die Wirkung des Textes nachdrücklich prägt. In Stemmlers Aufsatz wird nicht so sehr die Beziehung zwischen Lesen und Sehen, sondern viel mehr jene zwischen Erzählen und (fotografischem) Sehen in den Vordergrund gerückt. Nicht umsonst lautet der Untertitel des Aufsatzes "Fotografisches Erzählen in Julio Cortázars ‚Las babas del diablo'". Obwohl der Cortázarschen Erzählung und somit auch dem Aufsatz Susanne Stemmlers eine intermediale Prägung keineswegs abgesprochen werden kann, deckt der Titel des Sammelbandes, in dem der Aufsatz erscheint, nur bedingt den Inhalt dieses Aufsatzes.

Als visuelles Pendant zur Cortázar'schen Erzählung könnte in "Lesen ist wie Sehen" die in Sabine Müllers Beitrag besprochene Porträtserie "Alexander the Great" von Andy Warhol betrachtet werden. Müller hebt in ihrem Aufsatz vor allem die Transposition des Zitat oder des Legomenon-Begriffs vom textuellen, literarischen in den visuell-künstlerischen Bereich ans Licht. Wie bei Susanne Stemmler liegt der Schwerpunkt jedoch auch bei Sabine Müller auf einem monomedialen künstlerischen Produkt, wobei von einer Medienkombination ebenfalls nicht die Rede ist. Was in ihrem Aufsatz eruiert wird, ist die Fruchtbarkeit des Zitatbegriffs für den kunsthistorischen Diskurs. "Sehen" - oder vielmehr das Betrachten der Warhol'schen Porträtserie - ist wie "Lesen". Dabei wird vor allem den in die Siebdrucke inkorporierten herkömmlichen "Codes der Alexanderikonographie" als "Kopräsenz visueller und verbaler Diskurse" eine wichtige Rolle zuerkannt.
Unter den in dem Sammelband besprochenen Arbeiten und Themen tanzt die Porträtserie "Alexander the Great" von Andy Warhol etwas aus der Reihe. Der Text, der gemäß Müller in der Ikonographie verankert liegt, ist nämlich schwerlich genau zu identifizieren (während die Bildvorlage bekannt und klar zu erkennen ist). Beim textuellen Teil dieses Ikonotextes handelt es sich um die mutmaßlich von Alexander dem Großen vertretene Ideologie, weswegen Müller Christian Boltanski zitiert, nach dessen Ansicht "Form (...) immer mit Ideologie zu tun (hat)." Die Wagner'sche "allusion" und der "implicit way" werden hier an ihre Grenzen geführt; die Porträtserie Warhols ist denn auch nur bei einer äußerst weiten Fassung des Ikonotextbegriffs als Ikonotext einzuordnen. Es stellt sich die Frage, ob sich der Begriff bei einer derartigen Verwendung nicht in Willkür verliert.

Peter Wagners Nachwort bildet den Schluss des vorliegenden Bandes. Wagner rekapituliert die Entwicklung des Ikonotextbegriffs und kommentiert bzw. kritisiert anschließend einige der im Band eingeführten neuen Begriffe. Er übt dabei vor allem Kritik an dem vom Birgit Mersmann in ihrem Referat in Anlehnung an seinen Ikonotextbegriff neugeprägten Terminus der Ikonoskriptur, indem er die (von Barthes postulierte und von Mersmann übernommene) Einzigartigkeit der ostasiatischen Kalligraphie in Frage stellt. Er beruft sich dabei u.a. auf die von Bernd Mohnhaupt im vorliegenden Band angeführten ikonotextuellen Beispiele mittelalterlicher Buchmalerei.
Ein zweiter Punkt seiner Kritik gilt Christoph Zuschlags Versuch der Entwicklung einer Theorie der Interikonizität. Gemäß Wagner ist die Interikonizität - also die Theorie, die erforderlich ist, "um ganz allgemein den Bezug von Bildern auf andere Bilder zu umschreiben" - ohne Sprache und Anspielungen auf Texte undenkbar. Wagner betont die große Bedeutung der Intertextualität, deren Theorie nicht zufällig bei der Entstehung der Intermedialität und der hier vorgeschlagenen Interikonizität Pate gestanden hat. Für Wagner ist somit die Sprache nach wie vor das "Medium primum inter pares." Die Relevanz der Sprache ist eines der zentralen Diskussionsthemen der In-termedialitätsforschung der letzten beiden Jahrzehnte.

Von großem Interesse ist schließlich auch Wagners Feststellung, dass die Rolle der "sinnstiftenden Instanz des Betrachters/Lesers" bis heute unzureichend von der Forschung berücksichtigt worden sei. Silke Horstkotte weist in ihrem Aufsatz auf die große Bedeutung des Rezipienten im intermedialen Rahmen hin. Gemäß Wagner sollten die Fakten, die die Sinnproduktion des Rezipienten ("race, class and gender") in hohem Maße prägen, künftig mehr beleuchtet werden. Rezeptionsästhetische und soziologische Ansätze könnten der Intermedialitätsforschung tatsächlich helfen, ihren schon jetzt weiten Blickwinkel zu vergrößern und die Intermedialität noch mehr, als dies bisher der Fall war, zu einer fruchtbaren Theorie für die Analyse von Kreationen aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Kunstschaffens machen.

Die Gesamtheit der in "Lesen ist wie Sehen" veröffentlichten Aufsätze lässt die heutige relative Offenheit und damit Vieldeutigkeit des Intermedialitätskonzepts und somit auch des Wagner'schen Ikonotext-Begriffs erkennen. Es wird im Sammelband eine Skala von intermedialen Phänomenen besprochen, die zwischen dem textuell-literarischen und dem visuell-bildkünstlerischen Bereich zu verorten sind. Auch wenn einige Aufsätze den an der Basis dieses Sammelbandes liegenden Ikonotext-Begriffs Wagners zeitweilig aus dem Auge zu verlieren scheinen, zeugt die Vielseitigkeit dieses Bandes von der Fruchtbarkeit der Intermedialitätstheorie für die Analyse unterschiedlichster künstlerischer Werke. Darüber hinaus bietet der Band Ausblicke auf verschiedene Facetten, die in Zukunft im Rahmen der Intermedialitätsforschung näher betrachtet werden können. Somit ist "Lesen ist wie Sehen" nicht nur aufgrund der dargebotenen einzelnen intermedialen Fallstudien, sondern auch für die Theoriebildung der Intermedialität im Allgemeinen von großem Interesse.

Horstkotte, Silke (Hrsg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text ; [Tagung "Ikonotexte" (Leipzig November 2004)], Köln [u.a.]: Böhlau Verlag 2006
ISBN-13: 978-3-412-24205-3, VI, 230 S, ca. EUR 34.90

Empfohlene Zitation:
Noel Reumkens: [Rezension zu:] Horstkotte, Silke (Hrsg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text ; [Tagung "Ikonotexte" (Leipzig November 2004)], Köln [u.a.] 2006. In: ArtHist.net, 29.08.2007. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/170>.

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