Als Ulrich Reinisch seine theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von ordnungspolitischen und ästhetischen Konzepten im Stadtbau, so der Titel grundlegender Einsichten aus den 1980er Jahren, mit einer fundierten Fallstudie zum Wiederaufbau der Stadt Neuruppin nach dem desaströsen Brand von 1787 minutiös aufarbeitete und durchspielte, ließ sich anschaulich nachvollziehen, wie systematisch die preußische Bürokratie mit dem Retablissement ein Musterprojekt der gemäßigten Aufklärung intendierte.[1] Die Kritik zeigte sich beeindruckt und kulminierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einem „fabelhaft“.[2] Fabelhaft war hier aber nicht nur die spannungsreiche Narratio, sondern auch und gerade die Pointe, die allgemeingültige Einsicht nämlich, wodurch die Handlung erst zur Fabel wird (fabula docet): Reinischs Neuansätze ließen jedenfalls erkennen, welche innovativen Momente der preußischen Bauverwaltung im 18. und frühen 19. Jahrhundert inhärent sind, auch wenn mitunter reflexartig eingewandt wird, dass solcher Art Ergebnisse erst nach etwaigen Vergleichen mit entsprechenden Entwicklungen andernorts Bestand haben könnten. So lohnend dies zusätzlich auch sein mag, es bleibt aber zu bedenken, was Karl Schlögel in anderem, aber verwandten Zusammenhang konstatierte: Geschichte lässt sich nicht von vornherein mit Vergleichen erklären, bei fehlender Aufarbeitung gilt es vielmehr, zunächst die vergangenen Entwicklungsprozesse im Einzelnen zu rekonstruieren und, wo nötig, vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dies trifft nicht zuletzt auf Preußen zu, soll die neuerliche Beschäftigung mit dessen Geschichte mehr sein als bloß ein „Echoraum für alte Thesen“ (Gerd Krumeich).
In welchem Maße dies gerade auch architekturgeschichtlich aufschlussreich sein kann, belegt einmal mehr der von Ulrich Reinisch sowie Christof Baier und André Bischoff sowie deren polnischen Mitstreitern Joanna Drejer und Tadeusz J. Żuchowski herausgegebene Sammelband „Retablissement. Preußische Stadtbaukunst in Polen und Deutschland“. Mit der Entwicklung des anfänglichen Konglomerats höchst unterschiedlicher Einzelterritorien vom Niederrhein bis nach Ostpreußen zu einem machtvollen Einheitsstaat ging ein Stadterneuerungsprozess einher, der im 18. Jahrhundert zielgerichtet und den Gesamtstaat umfassend als Retablissement vorangetrieben wurde. Retablissement intendierte dabei vor Ort nicht lediglich die Wiederherstellung zuvor durch Katastrophen oder auch Vernachlässigung zerstörter Stadtgefüge, sondern zugleich eine wesentliche Verbesserung der architektonischen und infrastrukturellen Interdependenzen (von der Feuersicherheit bis hin zur Gewerberegulierung, von der Hygiene bis hin zu wohlgeordneten Straßen- und Platzräumen). Den bislang so nicht gekannten Herausforderungen entsprach ein administrativer Neuaufbau, bei dem nicht zuletzt der Einrichtung einer effektiven Bauverwaltung eine strategische Funktion zukam, zumal angesichts der Unübersichtlichkeit der in den einzelnen Landesteilen noch stark voneinander abweichenden Bautraditionen und Baupraktiken. Welche stadtplanerischen Methoden und städtebaulichen Innovationen sich gerade diesem Erneuerungsprozess verdanken, lassen die Beiträge im einzelnen anschaulich nachvollziehen.
In einem grundlegenden Teil zeigt André Bischoff („Einerte Verhältnisse“. Regularität, Symmetrie und die Einflüsse niederländischer Planungsstrategien in Preußen) zunächst allgemeine mathematisch-geometrische sowie architekturhistorische Vorstellungen auf, die sich seit dem 17. Jahrhundert in Westeuropa herausbildeten und über die Niederlande, denen Brandenburg dynastisch und religiös eng verbunden war, in Preußen rezipiert wurden; hier sollten sie nicht zuletzt als „Regularität“ die entscheidende Gestaltungsregel des Städteretablissements definieren. Dessen Entwicklung in der Kurmark fasst dann Christof Baier („die Strassen und Gassen jeder Stadt nach und nach zu reguliren“. Das Städteretablissement in der „Churmark Brandenburg“ der preußischen Zentralprovinz) exemplarisch zusammen, wobei sich eine zeitliche Differenzierung von einem modellhaften, über das klassische bis hin zum reformierten Retablissement beobachten lässt.
Die Fallstudien im 2. und 3. Teil konzentrieren sich auf Normalfälle und Wechselwirkungen in einzelnen Landesteilen. Für die Grafschaft Mark stellt Thomas Spohn (Das preußische Westfalen. Städtebaumaßnahmen zwischen 1720 und 1850 in der Grafschaft Mark bzw. im Regierungsbezirk Arnsberg) heraus, dass sich vor Ort die Diskrepanz zwischen idealen städtischen Planmustern und der topographischen wie gesellschaftlichen Wirklichkeit eher als unüberbrückbar erwies, die zudem durch („bisweilen bis heute“) spürbare Unterschiede zwischen den Alteingesessenen und der preußischen Beamtenschaft verstärkt wurde. Elke Onnen (Pasewalk – Ein Retablissement des 18. Jahrhunderts) veranschaulicht die ersten administrativen Erfahrungen und Folgerungen in dem nach 1720 an Preußen gefallenen Teil (Schwedisch-)Pommerns. Am Beispiel insbesondere von Liegnitz resümiert Rafał Eysymontt (Preußisches Retablissement in Schlesien) die Entwicklung in Schlesien. Die Wirksamkeit der Retablissement-Aktivitäten und ihrer Standards mit Blick auf militärisch geprägte Stadträume akzentuiert Grzegorz Podruczny (Die Beziehungen zwischen Städtebaukunst und Militärarchitektur in Preußen im 18. Jahrhundert). Handhabung und Anwendung der inzwischen ausgereiften stadtplanerischen Instrumentarien nach der 2. und 3. Teilung Polens veranschaulichen Joanna Drejer (Preußische Stadtbaukunst in Płock – historische Bedeutung und aktuelle Gefährdung) und Tadeusz J. Żuchowski (Der Einfluss der preußischen Stadtbaukunst auf die städtebauliche Entwicklung Poznańs). In den neu erworbenen Gebieten kam es geradezu schwerpunktmäßig zu Stadterneuerungen und mitunter, wie in Płock, zu einer erheblichen Stadterweiterung.
Ein abschließender Teil thematisiert in Beiträgen von Ewa Janiszewska (Der Einfluss der Rationalisierungstendenzen der preußischen Architektur auf das Bauwesen der evangelischen Kirchen in den Jahren von 1820–1830 im Regierungsbezirk Posen) und Aleksandra Paradowska (Die Archivalien zu den Retablissementsaktivitäten in großpolnischen Kleinstädten) die Folgewirkungen des Retablissements im 19. Jahrhundert.
So unterschiedlich die Einzelbeiträge mitunter angelegt sind, in ihrer Gesamtheit lassen sie die mit dem Retablissement einhergehende Problematik und Innovation in ihrer Vielfalt ermessen, und dort, wo deren Umsetzung auf zunächst eher unüberbrückbare Hemmnisse stieß, stellt sich darüber hinaus die Frage, wie die involvierte Bauverwaltung hierauf reagierte. Die aufgezeigten Perspektiven wie die erhaltenen Überlieferungen, deren Fülle nicht zuletzt dank der polnischen Beiträge greifbar wird, regen zu weiteren vielversprechenden Recherchen an; von daher ist es umso verdienstvoller , dass alle Beiträge zugleich auch polnisch bzw. deutsch übersetzt sind. Auf der Grundlage der bisherigen Bestandsaufnahme könnte dann aber auch zunehmend die Frage nach den ästhetischen Implikationen mit in den Blick genommen werden. Gerade wenn fast über den gesamten Zeitraum ästhetische Innovationen „nicht im Fokus der Akteure“ standen, stellt sich umso mehr die Frage, inwieweit das Retablissement nicht zugleich die Voraussetzung dafür schuf, sich überhaupt von tradierten ästhetischen Vorstellungen emanzipieren zu können und für künftige Anschauungen den Blick freizumachen.
Anmerkungen
[1] Ulrich Reinisch: Der Wiederaufbau der Stadt Neuruppin nach dem großen Brand von 1787 oder: wie die preußische Bürokratie eine Stadt baute, nach den Akten rekonstruiert und erläutert, Worms 2001.
[2] https://www.gbv.de/dms/faz-rez/FD1200201051034401.pdf
Baier, Christof; Bischoff, André; Drejer, Joanna; Reinisch, Ulrich; Żuchowski, Tadeusz J. (Hrsg.): Retablissement. Preußische Stadtbaukunst in Polen und Deutschland : Urbanistyka pruska w Polsce i w Niemczech, Berlin: Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte 2016
ISBN-13: 978-3-86732-249-2, 396 Seiten, EUR 40.00, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Reinhart Strecke: [Rezension zu:] Baier, Christof; Bischoff, André; Drejer, Joanna; Reinisch, Ulrich; Żuchowski, Tadeusz J. (Hrsg.): Retablissement. Preußische Stadtbaukunst in Polen und Deutschland : Urbanistyka pruska w Polsce i w Niemczech, Berlin 2016. In: ArtHist.net, 06.07.2017. Letzter Zugriff 02.12.2024. <https://arthist.net/reviews/15917>.
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