REV 24.04.2007

Christoph Otterbeck: Europa verlassen

Rezensiert von Sigrid Gaisreiter
Redaktion: Claudia Sedlarz

Die Dissertation von Christoph Otterbeck beschäftigt sich mit Künstlerreisen am Beginn der Moderne. Sie gingen in den Orient, nach Fernost (Japan / Indien) in die Südsee und nach Mexiko. Die Fernreisenden waren jedoch nicht die ersten Künstler auf großer Fahrt, viele vor ihnen, etwa Gustave Flaubert 1850, wollten sich vor Ort selbst ein Bild der fremden Kulturen machen, die, seit der Frühen Neuzeit, in europäischen Sammlungen ausgestellt wurden und regelrechte Moden von Japonismus, Orientalismus und "Primitivismus" ausgelöst hatten. Otterbeck interessiert sich für die Geschichte von dreizehn Fernreisen, die bereits gut dokumentiert sind, und in die Hochphase von Imperialismus und Kolonialismus fallen. Der Zusammenhang von Politik, Kultur und Kunst ist das Thema von Otterbeck. Drei Bedingungen mußten daher die Reisenden erfüllen. Sie mußten zur breiten Strömung der modernen Kunst gehören, sich am deutschen Kunstbetrieb beteiligt haben und in den Jahren 1910 bis 1914 unterwegs sein, als Deutschland noch Kolonialmacht war. Ausgewählt wurden Reisen in den Nahen Osten (Ägypten: Emil Orlik, Max Slevogt, Eugen Kahler; Tunesien: Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Paul Klee, August Macke, Louis Moilliet; Algerien: René Beeh), in die Südsee (Neuguinea: Emil Nolde; Palau: Max Pechstein). Behandelt wird auch Karl Hofer, den es nach Indien zog, Emil Orlik, der nach Japan reiste und Ottilie Reylaender, die Mexiko besuchte.

In der Einleitung skizziert Otterbeck Vorhaben, Fragestellung und Vorgehen. Da er sich mit den Interdependenzen von Kunst und Politik beschäftigt, ist seine Fragestellung vielschichtig. Zwei Felder wurden leitend: welches Bild des "Fremden" wird in den Medien und von den Künstlern entworfen und wie haben sich die Reiseeindrücke der Künstler in ihrer Kunst niedergeschlagen. Die Struktur, Politisches und Künstlerisches aufeinander zu beziehen, wird in den folgenden Kapiteln durchgehalten. Auf die Einleitung folgt eine Darstellung der Geschichte der Künstlerreisen allgemein, die Darstellung "exotischer" Welten, die Welt des Kolonialismus in den Medien Deutschlands, schließlich Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieses Raster wird nun spezifiziert und auf die Darstellung der hier zur Rede stehenden Künstlerreisen angewendet. Dieser Teil umfaßt etwa knapp die Hälfte der Studie und mündet dann in einen Ergebnisteil, ein Gesamtfazit und wissenschaftlichen Apparat, allerdings ohne Index.

Unabhängig von Otterbecks Strukturierung zerfällt die Studie qualitativ in zwei Teile. In den kunsthistorischen Teilen führt Otterbeck sozusagen ein Heimspiel und bewegt sich sicher in Beschreibung und Analyse. In den sozial- und kulturwissenschaftlichen Teilen indes fehlt es teilweise am Gebrauch eines fachspezifischen Instrumentariums und die empirische Ausrichtung der Studie führt zu langen Passagen, in denen sich Otterbeck an die eine Problematik herantastet, die bereits andernorts theoretisch erarbeitet wurde. Dass Otterbeck einen wertneutralen Exotismusbegriff verwendet, kann heute nicht mehr als besondere theoretische Leistung gewürdigt werden, "Exotismus" umfaßt die für Otterbecks Arbeit relevanten Formen von außereuropäischer Kultur und Kunst im Primitivismus, Japonismus und Orientalismus. Die Studie steht und fällt mit der Anlage des Kategorienpaares Fremdes und Eigenes. Auch hier wählt Otterbeck den Weg über Rekapitulierung alter Debatten, etwa die von Edward W. Said mit seinem 1978 erschienenen Buch "Orientalism" angestoßene. Inzwischen ist man in der Kulturforschung weiter und so hätte ein Satz genügt, um die Problematik zu verdeutlichen. Jeder Blick auf das Fremde stellt sich interrelational her, Fremdes und Eigenes konstituieren und charakterisieren sich wechselseitig. Dass dabei von öffentlich wirksamen Deutungsmedien der Kolonisierenden eine Klassifikation verwendet wurde, zeigt Otterbeck empirisch. Dass diese Klassifikation, die mit nominaler Struktur operiert, - also nach ausschließlichen Kategorien sortiert und deshalb zum Typ kategorialer Unterscheidungen gerechnet wird - , gehört längst zum Kernbestand kultur- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Otterbeck verzichtet aber darauf, mit diesem Instrumentarium zu arbeiten und das ist für manche Länge in seiner Studie verantwortlich. So zeigt Otterbeck, wie in den Medien die Kolonisierten meist negativ bewertet wurden, Epitheta wie "primitiv, wild, gefährlich" wurden häufig verwendet. Sie erfüllen die Kriterien nominaler Struktur. Im Kontrast dazu wird in den Medien Europäisches als "überlegen" angesehen. Doch "überlegen" drückt nur einen graduellen Unterschied aus, was Otterbeck nicht diskutiert.

In einem zweiten Schritt bezieht sich Otterbeck auf Äußerungen der Künstler, die der heimischen Gesellschaft kulturkritisch gegenüberstanden und sich in die Ferne, in "ursprüngliche" mit Natur assoziierten Welten imaginierten. Bei ihnen wird aus dem "gefährlichen" ein "edler Wilder". Doch findet sich in solchen Texten auch manch offen oder verdeckt 'rassistische' Stelle, so Otterbeck im Ergebnisteil. Dies ist die Pointe von Otterbecks Fazit: zwar wurden im Künstlerdiskurs die Bewertungen des Fremden vom Negativen ins Positive ausgetauscht, die Beurteilungslogik aber beibehalten. Wenn es in "kolonialistischen" Diskursen um die "Zivilisierung der Wilden" ging, so brachten auch die Künstler die empirische Vielfalt auf einen Nenner, auf eine pittoreske Differenz. Diese sei aufgeladen mit "positiven Bildern der Einfachheit und Natürlichkeit" (S. 353) und deshalb kritisch zu betrachten. So sei weder die Grausamkeit des Verhaltens der Kolonialmächte noch das reale Leben in den fernen Ländern thematisiert worden. Ausnahmen bilden Orlik und Reylaender. Damit ist Otterbecks Maßstab der Beurteilungen der Äußerungen klar, er vermißt eine "Kritik am Kolonialismus" (S. 342) und eine realistische Darstellung ferner Welten. Die Bilder exotischer Welten beurteilt er auch hinsichtlich der Wirkung im heimischen gesellschaftlichen Kontext kritisch. So liefern sie keinen Beitrag zum interkulturellen Dialog, ja übernehmen als "angenehme Bilder " eine "kompensatorische Funktion" (S. 335).

Kunsthistorisch bringt die Studie einige interessante Ergebnisse zum Stilistischen und Motivischen der Bilder der Reisenden. Die Anlässe für die Fernreisen waren sehr unterschiedlich, nicht immer suchten die Künstler das ästhetisch Neue. Eugen Kahler reiste aus gesundheitlichen Gründen, das Künstlerpaar Münter/Kandinsky wollte ungestört die Zweisamkeit genießen, Orlik interessierte die japanische Ästhetik, umgekehrt versprach sich Hofer von der indischen Kunst "keine Anregungen für sein Schaffen." (S. 190) Den künstlerischen Ertrag der Reisen schätzt Otterbeck selbst bei den Künstlern, die das Neue in der Ferne bewußt gesucht hatten, eher gering ein und konstatiert, dass eher die Suche nach neuen Sujets erfolgreich war, als dass formale Neuerungen sich in der Kunst der Fernreisenden niederschlugen. Daher auch sein Fazit, dass von einer "Beflügelung des Avantgardismus" (S. 359) nicht gesprochen werden könne. Diese Ansicht scheint aber nach wie vor in der Kunstgeschichte vorhanden zu sein. So schreiben jüngst die Autorinnen Katja Lembke, Inés de Castro und Gabriele Winkler in einem Beitrag: Die 'primitiven' Werke entwickelten fern der Heimat eine Magie, die unmittelbar zur Entwicklung der zeitgenössischen Kunst beitrug." [1] Otterbeck läßt nur gelten, dass die reisenden Künstler zu einer Anerkennung "fremder Formsprachen" beitrugen (S. 344). Die entscheidende Differenz von europäischer und außereuropäischer Formensprache sieht er am Beispiel der japanischen Ästhetik darin, dass die europäische Praxis der "illusionistischen Abbildungsästhetik" auf eine traf, die mit extrem gewählten Bildwinkeln, Verschachtelungen von Bildelementen, asymmetrische Kompositionen, Überlagerungen und Durchkreuzungen des Blickfelds arbeitete (S. 78).

Zu vielen Punkten der Studie ist Einspruch möglich, ja nötig. So ist es eben keinesfalls ausgemacht, dass Bilder von 'paradiesischen Zuständen' automatisch in Deutschland kompensatorisch, "Frustrationen in der verwalteten Welt bürgerlicher Zivilgesellschaft" abfedernd (S. 335) wirkten. Ebenfalls zu diskutieren wäre Otterbecks Ansicht, es gäbe "nie völlig oppositional(e)" Alterität, sondern stets nur "reale relative" (S. 358). Letztlich wird die Arbeit zu sehr von Otterbecks Vorstellungen eines idealen interkulturellen Dialogs dominiert und wirkt dabei oft moralisierend und normativierend. So fordert Otterbeck vom Künstler eine kritische Kunst, angestrebt werden soll ein "ethischer Konsens" und "echtes Teilen" (S. 358).

[1] Katja Lembke, Inés de Castro, Gabriele Winkler: Jenseits von Ägypten, in: arsprototo - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder. Heft 1/2007, S. 11.

Otterbeck, Christoph: Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts (= Studien zur Kunst), Köln [u.a.]: Böhlau Verlag 2007
ISBN-10: 3-412-00206-2, 480 S.

Empfohlene Zitation:
Sigrid Gaisreiter: [Rezension zu:] Otterbeck, Christoph: Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts (= Studien zur Kunst), Köln [u.a.] 2007. In: ArtHist.net, 24.04.2007. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/156>.

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