REV-CONF 15.05.2017

Malkunst im 19. Jahrhundert – Die Sammlung der Nationalgalerie

Berlin, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, 30.03.2017

Bericht von Lisa Sophie Hackmann, Berlin
Redaktion: Hans Georg Hiller von Gaertringen

Kolloquium anlässlich der Veröffentlichung des Bestandskatalogs der Gemälde des 19. Jahrhunderts

Nachdem 2011 im Rahmen einer Tagung verschiedenen Facetten der Gründung der Berliner Nationalgalerie durch die umfangreiche Schenkung des Berliner Bankiers Joachim Heinrich Wagener beleuchtet worden waren [1], stand die Geschichte der Sammlung nun erneut im Fokus des eintägigen Kolloquiums [2].

Den konkreten Anlass der Veranstaltung bot einerseits die von langer Hand geplante Veröffentlichung des fast 1.000 Seiten starken zweibändigen Bestandskatalogs der Gemälde des 19. Jahrhunderts, der ca. 1.800 Werke umfasst [3], andererseits die digitale Veröffentlichung derselben in der Online-Datenbank der SMB [4].

Thematisch kreisten die Vorträge der Referenten, in der überwiegenden Zahl Mitarbeiter der SMB, um die Sammlung der Nationalgalerie im Spiegel der wechselvollen deutschen Geschichte (Belting, von Specht), den Sammlungsaufbau unter bestimmten politischen, gesellschaftlichen und künstlerisch-ästhetischen Vorzeichen (Pfäfflin, Keisch, Freyberger, Wesenberg), um deren Repräsentation und Dokumentation in unterschiedlichen Formen von Gemäldeverzeichnissen (Verwiebe) und ihr Publikum (Obenaus), berührten aber auch Kernbereiche der Museumsarbeit im 21. Jahrhundert (Lupfer, Winter, Dietrich).

Den Auftakt zu der von Andrea Meyer souverän moderierten Konferenz gab Hans Belting mit dem Hinweis auf die berühmte Inschrift am Giebel des Museums, welche die Sammlung unzweideutig in den Dienst nationaler Repräsentation stellte. Aus der Sicht Beltings eine Bürde, mit der das Museum immer zu kämpfen hatte. In seinem Vortrag diskutierte er die besondere Rolle der Nationalgalerie zwischen patriotischem Kunsttempel und modernen Museum von ihrer Gründung über die deutsche Teilung bis in die Gegenwart.

Auch Agnete von Specht problematisierte in ihrem Beitrag die durch die Inschrift suggerierte Repräsentation der (gesamt-)deutschen Kunst in der Nationalgalerie. So beanspruchte Preußen mit der Krönung des preußischen Königs zum deutschen Kaiser nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im Bereich der Kunst eine Vormachtstellung für sich. Dies zeigte sich in den Jahren nach der Eröffnung in den Ankäufen und in der Präsentation von Werken, die nicht etwa eine Reichsthematik aufwiesen, sondern vielmehr die Dynastie der Hohenzollern verherrlichten.

Birgit Verwiebe stellte mit Bestandskatalogen, Galeriekatalogen und Sammlungsführern unterschiedliche Formate von Gemäldeverzeichnissen der Nationalgalerie vor, deren Ausdifferenzierung, wie im Fall der Sammlungsführer, auch das Ergebnis einer wachsenden Publikumsorientierung war. Die vergleichende Untersuchung der Bestandskataloge verdeutlichte zudem den Wandel von Form und Inhalt der Informationen, die dem Leser unter bestimmten wissenschaftlichen, technischen, aber auch ästhetischen Bedingungen bereitgestellt wurden.

Während Birgit Verwiebe sich aus historischer Perspektive den unterschiedlichen Typen der Gemäldeverzeichnisse näherte, stellte Gibert Lupfer systematisch die aktuellen Möglichkeiten des Publizierens von analog bis digital und deren Relevanz für die Museen vor. Er sprach sich für einen aufgeschlossenen Umgang mit digitalen Möglichkeiten und ihre sinnvolle Ergänzung mit traditionellen Publikationsmedien aus. Hinsichtlich der Entwicklung und Betreuung neuer Publikationsformen gab er zu bedenken, dass deren Finanzierung gesichert sein müsse und urheberrechtliche Fragen einer (politischen) Klärung bedürfen.

Der Sammlung der Zeichnungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ihrem gattungsspezifisch hybriden Zustand zwischen eigenständigem Kunstwerk und Entwurf und ihren wechselnden Aufbewahrungsorten und Präsentationsformen, widmete sich Anna Pfäfflin. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Zeichnungen ein eigenständiger, durch Ankäufe wachsender Sammlungsbereich der Nationalgalerie mit eigenem Kabinett. Unter Ludwig Justi wurden die Zeichnungen Teil des Gemäldeparcours, bevor er 1920 eine eigene Abteilung der Zeichnungen im Kronprinzenpalais installierte, der einen Studiensaal und eine didaktische Schausammlung vorsah. Nach dem Zweiten Weltkrieg stark dezimiert, wurde die Sammlung schließlich 1986 dem Kupferstichkabinett angegliedert.

Wie sehr das Profil der Sammlung der Nationalgalerie nicht nur durch die Schenkung der Sammlung Wageners, sondern auch durch die persönlichen Vorlieben anderer Privatpersonen geprägt wurde, verdeutlichte Claude Keisch am Beispiel des wohlhabenden Bankiers und Kunstsammlers Felix Koenigs. Hugo von Tschudi hatte sich für die aus seiner Sicht bedeutende Stiftung von 21 Werken stark gemacht (darunter Werke Klingers und Segantinis), welche 1901 als Geschenk der Erben Koenigs Teil der Nationalgalerie wurde.

Regina Freyberger stellte mit den Tauschgeschäften der Nationalgalerie eine gängige, aber museumsgeschichtlich bislang kaum untersuchte, weil oft tabuisierte Praxis vor – der Zugewinn eines Werks stand dem faktischen Verlust eines anderen gegenüber. Vor dem Hintergrund der angespannten wirtschaftlichen Lage nach dem 1. Weltkrieg stellte insbesondere für Justi das Tauschen eine bewährte Strategie dar, um das Sammlungsprofil zu schärfen oder auch Umbauten des Museums zu finanzieren.

Ähnlich wie die Tauschgeschäfte, sind auch die Popularisierungsstrategien der Nationalgalerie bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein, denen sich Maria Obenaus in ihrem Beitrag widmete, bislang wenig untersucht worden. Ausgestattet mit einem Restaurant und einer Verkaufsstelle für Fotos und Publikationen, war die Nationalgalerie zu Beginn der 1880er Jahre das beliebteste Museum Berlins, wobei das Haus verstärkt an eintrittsfreien Tagen Besucher anzog. Bereits 1866 begann die systematische fotografische Aufnahme der Sammlung, die in den folgenden Jahren ihre Sichtbarkeit stark erhöhte. Die Öffnung des Museums hin zu einem breiten Publikum im Zuge der Museumsreformbewegung um 1900 ließe sich, so Obenaus, an dem Aufkommen preiswerter, thematischer Sammlungsführer, aber auch an zahlreichen Rundfunkbeiträgen zum Museum ablesen.

Petra Winter verfolgte in ihrem Vortrag die oft verschlungenen Wege einzelner Werke der Nationalgalerie nach und hob dabei die Relevanz der Provenienzforschung für die Museen heraus. Diese müsste nicht unbedingt die Restitution von NS-bedingt entzogenen Kulturgütern zum Ergebnis haben, sondern böte insgesamt die große Chance, den Objekten ihre ‚Biographie‘, ihren Kontext zurückgeben, welche wiederum Erkenntnisse über Eigentumsverhältnisse, Ausstellungsorte liefern oder auch zur Identifizierung von Originalen und Kopien beitragen könne.

Angelika Wesenberg problematisierte den scharfen Schnitt zwischen der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, der sich in der Gegenwart in den institutionellen Zuständigkeiten der Alten und der Neuen Nationalgalerie mit ihrer Sammlung der Klassischen Moderne widerspiegele. Sie erinnerte daran, dass es Ludwig Justi nach dem Ende der Monarchie durch die liberale Kulturpolitik der Weimarer Republik möglich war, das Bewusstsein für die Stilvielfalt der Sammlung beispielsweise durch die eine gemeinsame Präsentation der von ihm verstärkt angekauften Expressionisten mit den Impressionisten im Kronprinzenpalais zu schärfen. Wesenberg sprach sich nachdrücklich dafür aus, den Pluralismus der Stile verstärkt in den Fokus zu nehmen.

Ihren Ausklang fand die Tagung mit Florentine Dietrichs Beitrag, der einen Bogen ins 21. Jahrhundert schlug. Sie diskutierte die Möglichkeiten des Museums, seine klassischen Aufgaben – Sammeln, Forschen, Vermitteln, Bewahren – ins digitale Zeitalter zu übersetzen und stellte konkrete Maßnahmen und Strategien der SMB vor. Nur durch ihre Verwirklichung sei die globale Sichtbarkeit des Museums gewährleistet. Wie Gilbert Lupfer hob auch sie hervor, dass sowohl urheberrechtliche Fragen als auch mangelndes Personal die Umsetzung digitaler Strategien erschwerten. Die abschließend aufgeworfene Frage, ob der analoge Museumsbesuch im digitalen 21. Jahrhundert noch eine Zukunft hätte, bejahte die Referentin mit dem Hinweis auf die Unersetzbarkeit des Erlebnisses vehement. Auch Stimmen aus dem Publikum unterstützen diese Haltung, indem sie beispielsweise auf die Werbewirksamkeit digitaler Angebote für das reale Museum hinwiesen.

Ausgehend von den Einzelstudien zur Nationalgalerie wurde zudem mehrfach in der Diskussion der Wunsch nach umfangreicheren historischen Studien geäußert, die bestimmte Aspekte, wie die Gemäldeverzeichnisse, aber auch die Vermittlungs- und Werbestrategien mehrerer Museen vergleichend in den Blick nähmen.

Wie fruchtbar und erkenntnisreich der gleichzeitige Blick auf die wechselvolle Geschichte einer Sammlung und ihre Gegenwart für die Zukunft des Museums sein kann, zeigte sich im Laufe des Kolloquiums insbesondere dann, wenn gegenwärtige Museumsdebatten um Fragen der Macht historischer Zäsuren und politischer Ereignisse, um Kanonisierungs- und Dekanonisierungsprozesse und die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit des Museums denen der Gegenwart auf frappierende Weise glichen.

[1] Die Gründung der Nationalgalerie in Berlin. Der Stifter Wagener und seine Bilder [Beiträge des Kolloquiums vom 17. und 18. November 2011, anlässlich der Ausstellung in der Alten Nationalgalerie Die Sammlung des Bankiers Wagener. Die Gründung der Nationalgalerie], Birgit Verwiebe (Hrsg.), Köln [u.a.], Böhlau, 2013.
[2] Tagungsprogramm: https://arthist.net/archive/14749
[3] Malkunst im 19. Jahrhundert. Die Sammlung der Nationalgalerie, Angelika Wesenberg, Birgit Verwiebe, Regina Freyberger (Hrsg.), Petersberg, Imhof-Verlag, 2017.
[4] http://www.smb-digital.de

Empfohlene Zitation:
Lisa Sophie Hackmann: [Tagungsbericht zu:] Malkunst im 19. Jahrhundert – Die Sammlung der Nationalgalerie (Berlin, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, 30.03.2017). In: ArtHist.net, 15.05.2017. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/15538>.

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