REV 21.03.2007

Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder

Rezensiert von Robert Felfe, Universität Graz
Redaktion: Carolin Behrmann

Mit „Am Grund der Bilder“ liegen sechs Aufsätze von Jean-Luc Nancy erstmals in deutscher Übersetzung vor, die in dieser Zusammenstellung bereits 2003 unter dem Titel „Au fond des images“ erschienen sind. Die einzelnen Texte sind in unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden und widmen sich dem Bild in sehr verschiedenen Perspektiven. In ihrer systematischen Verschränkung lassen sie Grundzüge einer Theorie erkennen, in der das Bild sowohl den Ordnungen zeichenhafter Repräsentation entzogen wird, als auch dem Geltungsbereich dualer Oppositionen wie Urbild und Abbild, Geist und Körper, Objekt und Subjekt.

Darin folgt Nancy Programm und Gestus der Dekonstruktion, wie sie maßgeblich von Jacques Derrida entwickelt worden ist. Auch Nancy versucht der latenten Gewaltsamkeit und den zwangsläufigen Verfehlungen konventioneller Systeme der Sinnbestimmung, insbesondere denen der Sprache, zu entgehen; nicht zuletzt im eigenen Sprechen bzw. Schreiben. Für den Leser erzeugt dies – entgegen der öffnenden Intention dekonstruierenden Sprechens – nicht selten eine Art König-Midas-Effekt: Alles, was der Philosoph berührt, verwandelt sich unter der Hand irgendwie in Sprache. Gleichwohl entsteht gerade hier ein produktives Spannungsmoment in Nancys bildtheoretischem Denken, da es – im Kontrast zu diesem sprachlichen Gestus und einem starken Paradigma neuerer französischer Philosophie – gerade nicht aus einer universell gültigen Matrix erweiterter Textmodelle entwickelt wird.

Besonders deutlich wird dies an einem der faszinierendsten Aspekte der versammelten Aufsätze: der systematischen Beziehung zwischen Bildern und Gewalt. Entfaltet wird diese Beziehung an einem Konzept vom Bild mit starken phänomenologischen Implikationen. So sind Bilder zum einen in besonderer Weise der Wahrnehmung präsent und es gibt eine spezifische „Intimität“ (14 f. u. 40f.), die sie gleichsam von sich aus herstellen. Dabei sind Bilder ein Zeigen, in dem das Bild zugleich sich selbst ausstellt und eine unlösbare Beziehung zu dem unterhält, was es darstellt. Dies gilt für visuelle Bilder genauso wie etwa für sprachliche Bilder oder für Musik, wobei dem visuellen Bild der Status eines Modells (14 f.) eingeräumt wird.
Angesichts der Modellfunktion visueller Bilder mag es erstaunen, dass Nancy sein Konzept von Bild dezidiert nicht an der „Form“ festmacht als demjenigen, was sich als wahrnehmbare Eigenschaften beschreiben ließe. Stattdessen betont er, sich ganz auf eine besondere „Kraft“ konzentrieren zu wollen, der die Bilder ihre eigentliche „Energie“ und „Intensität“ verdanken (11). Diese „Kraft“ lasse „Formen“ erst entstehen (42), und gleichsam durch die Form hindurch sei sie es, die uns trifft.
Diese „Kraft“ der Bilder und die „Intimität“, die sie erzeugt, sieht Nancy in jener Beziehung begründet, in der Bilder insbesondere zu den Dingen stehen, die sie darstellen. So wird eine allgemeine Genese von Bildern als Prozess der markierenden Unterscheidung und „Distinktion“ beschrieben, in dessen Verlauf sich eine Verdopplung vollzieht sowie eine räumliche Entfernung des Bildes von dem jeweiligen Ding (9ff.). Seine prägnanteste Formulierung findet dieser Prozess und das energetische Potential, das sich dauerhaft aus ihm speist, im „Abdruck“ (17ff.). Er ist das Modell des Bildes par excellence. Die Berührung und der Druck, sowie die prägende Bewegung, die hier stattfinden, setzen denn auch die spezifische „Kraft“ des Bildes frei und stiften die genannte „Intimität“. Sie geht nicht auf in einem mimetischen Verweisen des Bildes auf das dargestellte Ding, sondern ist eher durch eine paradox erscheinende Doppelgestalt von Trennung und Entfernung bei gleichzeitiger Kontinuität und Verbindung gekennzeichnet. Aus ihr ergibt sich ein Überschuss, der als „methexis“, das heißt als „Teilhabe“ oder „Ansteckung“ durch das Bild charakterisiert wird (22). Diese zugleich konkrete und doch sehr allgemeine prozessuale Konstellation ist bei Nancy der „Grund“ der Bilder (20). Er selbst – man ahnt es – bleibt immer unsichtbar und zugleich verdankt sich ihm eine unerschütterliche „Evidenz“ und tiefe Beziehung des Bildes zur „Wahrheit“ (26f.).

In einer variierten Perspektive wird denn auch „Wahrheit“ bindendes Moment einer engen Beziehung zwischen Bild und Gewalt. Wenn es für Gewalt charakteristisch sei, dass sie als „stumpfer Wille“ und „reine Intensität“ jede Ordnung ignoriere bzw. zerstöre und sich allein im Vollzug verwirkliche, so fänden sich – Nancy zufolge – hierin markante Parallelen zur Wahrheit (33ff.). Auch diese sei, gerade in Hinblick auf die Geschichte der Moderne, auf ihre Weise meist gewaltsam aufgetreten, indem sie dem eigenen Anspruch folgte, jede bestehende Ordnung durch sich selbst zu ersetzen. Hierin nun findet sich zugleich eine strukturelle Ähnlichkeit zum Bild. Zumindest insofern, als die oben skizzierte allgemeine Genese des Bildes als ein Akt der Setzung zu verstehen ist, der sich unabhängig von jedweder Beglaubigung, etwa durch abbildliche Referenzialität, selbst begründet.
Wenn Nancy vor diesem Hintergrund konstatiert, dass sich Gewalt stets ins Bild setze bzw. sich im Bild vollziehe (39), so wird dies jedoch noch an einem weiteren Aspekt dargelegt. Im Unterschied zum metamorphotischen, Gestalt bildenden Prozess des Zeigens in Bildern ist der Akt der Gewalt an sich gestaltlos, ein bloßes „Vorweisen bzw. Darbieten des Gesichtlosen“ (34). Neben der strukturellen Ähnlichkeit zeichnet sich somit geradezu eine Notwendigkeit von Seiten der Gewalt ab, Bilder zu schaffen bzw. als Bild aufzutreten, da sie erst als Bild oder im Bild aus der ihr eigenen Negativität herauszutreten und so etwas wie einen eigenen Wahrheitsanspruch per Setzung zu verwirklichen vermag.

Diese theoretischen Grundzüge des Bildes sind bei Nancy eingebunden in eine politische Philosophie und Ästhetik, die tatsächlich den Körper als Kräftefeld und Ort möglicher Ereignisse ins Zentrum stellt.[1] Zwar zur entseelten Masse depotenziert, gibt es dort auch einen Körper, der im Genuss an der Welt teil hat, und es sei Sache der Kunst, Techniken zu entwickeln, die diesen Körper ausbilden bzw. immer wieder neu erschaffen. In diesem Sinne gelte es, ästhetische Praxis als eine kreative „techné“ gemeinsamen Lebens zu entfalten. Bildern wird wiederum, gerade in ihrem Verhältnis zu Gewalt, ein besonderer Wert im Rahmen der Kunst zugeschrieben: Ähnlich wie Gewalthandlungen gehen sie immer über zeichenhafte Repräsentation hinaus, und den wesentlichen Unterschied zu ersteren sieht Nancy nicht in einem bloßen Scheincharakter der Gewalt in bzw. von Bildern. Vielmehr seien Bilder in der Lage, den Anspruch auf absolute Offenbarung und den auf Seiten der „gewalttätigen Gewalt“ (49) vorherrschenden Glauben daran, durch eine „schwebende, unendlich aufgeschobene Unmittelbarkeit“ (50) zu verneinen, die jede Offenbarung ausschließt.

Von diesem Zentrum aus eröffnet der Band eine Reihe weiterer Aspekte. So wird etwa die Möglichkeit einer angemessenen Darstellung des Holocaust unter der These diskutiert, dass dieser Massenmord selbst unter anderem als Konsequenz einer „Überrepräsentation“ (71) des NS-Staates zu verstehen sei (51ff.); hingegen wird Landschaft als eine ästhetische Ordnung beschrieben, in der es gelingen kann, die der Darstellung und dem Bild eigenen Gewaltmomente aufzulösen (91ff.). Abschließend wird das Bild mit Heidegger und Kant unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt erörtert (135ff.).

Die Lektüre von „Am Grund der Bilder“ mag einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen, vor allem dann, wenn die eigenen Interessen in erster Linie von der Auseinandersetzung mit konkreten Bildern geleitet sind. Eine große Stärke der hier versammelten Texte liegt in einigen Sichtachsen, die sie einem spekulativen Denken eröffnen, wobei das virulente Problem von Bildern und Gewalt lediglich einer der möglichen Fluchtpunkte ist. Nancy fasst Bilder originär als materielle Bestandteile (und Mitakteure) in der Welt der Körper auf. Sie sind aus der Welt der Dinge abgeleitet, sie bleiben Teil situativer Umgebungen und sind auf spezifische Weise energetisch geladen. Dadurch erst sind sie Darstellung von etwas. Anders gesagt: Eine Schicht von Bildern, die als symbolische Ordnung von der Welt der Körper getrennt ist, kann es unter diesen Prämissen kaum geben.

Die in den letzten Jahren viel diskutierte Performativität des Bildes wird damit nicht als bloße Zuspitzung einer im Kern konventionellen Wirkungsästhetik bildlicher Repräsentationen gedacht, sondern sie hat ihren originären Ort in den Affekt geladenen Räumen zwischen Körpern und den möglichen Ereignissen, die hier stattfinden. Folgt man diesem Gedankengang, dann ließe sich aus dem Vollzug von Handlungen heraus speziell der Gewaltakt systematisch in einer Doppelgestalt von gewaltsamer Tat und Bildprägung denken. Die Beobachtung, dass Gewalttaten sowie Bilderzeugung und –verbreitung nicht selten als kontinuierliche Handlungskette ablaufen, kann so in einer neuen Weise etwa mit der Frage zusammengedacht werden, inwiefern Gewalttaten auch über ihre Bilder tatsächlich treffen können.

Alle hier abgedruckten Texte entstanden zwischen 2000 und 2002. Das heisst, sie sind inzwischen eingeholt worden von Bildern, über die Terrorakte, Folter und Tötungen weltweit und massenhaft zirkulieren und es wäre absurd, Nancys Bildtheorie heute unter Ausblendung dieses Hintergrunds lesen zu wollen. Sie steht somit als Erklärungsmodell neben verschiedenen Ansätzen, die sich diesen Phänomenen in den letzten Jahren gestellt haben. Genannt seien hier lediglich Handlungsmodelle wie Bildmagie und Angststeuerung oder die Setzung von Souveränität – in Anknüpfung an Giorgio Agamben – aus einem engen Wechselverhältnis von Gewaltakten und ikonografischen Traditionen.[2] Hinzu kommen Studien, die eine medienspezifische Perspektive eröffnen.[3] Es könnte sich durchaus lohnen, Nancys Bildtheorie in diesem Zusammenhang produktiv zu machen. Entgegen der Suggestivkraft des „Abdrucks“ und der illustrativen Verweise auf die Malerei wäre dafür vor allem ein Aspekt konsequent zu entfalten.[4] Gerade wenn man den Ansatz ernst nimmt, die performative Struktur von Bildern radikal von ihrer materiellen Präsenz her zu denken, dann verlangt die Untersuchung jener Ereignisse und Handlungsketten, in denen Gewalttaten und Bildproduktion unmittelbar ineinander greifen, dass auch und gerade die jeweils konkreten, technischen und medienspezifischen Aspekte der Genese von Bildern thematisiert werden.

Anmerkungen:

[1] Jean-Luc Nancy: Corpus, Berlin/Zürich 2003.
[2] Vgl. hierzu die Beitrage in: kritische berichte, 1/2005, darin insbes: Horst Bredekamp in zwei Gesprächen mit Ulrich Raulff, Handeln im Symbolischen. Entmächtigungsstrategien, Körperpolitik und die Bildstrategien des Krieges, S. 5-11; Godehard Janzing, Bildstrategien asymmetrischer Gewaltkonflikte, S. 21-35; Vgl. ferner Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2004.
[3] In Hinblick auf Fotografie und Film, vgl. den noch unpublizierten Vortrag: Peter Geimer, „Wir müssen diese Bilder zeigen“ – Ikonographie des Äußersten (Tagung: „Foltern“, Humboldt-Universität zu Berlin, 27.-29.04 2006); sowie ferner, bezüglich der Malerei: Friedrich Weltzien, Das Bild als Spediteur der Gewalt. Anmerkungen zum Medium der Malerei, in: kunsttexte.de, Nr.3, 2002, www.kunsttexte.de.
[4] Weitaus differenzierter zum bildnerischen Potential und zur historischen Spezifik von Abdruckverfahren: Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999

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Anm. d. Red.: Diese Rezension erschien in der
ArtHist-Rezensionsreihe „Bildtheorie“

Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder, Zürich [u.a.]: diaphanes 2006
ISBN-10: 3-935300-51-4, 171 S., EUR 19.90, CHF 42.30

Empfohlene Zitation:
Robert Felfe: [Rezension zu:] Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder, Zürich [u.a.] 2006. In: ArtHist.net, 21.03.2007. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/152>.

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