REV 02.03.2007

Thomas Hensel (Hg.): Das bewegte Bild

Rezensiert von Elke Kania
Redaktion: Rainer Donandt

Im August 2006 erschien im Fink Verlag unter dem Titel "Das bewegte Bild. Film und Kunst" ein 462 gehaltvolle Seiten umfassender Sammelband, der siebzehn Aufsätze ausgewiesener KunsthistorikerInnen des Forschungsfeldes "Kunst und Film" vereint. Die Beiträge basieren (mit wenigen Ausnahmen) auf der von Thomas Hensel, Klaus Krüger und Tanja Michalsky im Oktober 2000 an der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt am Main organisierten Tagung "Kunst im Film - Film als Kunst". Die Publikation ist in vier Abschnitte gegliedert: "Kunstgeschichte, Filmgeschichte und beider gemeinsame Geschichten" (Meder; Schmidt; Janser; Warnke; Reck), "Filme und andere Bilder" (Brassat; Brückle; Sykora; Hensel; Krüger), "Zeitgenössische künstlerische Praxis" (Belting; Stemmrich; Bernhard) und "Kunst, Film und Kino" (Prange; Bach; Michalsky; Grau). Die wenig trennscharf formulierten Sektionsüberschriften lassen die Zuordnung einzelner Beiträge nicht immer zwingend erscheinen und können für die nachfolgenden Bemerkungen außer Betracht bleiben.

Das Spektrum der Aufsätze umfasst rein kunstwissenschaftlich zu bezeichnende Werkbesprechungen z.B. zu den komplexen Videoinstallationen eines Stan Douglas (Gregor Stemmrich) oder zu Bill Viola, Douglas Gordon und Jeroen de Rijke/Willem de Rooij durch Julia Bernard. Hans Belting bietet eine Re-Lektüre der Fotoserie "Theatres" von Hiroshi Sugimoto. Die beeindruckenden Fotos entstanden in den abgedunkelten Kinosälen historischer Filmtheater, die Belichtungsdauer umfasste dabei jeweils die gesamte Projektionszeit eines abendfüllenden Spielfilms, was Belting veranlasst, diese Fotos metaphorisch als "Filme" zu bezeichnen, als "exposed time", als Repräsentationen von Zeitbasiertheit mit einer wesenhaften Nähe zum Film. Einen Abriss der Evolutionsgeschichte filmischer Technik vom Panorama über die Kinoleinwand bis zu interaktivem Cyberspace an der Schnittstelle von bildender Kunst und Telepräsenz-Forschung liefert Oliver Grau mit besonderem Augenmerk auf "polysensuelle" (430) Überwältigungsstrategien, die die Immersion des Betrachters im Bild(-raum) perfektionieren wollen.

Wolfgang Brückle referiert kenntnisreich über die Funktion von Gemälden im Spielfilm am Beispiel von Michelangelo Antonioni: In seinen Filmen der 1960er Jahre setzte Antonioni (fiktive) Gemälde des abstrakten Expressionismus bewusst ein, da er ihnen einen höheren Realitätsgehalt und die Fähigkeit zur Abbildung einer psychosozialen, existentiell vom Ausloten des "Nichts" geprägten Befindlichkeit der 1960er Jahre zubilligte - im Gegensatz zu der für den Regisseur zweifelhaft gewordenen Konsistenz des tradierten Erzählkinos.

Am Anfang vieler Aufsätze steht - neben der wiederholt formulierten Negativkritik am Verhältnis des Fachs zum Film - die Beteuerung, welch großes Desiderat der Film als vielbeschworene "siebte Kunst" (Einleitung der Hrsg., VIII) und Gegenstand der Kunstgeschichte darstelle. Jedoch verdient das vernachlässigte Problemfeld der Theoriebildung und kunsthistorischen Methodik im Umgang mit zeitbasierten Medien eine eigene Verhandlung. Einige Ansätze dafür liefern die maßgeblichen Positionen von Martin Warnke und Hans Ulrich Reck. Der kurze, pointierte Text von Warnke fordert in klarer Sprache und ohne ausufernden Fußnotenwald vom heutigen Kunsthistoriker Mäßigung und Konzentration auf die ureigenste Sache und plädiert für eine Konzentration auf das Wissen um die Kontinuitätslinien in der Entwicklung der bildenden Kunst, die aus Kontinuitätsbrüchen hervorgegangen seien; dies liefere das Rüstzeug für die adäquate Erforschung der gegenwärtigen medialen Produktion. Reck verteidigt eine dynamische Auffassung von Gegenstand und Methoden der Kunstgeschichte, welche die Künste als durch Medien bewirkte Verbindungen erscheinen lasse. (81) Betont wird die Notwendigkeit, die Apparatus-Theorie einzubeziehen, da die Betrachtung filmischer Produkte nicht in einer Trennung zwischen Subjekt und Apparat betrieben werden könne (letztlich akzentuiert auch die Entfernung vom klassischen Kino-Dispositiv mit einer Blickführung des Rezipienten, die zeitgenössische Videoinstallationen aufweisen, die Bedeutung des kinematografischen Apparates). Reck fordert im Bewusstsein der zeitgenössischen Sozialisation durch Kinoerlebnis und Filmkonsum von KunsthistorikerInnen wie KünstlerInnen eine Besinnung auf Empirie, und nicht auf territoriale Markierungen. (126)

Innovative Impulse bieten zudem die herausragenden Aufsätze von Thomas Meder, Regine Prange und Thomas Hensel. Am Beginn des Referats von Meder steht der Hinweis auf die für eine Kunstwissenschaft in der Auseinandersetzung mit Film zentralen epistemologischen Theorien, zum Beispiel die stilistisch-bildorientierte Schule von Wisconsin mit ihren Hauptvertretern Bordwell/Thompson, deren richtungsweisende Texte hierzulande noch zu wenig wahrgenommen und genutzt werden. (5) Das Phänomen der isolierten Betrachtung eines Frames oder eines Bildes im Film-Bild stellt für Meder eine "Überheblichkeit" (13) und Crux der kunstgeschichtlichen Sicht auf das montierten Bildgefüges "Film" dar. Konsequent verzichtet er auf die Abbildung von Standbildern, was bei aller Prägnanz der Ausführungen die Schwierigkeit unterstreicht, die Formalästhetik von Film methodisch adäquat im Printmedium zu vermitteln. Thematisch weist Meder in einer versierten hermeneutischen Deutung der Filme Jean Renoirs im Dialog mit den Gemälden des Vaters Auguste Renoir u. a. mit Verve auf die kaum zu überschätzende Bedeutung des Films für die Produktionsästhetik der bildenden Kunst hin. (24)

Regine Prange belegt in ihrer präzisen, kenntnisreichen Studie zur surrealistischen Avantgarde, wie sich in den 1920er Jahren eine Reflexion der mittlerweile kodifizieren filmischen Mittel zur suggestiven Einbeziehung des Zuschauers in der bildenden Kunst manifestierte. (340). Ihr Beitrag demonstriert überzeugend, welche Möglichkeiten der Synthese und der Beeinflussung im wechselseitigen fruchtbaren Austausch sich zwischen bildender Kunst und Film (hier: dem Kunstfilm) ergeben, und wie sich diese kunstgeschichtlich adäquat analysieren lassen.

Thomas Hensel operiert in seiner bestechenden Untersuchung des Spielfilms "Andrej Rubljow" (1966) von Andrej Tarkowskij sinnstiftend mit dem Begriff der "Interikonizität" (218), dessen Validität für die Kunst- bzw. Bildwissenschaft er überzeugend begründet. Mit diesem Neologismus soll die Spezifik des wechselseitigen Austausches verschiedener Medien akzentuiert werden. Im Unterschied zur umfassenderen Konstruktion von Inter- und Transmedialität ist hier das spezielle Zusammenspiel verschiedener Repräsentationen von Bildlichkeit gemeint: Filmbild, Tafelbild, Ikone, bis hin zu Vorstellungsbild und literarischer Metapher. Gewinnend ist dazu die Erkenntnis, dass Leonardo da Vincis Text "Wie eine Schlacht darzustellen ist" vollständig als "Regieanweisung" gelesen werden kann, die in der Schlachtsequenz von "Andrej Rubljow" ihre explizite filmische Ausgestaltung erfährt und den Regisseur als "auteur", in der Zeitdimension schöpferisch agierend, dem Ikonenmaler Rubljow künstlerisch kongenial gleichgesetzt. Abschließend hervorzuheben sei noch die medienreflexiv angelegten Studie von Tanja Michalsky zu David Lynchs innovativem Spielfilm "Lost Highway" (1996). Der sensibel entwickelte Beitrag vermag es, den Film bildwissenschaftlich zu erfassen und dabei stets einer ästhetischen Diskussion verpflichtet zu bleiben. Ganz im Sinne gegenwärtiger Medientheorien hinterfragt Lynch den Status des Bildes selbst. (401) Im Gegensatz zur Struktur des Moebius-Bandes, die diesem Film gemeinhin unterstellt wird, interpretiert Michalsky das Filmmotiv des Highways überzeugend als Sinnbild für die ständige, rasante (intermediale) Bewegung, die Intentionalität des menschlichen Bewusstseins (402) und als metaphorischen Ort von Bildproduktion.

Fazit: Die jüngste akademische Bearbeitung des viel diskutierten Forschungsfeldes "Film-Bild" durch die deutschsprachige Kunstgeschichte fand - abgesehen von wenigen Beiträgen auf den Deutschen Kunsthistorikertagen seit 2001 - bislang vornehmlich in Katalogessays, Zeitschriften-Sonderbänden oder universitären Abschlussarbeiten statt. Der nun vorliegende, ambitionierte Sammelband schließt aktuell diese Lücke in der hiesigen Forschungslandschaft. Die leider erst sechs Jahre nach der Tagung veröffentlichte Aufsatzsammlung ist gut redigiert, bietet dankenswerterweise aktualisierte, umfassende Angaben zur relevanten Literatur und ist somit als lohnendes Standardwerk zu den gegenwärtigen Debatten der Kunstgeschichte mit bewegten Bildern anzusehen. Auf einige Punkte darf als konstruktive Kritik hingewiesen werden: Die erklärte Absicht von Tagung und Publikation war es, "als ReferentInnen ausschließlich KunstwissenschaftlerInnen einzuladen und die spezifische Kompetenz der Kunstwissenschaft im Umgang mit Film und Kino in einer möglichst großen Bandbreite aufzuzeigen" (Einleitung der Hrsg, S. IX). Dies ist als Standortbestimmung der gegenwärtigen Kunstgeschichte im wissenschaftlichen Spannungsfeld um die bewegten Bilder verständlich, doch wünscht man sich von ihr angesichts der (nicht zuletzt durch die Kunstgeschichte) angeregten Bilddebatten innerhalb der Bild-, Film- und Medienwissenschaften der letzten Jahre mitunter weniger Disziplinrevision als vielmehr eine selbstbewusste Ausweitung der Blickrichtung. Wie gewinnbringend dies für die ureigene kunsthistorische Erkenntnis sein kann beweisen z. B. die filmwissenschaftlich inspirierten Beiträge von Meder und Hensel oder der medienphilosophische Ansatz von Reck.

Was innerhalb der Ausführungen genau unter "Film" verstanden wird (Kinofilm, Dokumentar-, Kunstfilm, Videoinstallation u. a.), und welche Arten der Rezeption von "Film" durch den Kunsthistoriker angewendet werden (Kinoscreening oder Ausstellungsbesuch, Sichtung von DVD oder Video in welcher Version, in welchem Zustand und dergleichen) wird noch zu selten thematisiert; als vorbildlich ist wieder die Reflexion von Reck zu nennen. Viele Beiträge - wie auch anno 2000 die Tagungsdiskussionen in Frankfurt - durchzieht als roter Faden das Statement, dass Bilder prekär geworden seien, dass keinem Bilder mehr getraut werden könne. Kein Grund gleichwohl, hier Pessimismus zu vermuten, ist es doch vielmehr die "(...) Affirmation jener Bilder, die [frei nach Lynch] trotz all ihrer Anzweifelbarkeit Welt überhaupt erst konstituieren." (Michalsky, 417). Der Sammelband "Das bewegte Bild" ermutigt, sich dieser Welt mit ihren Problemen - aber vor allem Möglichkeiten - kunstwissenschaftlich zu öffnen und weiterhin mit Nachdruck zu widmen.

Hensel, Thomas (Hrsg.): Das bewegte Bild. Film und Kunst (= Film und Kunst), München: Wilhelm Fink Verlag 2006
ISBN-10: 3-7705-4150-2, XIV, 462 S.

Empfohlene Zitation:
Elke Kania: [Rezension zu:] Hensel, Thomas (Hrsg.): Das bewegte Bild. Film und Kunst (= Film und Kunst), München 2006. In: ArtHist.net, 02.03.2007. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/151>.

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