REV 20.07.2009

Markus Späth: Verflechtung von Erinnerung

Rezensiert von Juwig Carsten, Hamburg
Redaktion: Livia Cárdenas

Markus Späth ist mit seiner Dissertation zum Verhältnis von Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria ein grundlegender Beitrag zur monastischen Bild- und Gedächtniskultur und ein beispielhafter Brückenschlag zwischen Kunst- und Geschichtswissenschaft gelungen. Dank eines klug gewählten Untersuchungsobjekts und einer souverän vorgetragenen Argumentation vermag Späth die wichtige Funktion von Intermedialität für die Konstitution kollektiver Erinnerung aufzuzeigen. Zahlreiche Detailbeobachtungen führen dabei eindrucksvoll vor Augen, mit welch ausgeprägtem Bildbewusstsein die Wahrnehmung von Geschichte im Hochmittelalter gelenkt werden konnte. Insgesamt birgt die Untersuchung eine Fülle von Erkenntnissen, von denen die Bild-Geschichte zukünftig profitieren wird.

Späths Überlegungen folgen der Prämisse, dass die visuelle Erscheinungsform eines Bild- oder Schriftobjekts als Erinnerungsspeicher fungieren kann (Einleitung, S. 10-33). Da in zahlreichen mittelalterlichen Objekten Bild und (In-)Schrift miteinander kombiniert sind, richtet er sein Augenmerk auf die zentrale „Rolle von Bildlichkeit bei der medialen Verflechtung von Erinnerung sowohl innerhalb der einzelnen Objekte als auch zwischen diesen in ihrem Einwirken mit der schriftgebundenen Überlieferung“. (S. 12) Untersucht werden also nicht allein die intertextuellen Qualitäten einzelner Erinnerungsträger, sondern vor allem auch die medienübergreifenden Strukturen einer institutionellen Gedächtniskultur.

Welch ausgezeichnetes Untersuchungsobjekt das in den Abruzzen liegende Benediktinerkloster San Clemente für diese Fragestellungen ist, zeigt der historische Kontext (Kapitel 2: Reform, Bildproduktion und Erinnerung in den Klöstern Mittelitaliens, 34-54). Eingebettet in die traditionsreiche benediktinische Klosterlandschaft Mittelitaliens stand der 871/73 von Ludwig II. gegründete Konvent erst unter kaiserlichem, später unter päpstlichem Einfluss. Begünstigt wurde dies nicht nur durch geographische Nähe zu Rom und den reformfreudigen Nachbarn aus Montecassino, sondern auch durch einen andauernden Streit des Klosters mit seinen normannischen Landesherren. Der vorläufige Höhepunkt war 1152 erreicht. Als die Mönche den fränkischen Adelssohn Leonas zu ihrem Abt wählten, verhinderte Roger II. die Investitur. Nachdem Leonas erst zwei Jahre später vom Papst persönlich in sein Amt eingeführt worden war, initiierte er zahlreiche Reformen in Casauria, wobei insbesondere seine Bemühungen um die klösterliche Besitzintegrität zu neuen Spannungen mit dem normannischen Adel führten. Um die Ansprüche seines Konvents im Spannungfeld von Imperium, Patrimonium Petri und dem normannischen Königreich zu legitimieren, etablierte Leonas mit hohem künstlerischem Aufwand eine neuartige historiographische Kultur in Casauria, die durch die Verschränkung unterschiedlicher Text- und Bildmedien die Geschichte des Klosters neu deutete und dessen wiedererstarktes Selbstbewusstsein nach innen und außen propagieren sollte.

Drei der an sich schon außergewöhnlichen Erinnerungsträger bilden nun auch den Mittelpunkt der Untersuchung Späths: der zwischen 1172 und 1182 angefertigte Liber instrumentorum seu chronicorum, das 1176 begonnene Skulpturenprogramm im Eingangsbereich der Klosterkirche und das wohl unter Leonas’ Nachfolger entstandene Bronzeportal ebenfalls im Westbau der Kirche. Der Chronologie folgend analysiert Späth in monographischen Kapiteln die Werke hinsichtlich der jeweiligen Wechselwirkung von medialer Qualität und Aussagegehalt sowie ihrer Stellung innerhalb eines etwaigen Gesamtkonzepts. Vergleichsobjekte aus ober- und mittelitalienischen Klöstern öffnen den Blick für „übergreifende Muster der Erinnerung und gleiche Modi für die Speicherung des jeweils spezifischen kollektiven Gedächtnisses“ (S. 30).

Mit welch hohem Bildbewusstsein die Casaurienser Mönche operierten, zeigt schon der vom Klosterarchivar Berardus kompilierte Liber instrumentorum seu chronicorum (Kapitel 3: Der Liber instrumentorum seu chronicorum: Erinnerung an Kontinuität und Wandel, S. 57-172): Berardus übertrug in chronologischer Reihenfolge alle erhaltenen Urkunden und Diplome des Klosters in den Codex, wobei er das jeweils zeit- und ausstellerbedingte Schriftbild der Originale übernahm. Dieser Formentransfer ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum einen verdeutlicht er die wichtige memoriale Funktion der per se auf Sichtbarkeit angelegten Dokumente für die empfangende Institution. Zum anderen traditionalisiert er aktuelle Besitzverhältnisse, da teils jüngere Rechtsinhalte in historische Urkundenformulare interpoliert wurden.

Eine weitere Besonderheit des Liber ist die Klosterchronik in einer Marginalspalte, die über die wichtigsten Ereignisse zum Zeitpunkt der Urkundenausstellung informiert. Dieser narrative Aspekt scheint zunächst auch den 49 Federzeichnungen zugrunde zu liegen, mit denen ausgewählte Dokumente akzentuiert wurden. Wie Späth zeigt, charakterisieren jedoch die stereotypen und somit zeitlosen Bildformulare von Urkundenübergaben, Abtinvestituren bzw. Abtbildnissen die Klostergeschichte als eine über jeden politischen Wandel erhabene Kontinuität „immer wiederkehrender Ereignisse“ (S. 170), welche die Privilegien der kaiserlichen Gründung immer wieder neu bestätigten. Insgesamt visualisiert der Liber somit »grundlegende argumentative Strukturen institutionsbedingter Geschichtsschreibung« (S. 171).

War die Handschrift nur ausgewählten Rezipienten zugänglich, so besitzt das ebenfalls unter Leonas begonnene Skulpturenprogramm über dem mittleren Westportal der Klosterkirche einen öffentlichen Charakter (Kapitel 4: Bild und Text am Zugangsbereich zur Klosterkirche: Erinnerung an die Gründung, S. 175-226). Wie Späth nuanciert darlegt, kombiniert und authentisiert das Bildprogramm Elemente unterschiedlicher Gründungslegenden, »um zentrale Aspekte des auf eine Vielzahl von Textzeugnissen verteilten kollektiven Gedächtnisses an die Gründung zu verflechten“ (S. 227 f.). Dabei evoziert das intermediale Zusammenspiel von (In-)Schriften und szenischen Bildfeldern eine von der chronologisch-narrativen Struktur der Gründungsberichte gelöste Memoria, die unterschiedliche »urkundlich belegte Ereignisse aus der spätkarolingischen Gründungszeit (...) zu einem synchronen Rechtsakt« (S. 201) vereint.

Neben der fundatio thematisiert das Bildprogramm das Patrozinium des Klosters. Nicht nur thront der hl. Clemens im Tympanon über dem Portal, auch zeigen einzelne Bildfelder des Architravs die Reliquienüberführung seiner Gebeine durch Ludwig II. nach Casauria. Der Kult um den spätantiken römischen Bischof besaß seit dem frühen 12. Jahrhundert eine wichtige, aber nicht unumstrittene Bedeutung für die Casaurienser Mönche. Da Quellen des 12. Jahrhunderts auch von einem Trinitätspatrozinium sprechen, liegt der Schluss nahe, dass die Verehrung des Märtyrers mit Hilfe des Skulpturenprogramms lanciert werden sollte. Späths Deutung des Bildprogramms als Zeugnis einer primär „nach innen gerichtete[n] Erinnerungskultur“ (S. 178) überzeugt gerade hinsichtlich der memorialen Funktion der überaus voraussetzungsvollen Konzeption des Gesamtprogramms. Hier wäre jedoch genauer nach dessen Rezeption zu fragen. War die Vorhalle der Klosterkirche den Mönchen zugänglich; war sie Versammlungs- oder Schwellenort für jene Pilger, welche die Gebeine des Klosterpatrons aufsuchen wollten? (Vgl. S. 262) Gerade die von Späth prägnant darlegte heilsgeschichtliche Aufladung des Bildprogramms, die das Kloster nicht nur zur eigentlichen Begräbnisstätte des hl. Clemens erklärte, sondern darüber hinaus noch in die Nachfolge einer apostolischen Tradition stellte, eröffnete eine direkte Konkurrenz zur stadtrömischen Titularkirche des Heiligen. Hier wären weitere Überlegungen zu einem vielleicht auch klerikalen oder kurialen Adressatenkreis möglich (vgl. S. 264 f.).

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Bildprogramm der zwischen 1190 und 1200 entstandenen Bronzetür im Westbau der Klosterkirche (Kapitel 5: Die Bronzetür als Erinnerungsträger der Besitzgeschichte: Veränderungen im kollektiven Gedächtnis um 1190/1200, S. 231-259). Der ursprüngliche Zustand des insgesamt 72 Einzelfelder zählenden Bildsystems ist heute aufgrund seines fragmentarischen Erhaltungszustands nur noch schwer zu rekonstruieren. Insgesamt lassen sich jedoch die erhaltenen Relieffelder zu drei Gruppen zusammenfassen. Neben rein ornamental gestalteten Platten finden sich vier je ganzfigurige Darstellungen zweier anonymer Herrscher und je eines Bischofs und eines Mönchs. Besonders interessant sind jedoch 22 weitere Felder mit jeweils inschriftlich identifizierten Architekturabbreviaturen der klösterlichen Grundherrschaftskomplexe. Wie ein Vergleich mit den erhaltenen Schriftquellen zeigt, befanden sich diese Orte jedoch niemals zu ein und dem selben Zeitpunkt im Besitz des Konvents. So führt die typisierte Darstellungsform – ähnlich wie die Zeichnungen des Liber, der zudem alle dargestellten Besitzungen aufführt – eine idealisierte und epochenübergreifende, „Totalität des Klosterbesitzes“ (S. 258) vor Augen, dessen memorierende Funktion die heterogene schriftliche Überlieferung kondensiert und das neu etablierte kollektive Gedächtnis des Konvents nach innen und außen festigte.

In seinem Fazit betont Markus Späth, welch großer Glücksfall das Kloster San Clemente a Casauria für die Erforschung mittelalterlicher Erinnerungskulturen ist. Ein mindestens ebenso großer Glücksfall ist jedoch auch die so engagierte und facettenreiche Untersuchung von Markus Späth, die ihrerseits der Forschung zu mittelalterlichen Gedächtniskulturen neue Perspektiven eröffnet.

Späth, Markus: Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria (= Orbis mediaevalis 8), Berlin: Akademie Verlag 2007
ISBN-13: 978-3-05-004111-7, 342 S., Euro 69,80

Empfohlene Zitation:
Juwig Carsten: [Rezension zu:] Späth, Markus: Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria (= Orbis mediaevalis 8), Berlin 2007. In: ArtHist.net, 20.07.2009. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/15>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^