REV 12.02.2007

Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt

Rezensiert von Katharina Hoins, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Redaktion: Rainer Donandt

In mehreren Publikationen sowie einer kleinen Ausstellung im Max-Planck-Institut für Wis-senschaftsgeschichte Berlin hat sich Anke te Heesen bereits mit dem Thema Zeitungsausschnitt um 1900 beschäftigt. Die vorliegende Veröffentlichung führt die teils an anderen Stellen publizierten Erkenntnisse dieser Forschungen zusammen [1] und ergänzt sie um wichtige Kapitel. Entstanden ist die erste um-fassende Veröffentlichung zu Geschichte und Verwendung des Zeitungsausschnitt in Wissenschaft und Kunst.

Die große Stärke des Buches ist sein breiter, interdisziplinärer Ansatz, der das Phänomen Presseausschnitt in Kunst, Wissenschaft, Poli-tik und Wirtschaft in den Blick nimmt. Te Heesen zieht dabei einen Querschnitt durch die Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende, der sich in drei Stufen ("Papierobjekte", "Zeitungen" und "Ausschnitte") dem "Papierobjekt der Moderne" nähert. Während die ersten bei-den Abschnitte vor allem der gesellschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Ein-ordnung und der Konturierung ihres Untersuchungsgegenstandes dienen, widmet sich te Heesen in den "Ausschnitten" drei ganz unter-schiedlichen Verwendungsbeispielen: dem privaten Einstein-Archiv von Ernst Gehrcke, den Collagen von Kurt Schwitters und der wissenschaftlichen Sammlung des Hamburgischen Welt- Wirtschafts-Archivs (HWWA).

Zunächst stellt te Heesen den Zeitungsaus-schnitt jedoch in die Tradition wissenschaftlicher Exzerptpraxis vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, die sich als Lösungsstrategie angesichts vorher nicht gekannter Mengen an zu verarbeitendem Schriftgut etablierte. Dass der taktile Umgang mit den Zetteln Auswirkungen auf Arbeitsprozess wie Endergebnis der Wis-senschaften hatte, die Materialität der ausgeschnittenen, geordneten und aufgeklebten Papiere also einen Effekt auf die Forschung hat-te, beschreibt das erste Kapitel. Einen wesentlichen Umschwung in der Bewertung der Ausschnittsammlung markiert dabei Anfang des 19. Jahrhunderts die bürgerliche Praxis der Scrap-Books, die das Cut & Paste-Verfahren von einer wissenschaftlichen zu einer allgemeinen Kulturtechnik wandelte und durch das die Ausschnittsammlung einen neuen Status erlangte: Die aufgeklebten Ausschnitte fungierten nicht länger als Durchgangsstadium zur eigenen Schrift, sondern das Sammelalbum war selbst materiales Endprodukt.

Das zweite Kapitel verankert den Zeitungsausschnitt in der Moderne, als prototypisches Objekt, das durch Vielheit, Bewegung (Simmel) und Reproduktion (Benjamin) charakterisiert sei, andererseits aber, so te Heesens grundlegende These, den Ausdruck einer Wendung gegen genau diese Merkmale darstelle. Der Schnitt in die Zeitung entreiße der von Simmel als unüberschaubar, zirkulierend beschriebenen Objektwelt einen Fetzen und vermöge das Massenmedium so zu individualisieren. Der hochtechnisierten Zeitung rückt die einfache Schere zu Leibe, dem viel tausendfach Hergestellten schreibt sich eine individuelle Spur ein. Aus diesen Erläuterungen heraus, die sich an Michel de Certeau anlehnen, [2] wird die behauptete Eigenständigkeit des Zeitungsausschnitts als Objekt plausibel: Dem Zeitungsausschnitt ist danach zwar die Modernität des Gegenstandes Zeitung inhärent, er enthält durch seine Weiterverarbeitung aber auch Widerspruch und grenzt sich so als distinktes Objekt von der Zeitung ab.

Unter der Überschrift "Die Zeitung und die Entstehung des Zeitungsausschnitts" referiert te Heesen die historische Entwicklung und Bewertung der Zeitung um 1900 und deren Kommerzialisierung. Angesichts neuer Di-mensionen von Informationsfluten entwickelten Zeitungsausschnittbüros wie das 1879 in Paris gegründete "Argus de la Presse" den Handel mit Nachrichten zum lukrativen Ge-schäft, das te Heesen detailreich schildert. Viel wertvoller als die allgemeinen, überblicksarti-gen Schilderungen zur Pressegeschichte sind dabei te Heesens (Bild)beispiele für die mate-riale Auslieferung und Aufbewahrung der Zeitungsausschnitte. Sie vermitteln eine konkrete Vorstellung davon, wie Wissen zu einem be-stimmten Thema materialisiert, handhabbar gemacht und z.T. aus dem flüchtigen Medium gar ein archivalisches geformt wurde: "Die Indexlisten der Ausschnittbüros schufen ein Paradox, indem sie ein transientes Medium in eine ihm bisher nicht eigene Beständigkeit und Stabilität überführten" (95).

Dass Zeitungsausschnittsammlungen auch die Grundlage bilden sollten für ganz unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze, erläutert Te Heesen im vierten Kapitel: Der Historiker Martin Spahn propagierte die Ausschnitt-sammlung als Quelle zur Forschung über historische Ereignisse oder Personen (Beispiel Bismarck); Max Weber wollte eine Zeitungs-wissenschaft im engeren Sinne auf sie grün-den, also Themenauswahl, Publikum, die Medienwirkung der Presse oder das Selbstverständnis der Journalisten untersuchen. Im Wesentlichen den Standardwerken folgend, [3] beschreibt te Heesen, wie der Erste Weltkrieg diese Hoffnungen auf eine systematische Zeitungswissenschaft zunächst zunichte machte, andererseits aber überall im Land Zeitungsausschnittsammlungen entstanden, die in Ausstellungen herumgereicht wurden (siehe auch den Abschnitt zum Kriegsarchiv des Kolonialinstituts in Hamburg, 245-247).

Nach der wissenschafts- und kulturhistorischen Einbettung des Phänomens Zeitungsausschnitt in den ersten beiden Abschnitten bildet die Untersuchung der Ausschnittsammlung des Physikers Ernst Gehrcke den Auftakt der exemplarischen Untersuchungen. In den Jahren 1919-1922 kompilierte der Einstein-Gegner Gehrcke in Berlin mindestens 21 Klebebände mit Artikeln zu Albert Einstein und seiner Relativitätstheorie, von denen 12 im Nachlass Gehrckes in der Bibliothek des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin erhalten sind. Te Heesen gelingt es in ihrer Untersuchung der Sammlung und des darauf basierenden Buches, die Funktion der Ausschnitte für Gehrckes Argumentation überzeugend herauszuarbeiten. Analog seinem Wissenschaftsverständnis fasste der Physiker die Papierobjekte als Beweisstücke auf, aus denen er, durch Reihung und Ordnung objektivierend, seine Thesen ganz konkret ableitete.

Als eigentliches Thema der Sammlung identifiziert te Heesen aber den Personenkult um Einstein, dessen übermächtige öffentliche Figur Gehrcke doch gerade zu demontieren suchte. Te Heesen spricht von der "Papier-Persona" Einsteins, "die es so nie gegeben hat, die aber durch die Illusion der Unmittelbarkeitswirkung der Zeitung eine papierene, handgemachte und dokumentarische Wirklichkeit erhielt" (173). Aufgegriffen und in den zeitgenössischen gesellschaftlichen und literarischen Kontext gestellt wird der zentrale Begriff der "Papier-Persona" noch einmal im Schlusskapitel. Damit ist ein Charakteristikum der Struktur des Buches beschrieben: Te Heesen verhandelt dasselbe Thema häufig an verschiedenen Stellen - dies führt zu gelegentlichen Redundanzen und verlangt vom Leser, in der Fülle der behandelten Gesichtspunkte selbst den Überblick zu behalten und zu erfassen, welche Textstellen zusammenzudenken sind. Eine Zusammenlegung und noch konsequenter konsekutive Argumentation hätte den Text an manchen Stellen weiter gestärkt.

So überzeugen im Kapitel über die Collagen Schwitters' jene Passagen besonders, welche die künstlerische Verwendung der Zeitungsausschnitte mit der vorher beschriebenen Tradition der Wissenschaftspraxis konstrastieren oder parallelisieren: Die Dadaisten bedienten sich bewusst der Negativkonnotation der nichts Neues hervorbringenden "Klitterung" für ihre Collagen, um den Topos des schöpfe-rischen Künstlers zu unterlaufen (191). Während die Ausschnittpraxis auf Ordnung und Übersichtlichkeit zielte, arbeiteten die Berliner Dadaisten in Collageblättern oder Ausschnittbüchern auf chaotische Unordnung hin, "um beim Durchblättern des Buches ein Schwin-delgefühl zu erzeugen" (zit. Grosz, 196). Während wissenschaftliche Sammler wie Gehrcke vor allem am Inhalt der Artikel interessiert waren, operierten Künstler auch mit deren Materialität. Ein "Vexierspiel zwischen inhaltlicher, materialer und formaler Bedeutung" (205) bieten die Collagen von Kubisten und Dadaisten, konstatiert daher te Heesen und zeigt in ihren Einzelanalysen die Gleichzeitig-keit dieser Aspekte, indem sie - jeweils entgegen der gängigeren Forschungsmeinung - mal die gezielte Auswahl der Textstellen bei Schwitters, mal die Inszenierung der Materialqualitäten bei Höch hervorhebt.

Die Ausschnittbücher Schwitters', die erst im Werkverzeichnis (Bd. 1, 2000) [4] erwähnten Kladden "8 uur" (1923), das "Gästebuch für die Merzausstellung" (1922) sowie das nicht im Werkverzeichnis aufgeführte "Schwarze Notizbuch VI" stellt te Heesen nun in den Werkzusammenhang. In den Bänden sammel-te der Künstler Rezensionen über eigene Ausstellungen, aber auch Ausschnitte zu politi-schen Themen, die in den Collagen wieder-kehren. Er dokumentierte mit Hilfe der Aus-schnitte, aber personalisierte diese auch durch Streichungen, Kommentare und verdichtete sie auf einzelnen Seiten mit Abbildungen und Schlagzeilen. Diese Collagen innerhalb der Kladden identifiziert te Heesen als Scharnier zwischen dokumentarischen, chronologischen Ausschnittsammlungen und den Merzzeichnungen.

Nach dem privaten wissenschaftlichen und dem künstlerischen Umgang mit dem Zeitungsausschnitt widmet sich das Buch im dritten Fallbeispiel dem Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv als institutionalisierter Zeitungsausschnittsammlung, die 1908 als zentrales Kolonialinstitut aus der Tradition der Bank- und Wirtschaftsarchive entstand und 1918 zum Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv umgewandelt wurde. Hier sollte die gesamte Gegenwartsinformation zu Kolonial- und Wirtschaftsthemen nicht nur erfasst, sondern auch für die Zukunft als "Urmaterial" (zit. Franz Stuhlmann, bis 1928 Direktor des Archivs, 230) zugänglich gemacht werden, das einen direkteren Zugriff auf die Gegenwart erlaube als wissenschaftliche Artikel.

Die Attraktivität der Gegenwärtigkeit des Ausschnitts für Wissenschaft wie Kunst stellt te Heesen auch im letzten Abschnitt, "Zeitungsausschnitt und Moderne" noch einmal heraus. Sie bestimmt die Zeitungsausschnittsammlung, sei sie nun von Künstlern, Wissenschaftlern oder Verwaltungsbeamten angelegt, als Realität dritter Ordnung, "in der sich der Massenmensch Leser und das Massenorgan Zeitung in der neuen Privatheit der Sammlung trafen" (300). Es ist das Verdienst der Publikation, diese Realität als eigenständiges Phänomen bewusst und den Zeitungsausschnitt als Objekt und Forschungsgegenstand sichtbar zu machen und eine breite Grundlage für dessen weitere Erforschung zu liefern.

Anmerkungen:

[1] Anke te Heesen: cut and paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften (Kaleidoskopien 4), Berlin, Selbstverlag 2002 (zugl. Katalog zur Ausstellung), Dies.: "News, Papier, Scissors: Clippings in the Sciences and Arts Around 1920, in: Lorraine Daston: Things That Talk. Objekt Lessons from Art and Science, New York 2004, S. 297-327, Dies./Juliane Vogel (Hg.): Papieroperationen - der Schnitt in die Zeitung, Stuttgart, Merz&Solitude 2004.

[2] Michel de Certeau: Die Kunst des Han-delns, Berlin 1988. Zuerst "Arts de faire", 1980.

[3] Z.B. Kurt Koszyk: Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1968.

[4] Kurt Schwitters: Catalogue Rainsonné, hrsg. vom Sprengel-Museum Hannover, bearb.v. Karin Orchard und Isabel Schulz, 3 Bände, Ostfildern-Ruit, 2000-2006; (rez. von Ines Katenhusen: http://www.arthist.net/download/book/2006/060916Katenhusen.pdf).

Heesen, Anke: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne (= Fischer), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006
ISBN-10: 3-596-16584-9, 384 S., EUR 16.95, sfr 30.10

Empfohlene Zitation:
Katharina Hoins: [Rezension zu:] Heesen, Anke: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne (= Fischer), Frankfurt am Main 2006. In: ArtHist.net, 12.02.2007. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/147>.

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