Das paradoxale Verhältnis zwischen Bild und Bewegung im Allgemeinen und Fotografie und Tanz im Spezifischen ist der Ausgangspunkt des Sammelbandes „Tanzfotografie, Historiografische Reflexionen der Moderne“, der die Arbeit der Forschergruppe „Bilder von Bewegung - Tanzfotografie 1900-1920“ sowie die Beiträge ihrer mehrtägigen Konferenz zum Thema bündelt. Grundsätzlich verzeichnet der Sammelband innerhalb der tanzwissenschaftlichen Forschung eine unterschätzte Bedeutung des Bildes im Gegensatz zu schriftlichen Quellen oder Notationen und nimmt eine Art Einführungscharakter für Tanzwissenschaftler/ innen in die Verwendungsweisen von Tanzfotografien als Quellen ihrer historischen Arbeit an.
Vor diesem Hintergrund unternehmen die einzelnen Artikel erste Versuche, die Tanzfotografie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht nur als Ausgangspunkt der Rekonstruktion von Choreografien zu bestimmen, sondern darüber hinaus eine von der Abbildtheorie entfernte, kritische Auseinandersetzung mit diesem Medium zu verfolgen. Dieser Vorstoß wird einleitend damit begründet, dass Tanzfotografien in jenem Umfeld bisher größtenteils als Dokumentationsmaterial angesehen und jeglicher „künstlerischer“ Charakter als verfälschend abgetan wurde bzw. nach wie vor eine rein der Illustration dienende Verwendungsweise vorherrschte. Für eine Veränderung dieser Sachlage plädiert nunmehr Sabine Huschka, indem sie in ihrem Beitrag gerade dem ästhetischen Potenzial dieser Bilder ihre Wertschätzung ausdrückt.
Den schon in der Einleitung gehegte Zweifel am Wirklichkeitsanspruch von Tanzfotografien nimmt Charlotte Riggert in ihrem Beitrag nochmals auf. Anhand des Beispiels der „Traumtänzerin“ Magdeleine (von der im Zuge von psychologischen Studien zur Hypnose um 1900 mehrere hundert Fotografien angefertigt wurden) zeigt sie, dass diese Bilder strategisch eingesetzt worden sind, um das konstruierte Krankheitsbild der Hysterie zu legitimieren. Exemplarisch führt sie damit vor, dass Fotografien vermeintliche Realitäten auch erschaffen können und nähert sich damit einer These an, die im Band nur indirekt zur Sprache kommt: Bilder sind niemals nur Abbild, sondern erzeugen das, was sie darstellen, immer auch selbst.
„(...) ein tanzwissenschaftliches Denken, das sich von einem Verständnis von Fotografie als bloßer Illustration löst und auch solche Objekte formloser Dokumentation in die Analysen miteinbezieht“ (92), verzeichnet Eike Wittrock im neu aufkeimenden Interesse an der Fotografie Hugo Erfurths von Mary Wigmans ekstatischem Tanz „Götzendienst“ (1917) (in dem der Körper durch das wild bewegte und dadurch unscharf gewordene Bastkleid verdeckt wird) in den 1990er Jahren. Ob und in welchem Ausmaß eine Fotografie als tanzhistorisches Dokumentationsmaterial dann überhaupt noch hinzugezogen werden kann, stellen Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter in Theorie und Praxis in Frage. Zwar zeigen sie am Beispiel von Fotografien des Tänzers Alexander Sacharoff, dass üppige Kostüme zwar die für Tanzwissenschaftler/innen wichtigen Bewegungsdetails des Körpers im Tanz verdecken, aber dennoch wertvolle Informationen über ästhetische Tanzkonzepte der Zeit bspw. in Bezug auf die Raumkomposition überliefert werden können. Wie die Raumwahrnehmung des Betrachters über die Körperbewegung des Tänzers im Foto konstituiert wird, zeigt anschließend Gerald Siegmund. Hilfreich für die tanzwissenschaftliche Forschung können diese bildlichen Zeugnisse dann auch in Kombination mit weiterem Dokumentationsmaterial, wie Notationen, Texten oder Filmen sein.
Der Sammelband fokussiert eine Epoche, als die dynamischen Bewegungen des freien Tanzes die gradlinig festgelegten Posen des klassischen Balletts ablösten und das Medium der Fotografie soweit etabliert war, dass es sich in ein elementares künstlerisches Ausdrucksmittel mit experimentellem Charakter verwandelte. Die Möglichkeiten des Fotografen, eine „scheinbare“ Auflösung der Differenz der beiden gegensätzlichen Medien Tanz und Fotografie herbeizuführen (wie z.B. Schatten, Unschärfe, dynamische Posen, wehende Haare, Schleier oder Röcke), beeinflussten maßgeblich die Ästhetik der Tanzfotografie und hätten einer noch intensiveren Betrachtung im Sammelband bedurft. Nur Tessa Jahn geht auf solche „Spuren der Bewegung“ im Bild am Beispiel der Fotografien von Ruth St. Denis’ „Radha“-Tanz (1906), näher ein. Gabriele Brandstetter zeigt jedoch, dass nicht nur diese Paradigmen die „Bildbewegung“ mitbestimmen, sondern auch Serien von aufgenommenen Posen die, einmal als Bewegungssequenz zusammengefügt, dem Tanz im Bild zumindest wieder einen Bruchteil von seiner Dynamik zurückgeben können.
Die Materialität und der Entstehungsprozess einer Tanzfotografie sowie Retusche, Belichtungszeit, Pigmentierung und Papierqualität werden in mehreren Beiträgen als bestimmende Qualitäten festgelegt, die dafür sorgen, dass das Bild seinen „repräsentativen“ Charakter verliert und einen eigenen „künstlerischen“ Wert erhält. Dies wird von einer restauratorischen Perspektive aus, die Gisela Harich-Hamburger einnimmt, untermauert, denn schon allein die technischen Verfahren bei der Entstehung einer Fotografie stellen diese als (bloßes) „Abbild der Natur“ in Frage. Speziell in Bezug auf die Tanzfotografie bedeutet dies, dass bspw. die Darstellung von Bewegung nicht nur von ästhetischen, sondern auch von technischen Entscheidungen des Fotografen (die gewiss zeitbedingt sind) beeinflusst werden. Hugo Erfurths’ „angehaltenen“ Sprung von Valerie Kratina (1919) nimmt Isa Wortelkamp zum Anlass um die materielle Präsenz der Fotografie durch Körnung, Kratzer und Flecken, auf der Oberfläche, die auf den Prozess der Herstellung und die „Geschichte der Handhabung“ (S. 186) schließen lassen, als Störung zu verorten. Der Blick des Betrachters beginnt dadurch zwischen Bild und Bildträger zu pendeln. Das Material wird somit zum Bedeutungsträger.[1]
Doch die diesen Beiträgen zugrundeliegende Erkenntnis ist zwiegespalten: denn einerseits wird das Foto als Momentausschnitt erkannt, der das Resultat eines physischen Kontakts mit dem Darzustellenden während der Aufnahme ist (wie es Wortelkamp und Wittrock anhand Charles Sanders Peirces Theorie des „Index“ zeigen), andererseits kann die Situation eines Tanzes auch vorgetäuscht sein. So zeigt Nicky Van Banning, dass in Tanzfotografien, die im Fotostudio aufgenommen wurden nichts so ist wie es scheint: Gehören die dort eingenommenen Posen zu einer Choreografie für die Bühne? Posieren die Tänzer frei oder halten sie sich an der Rückwand fest um die langen Belichtungszeiten zu meistern? Oder verwenden sie gar Stative die nur wegretuschiert wurden?
Bereits der vom Fotografen bevorzugte Bildausschnitt sowie der Umraum und die gewählte Perspektive bestimmen zudem den von vornherein subjektiven, gestalterischen Blickwinkel einer Fotografie mit. Christina Thurner beklagt gleichwohl eine geringe Würdigung des Anteils des Fotografen am Bild von Seiten des/r Historikers/in. Sogar in Archiven sei die Autorschaft meist unklar, denn Namen sind häufig fälschlich oder gar nicht angegeben und das Augenmerk lediglich auf den prominenten Inhalt der Fotografie gelegt. Zur Verortung der historischen Tanzfotografien in aktuellen tanzwissenschaftlichen Diskursen tragen schließlich die Beiträge von Nicole Haitzinger und Susanne Foellmer bei. Erstere fragt, ob der dekorative Charakter der Tanzfotografie um 1900 Parallelen zur „gegenwärtigen (Tanz-)Ästhetik“ aufweist und letztere dokumentiert wie sich der Umgang mit Konstruktionen von Geschlecht in Fotografien der Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert niederschlägt.
Der Sammelband bietet eine Einführung für die Beschäftigung mit Fotografien in der Tanzwissenschaft, kann aber auch für Kunsthistoriker/innen Anregung zu einer noch kritischeren Auseinandersetzung mit Fotografie, speziell ihrer Entstehung und Herkunft sein, vor allem im weitläufigen Bereich der bisher nur wenig aufgearbeiteten Gattung der Tanzfotografie. Die wichtige Publikation bildet – so ist zu hoffen – nur den Auftakt einer noch bevorstehenden umfangreichen Forschungsarbeit mit historischen Tanzfotografien.
Vom Fotostudio über die Verbreitung, Interpretation, Forschung, Archivierung und Restaurierung werden alle Stationen, die solche Bilder durchlaufen, in den Beiträgen abgedeckt, sodass ein Eindruck gewonnen wird, welche Kategorien bei einer Analyse von Bedeutung sind. Zugleich sollte die Tanzfotografie jedoch nicht als isoliert vom Bildbegriff behandelt werden – denn Bildtheorien werden (abgesehen von Theorien der Fotografie) in den einzelnen Beiträgen selten berücksichtigt. Rolands Barthes im Sammelband häufig zitierte „Helle Kammer“ deckt nicht ab, was eine „Ikonografie der Tanzfotografie“ möglicherweise bieten könnte. Hier könnte sich die Tanzwissenschaft bei dem methodologischen Instrumentarium der Kunst- und Bildgeschichte bedienen, um sich die Elemente anzueignen, die für eine Bildanalyse nützlich sind, und auch auf Tanzfotografien angewendet werden können. Im Gegenzug, so zeigt es der Band erstmals paradigmatisch, kann für die Kunstgeschichte die konkrete Auseinandersetzung mit tanzwissenschaftlichen Publikationen auch von Nutzen für die Beschäftigung mit dieser speziellen Form der Fotografie sein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu: Günter Bandmann, „Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials“, in: Städel-Jahrbuch, Ser. 2, Bd. 2 (1969), S. 75-101 und Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2002.
Jahn, Tessa; Wittrock, Eike; Wortelkamp, Isa (Hrsg.): Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne (= TanzScripte; 36), Bielefeld: transcript Verlag 2015
ISBN-13: 978-3-8376-2994-1, 192 S., 34,99 EUR
Recommended Citation:
Anja Pawel: [Review of:] Jahn, Tessa; Wittrock, Eike; Wortelkamp, Isa (Hrsg.): Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne (= TanzScripte; 36), Bielefeld 2015. In: ArtHist.net, Dec 19, 2016 (accessed Dec 21, 2024), <https://arthist.net/reviews/14432>.
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