REV 16.12.2017

Iris Brahms: Zwischen Licht und Schatten

Rezensiert von Robert Felfe, Universität Hamburg
Redaktion: Livia Cárdenas
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Der Anspruch der vorliegenden Studie ist hoch: Erstmals – so die Autorin in der Einleitung – werde hier das Medium der Farbgrundzeichnung als zusammenhängendes Phänomen eingehend dargestellt. Der Fokus liegt dabei auf einem Materialkorpus, das aus Werkstätten nördlich der Alpen und einer Entstehungszeit von etwa Mitte des 15. bis ins frühe 16. Jahrhundert herrührt. Geschlossen wird dieser historische Rahmen mit Zeichnungen Dürers, die überwiegend während dessen zweiter Italienreise (1505–1507) und in den Jahren danach entstanden sind. Dabei ist diese Zuspitzung auf Dürer eingebunden in historisch übergreifende und systematische Perspektiven, die maßgeblich auf der Grundlage zweier Prämissen entfaltet werden: Zum einen werden Aufkommen und Verbreitung der Zeichnung auf farbigen Gründen nördlich der Alpen – wie auch in Italien – in keiner Weise als selbstverständlich angenommen, sondern als zutiefst erklärungsbedürftig. Diese Feststellung als solche wäre trivial, hier jedoch ist sie der Ausgangspunkt, von dem aus ein ganzes Cluster an naturphilosophischen und kunsttheoretischen Problemen sowie an anderen bildnerischen Praktiken eröffnet wird, die alle in direkte Beziehung zur Farbgrundzeichnung gesetzt werden. Lediglich ein Aspekt sei hier skizziert. Insbesondere seit dem 14. Jahrhundert finden sich in Malerei und Buchmalerei verschiedene Varianten der Darstellung in einem extrem reduzierten Farbspektrum bzw. von dezidiert monochromer Malerei. Die ästhetischen Eigenschaften dieser Arbeitsweisen wie auch deren Sinnangebote konnten dabei in sehr verschiedene, teilweise gegenläufige Richtungen gehen. Sie konnten als besonders suggestive Artikulation von Licht und Schatten einen forcierten Illusionismus evozieren – zum Beispiel in paragonalem Dialog mit der Skulptur – und zugleich in einer anti-illusionistischen Wendung die Differenz zwischen Darstellung und außerbildlicher Welt betonen und so zu wahrnehmungs- und bildkritischen Reflexionen herausfordern. Zudem konnte der Verzicht auf Farbe ebenso eine Geste der Bescheidenheit sein, wie auch ein Mittel der gezielten Evokation kostbarerer Materialien oder aber eine selbstbewusste Akzentuierung virtuoser künstlerischer Fähigkeiten. Zwischen diesen nur kursorisch angedeuteten Spielarten monochrom malerischer Verfahren sei mit Zeichnungen auf farbigem Grund gleichsam ein eigenes Register der Modulierung von tonalen Werten eröffnet worden, dessen Möglichkeiten weit über das Gebot eines überzeugenden relievo als mimetischer Qualität hinausreichte, wie es seit Autoren wie Cennino Cennini und Leon Battista Alberti einen festen Platz in der Literatur hatte.

Eine zweite Prämisse schließt direkt daran an. So sei es zweifellos wichtig, in der Analyse und Interpretation von Farbgrundzeichnungen die jeweils spezifischen Bedingungen von deren Entstehung zu berücksichtigen. Dazu zählen übliche Werkstattpraktiken und Traditionen hinsichtlich Materialien, Techniken und Motiven wie auch die konkreten Funktionen, von denen auch in Hinblick auf diese Zeichnungen in vielen Fällen auszugehen ist. Dennoch plädiert die Autorin dafür, dass diese Arbeiten auf farbigem Grund – als besondere Variante des Mediums Zeichnung – vielfach ein primär ästhetisches Anliegen teilten. Ein zentrales Kriterium hierbei wird atmosphärischen Qualitäten zugewiesen. Wenn dabei etwa von der „Evokation eines atmosphärischen Raumes“ (67) oder der „Vermittlung atmosphärischer Erscheinungswirklichkeit“ (84) die Rede ist, bleibt zunächst recht vage, was genau damit gemeint ist. Sukzessive entwickelt die Arbeit jedoch charakteristische Valenzen und Tonlagen dieser Atmosphären. Dabei wird deutlich, dass sie weder als Sonderformen des relievo oder als Varianten einer auf Kontrasten basierenden Hell-Dunkel-Modellierung angemessen zu verstehen seien, noch primär als ikonografische Kodierungen. Vielmehr nimmt die Farbgrundzeichnung eine spezifische Zwischenstellung ein, zwischen Praktiken wie der Zeichnung auf neutralem Grund, monochromen Malereien und den verschiedenen buntfarbigen Bildverfahren, und zwischen den oben genannten ästhetischen Eigenschaften und deren Sinnangeboten. Mit Blick auf diese Konstellation folgt die Arbeit der Frage, inwiefern sich um 1500 Zeichnungen speziell auf farbigen Gründen nicht nur als eigenständige, sondern vielfach als autonome Kunstwerke etabliert haben.

Diesem Anliegen geht das Buch in seinen Hauptkapiteln auf vier Ebenen nach. Das erste dieser Kapitel lässt sich als Aufriss einer Diskursgeschichte verstehen, in die die Praxis der Farbgrundzeichnungen eingebettet war. Sie skizziert einen problemgeschichtlichen Hintergrund, zu dem das Nachdenken über Licht als konstitutives Moment von Wahrnehmung wie auch Zusammenhänge von Licht und Farbe von antiken Autoren (Aristoteles, Plinius und Augustinus) über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit (Bartholomaeus Angelicus, Cennini, Alberti, Leonardo und Dürer) gehören. Verbunden wird dies mit Strängen mittelalterlicher Bildtradition sowie begriffsgeschichtlichen Klärungen etwa zum chiaroscuro und einer Absetzung der Zeichnung auf farbigem Grund vom Terminus der Hell-Dunkel-Zeichnung im Horizont der Forschungsliteratur. – Reich an Informationen und kleinteilig verleihen diese Ausführungen der Farbgrundzeichnung erste Konturen als eigenständigem Gegenstand der Forschung; und sie markieren zugleich ästhetische und künstlerische Probleme von weitaus größerer Tragweite, die in dieser Praxis auf spezifische Weise bearbeitet wurden.

Das zweite Kapitel gilt den Zeichenmitteln und Materialien. Hier kommen die detaillierten Kenntnisse der Autorin über das Medium Handzeichnung besonders zum Tragen, wenn sich in der Lektüre eine stupende Vielfalt an Verfahren und Arbeitsweisen entfaltet. Besondere Akzente setzen dabei Phänomene des direkten Wechselspiels zwischen Handzeichnung und Druckgrafik – so etwa in einem frühen Fall von „Reproduktionsgrafik“ in einem Stich Israhel vom Meckenems nach einer Farbgrundzeichnung von Hans Holbein d.Ä., oder in jenen experimentellen Misch- und Hybridformen von Kupferstich und Zeichnung auf farbigem Grund, wie sie Mair von Landshut etwa in seinem „Gruß an der Pforte“ 1499 unternahm. Diese Fallbeispiele fungieren innerhalb des argumentativen Rahmens der Studie als erste Annäherungen an die Farbgrundzeichnung als eigenes, historisch frühes Moment in der Etablierung der Zeichnung als autonomem Kunstwerk. Autonomie meint dabei – im Anschluss an Bernhard Degenhart – Zeichnungen, die frei von einer Zweckbindung an andere ‚eigentliche’ Werke entstanden und in dieser Ungebundenheit als originärer Ausdruck künstlerischer Kreativität gelten können. (94) Mit dem Moment der Freisetzung von Zeichnungen aus der funktionalen Bedingtheit in Werkprozessen – ist diese Definition von 1950 primär eine Bestimmung ex negativo. Eines der zentralen Anliegen der Arbeit von Iris Brahms ist es nun, dieser Bestimmung eine positive Definition an die Seite zu stellen, die in den folgenden Abschnitten sukzessive vor allem als reflektierte Komplexität zeichnerischer „Techne“ und in eigenständigen ästhetischen Qualitäten von Farbgrundzeichnungen sowie deren semantischen Implikationen hervortritt.

In diesem Sinne kommt dem dritten Kapitel eine zentrale Rolle zu, in diesem Abschnitt wird dann auch der weitaus größte Teil des Korpus an ausgewählten Zeichnungen diskutiert. Erneut werden dabei zunächst „funktionale Kontexte“ dargestellt. Dazu zählen die der Autorin zufolge noch immer nicht angemessen berücksichtigte Autorität zeichnerischer Studien im Sinne der Profilierung einzelner Meister wie auch des transregionalen Austauschs zwischen Künstlern und Werkstätten; oder der verbreitete häusliche Gebrauch von Zeichnungen als „kleine Andachtsbilder“. Zwar konnten Zeichnungen in diesen Zusammenhängen durchaus eine gewisse „Eigenständigkeit“ (153) zukommen – der eigentliche Fokus der Darlegungen richtet sich indessen auf ein Cluster an künstlerisch ästhetischen Optionen, die in Zeichnungen auf farbigen Gründen erprobt wurden, und in denen eine Tendenz zur Autonomie auszumachen sei. Unmöglich, hier die einzelnen Facetten auch nur annähernd zusammenzufassen. Als eines der Ausgangsprobleme wird die für das 16. Jahrhundert zu beobachtende allgemeine Tendenz eines zunehmend vereinheitlichenden Helldunkels markiert – und vor diesem Hintergrund wird die Farbgrundzeichnung als ein besonders reiches Feld des Experimentierens mit Ausdruck und Dynamik der zeichnerischen Artikulation charakterisiert. Zwischen Nahansichtigkeit und Tiefenwirkung seien dabei unter anderem spezifische Tonlagen einer „spannungsreichen Erscheinungswirklichkeit“ (212) mit einem gesteigerten Affektpotential erarbeitet worden. Angesichts von Hans Baldungs „Selbstbildnis“ (um 1503) wird die Arbeit mit diesen Gestaltungsoptionen wiederum im Sinne eines hohen Selbstbewusstseins des jungen Zeichners nicht zuletzt gegenüber der anerkannten Meisterschaft von Albrecht Dürer gedeutet.

Im letzten Kapitel werden einige der bis dahin herausgearbeiteten Momente am Beispiel Dürers erneut aufgegriffen und gleichsam im detaillierteren Maßstab des monografischen Ausschnitts weitergeführt. Entsprechend finden sich vor allem hier eindrucksvolle Lektüren einzelner Blätter: zum Beispiel die des Berliner „Laute spielenden Engels“ (1497), oder des „Selbstbildnisses als Akt“ (um 1506), heute in Weimar. Eines der zentralen Argumente auf dieser Ebene lässt sich wie folgt aufnehmen: Vor dem Hintergrund allgemeiner Bedingungen der Zeichnung – wie etwa der grundsätzlichen Differenz zwischen der Linearität grafischer Mittel sowie dem Bedürfnis nach tonaler Modulierung und einem vereinheitlichenden Lichtgefüge – habe Dürer neue Möglichkeiten der Vermittlung entwickelt. Die gesteigerte Differenziertheit von Zeichenmethoden ist hier in der kontrastierenden Anwendung zu ganz eigenen Balancen geführt worden. Hierin wiederum erlange insbesondere die Farbgrundzeichnung insofern einen hohen Grad an Autonomie, als sie mit oder ohne bestehende Zweckbindungen, aber auch ohne notwendige Referenzen auf andere Medien der Kunst, sowohl grundsätzliche Bedingungen bildlich zweidimensionaler Darstellung wie auch des Sehens zugleich analytisch erschließt und immer wieder neu orchestriert.

Eine der Stärken des vorliegenden Buches ist es, die Farbgrundzeichnung in der Tat als Phänomen von historischer wie auch systematischer Relevanz zu untersuchen und sich dabei konsequent der Komplexität der damit zusammenhängenden Probleme zu stellen. Getragen wird dies von den beeindruckenden Kenntnissen der Autorin im Bereich der Handzeichnung einschließlich der aktuellen Forschungslage. Dabei fordert jedoch der Anspruch, technisch-mediale und funktionale, kunstsoziologische, kulturgeschichtliche und ästhetische Perspektiven in ihrer Verschränkung zu behandeln, bisweilen seinen Preis. Wer diese überaus materialreiche Studie liest, wünscht sich in mancher Passage, der Text würde etwas weniger versuchen‚ alle Bälle in der Luft zu halten’, als den einen oder anderen etwas gradliniger und entschiedener im Sinne der eigenen Argumente voranzutreiben. So ist das Buch auch als dichtes Kompendium aktueller Forschungsfragen zu empfehlen, das insbesondere dort inspirierende Antworten gibt, wo es sich die Freiheit zur intensiven Lektüre einzelner Zeichnungen nimmt.

Brahms, Iris: Zwischen Licht und Schatten. Zur Tradition der Farbgrundzeichnung bis Albrecht Dürer (= Berliner Schriften zur Kunst), Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2016
ISBN-13: 978-3-7705-5899-5, 331 S., EUR 69,00, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Robert Felfe: [Rezension zu:] Brahms, Iris: Zwischen Licht und Schatten. Zur Tradition der Farbgrundzeichnung bis Albrecht Dürer (= Berliner Schriften zur Kunst), Paderborn 2016. In: ArtHist.net, 16.12.2017. Letzter Zugriff 23.11.2024. <https://arthist.net/reviews/14159>.

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