REV 05.12.2006

Theresa Georgen/Carola Muysers (Hgg.): Bühnen des Selbst

Rezensiert von Anja Herrmann
Redaktion: Claudia Sedlarz

Theresa Georgen und Carola Muysers konstatieren in ihrem 2006 erschienenen Sammelband „Bühnen des Selbst. Zur Autobiographie in den Künsten des 20. und 21. Jahrhundert“ einen Mangel im Umgang mit der Autobiographie in den Kunstwissenschaften und der Kunstgeschichte. Die vorliegende Publikation soll dazu beitragen, diesen Mangel zu beheben. Die Idee zu diesem Buch entstand im Mai 2003 während der Kieler Tagung „Leben. Identitäten. Autorschaften. Autobiographien von KünstlerInnen seit der Moderne“.

Das Buch gliedert sich neben dem Vorwort und einem einführenden Essay von Carola Muysers in vier Kapitel (Wer spricht?, Lebens-Bilder, Krise und Erinnerung, Selbst-Gespräche), in denen 16 deutschsprachige AutorInnen neben den klassischen autobiographischen Medien (Memoiren, Tagebücher und Briefe) künstlerisch-gestalterische Darstellungen, Memorials und fiktional-digitale Selbstentwürfe besprechen. Diese werden durch Künstlerinneninterviews und Artikel zur KünstlerInnenbiographie und -ausbildung erweitert. Die Analyse des Selbstporträts als autobiographisches Medium bleibt dabei explizit ausgespart. Die einzelnen VerfasserInnen operieren mit unterschiedlichen literatur-, geschlechter- und kunstwissenschaftlichen sowie empirischen Methoden. Ziel des Bandes ist es, den 'State of the Art' der künstlerischen Autobiographie zu referieren und unter der Prämisse, dass KünstlerInnen autobiographische Profis seien, die inhaltliche Weiterentwicklung der Gattung fortzuschreiben.

In ihrem einleitenden Artikel „Die Sorge um(s) Ich – Subjekt und Medium der KünstlerInnenautobiographie“ gibt die Herausgeberin Carola Muysers einen Überblick zur Autobiographik von KünstlerInnen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert und beleuchtet die besondere Rolle des Schreibens für diese Thematik. Trotz medialer Verschiedenheit, bildet das Schreiben für Muysers das Paradigma der Autobiographie.

Das erste übergreifende Kapitel „Wer spricht?“ versammelt fünf Beiträge, die nach dem Künstlersubjekt und dessen unterschiedlichen Ausgestaltungen fragen. Der erste Aufsatz ist ein aktualisierter Nachdruck von Felix Philipp Ingolds „Der Autor in Stücken. Wladimir Majakowskij“. Die Tragödie „Wladimir Majakowski“ verbindet in spielerisch-intellektueller Weise Kunst und Leben Majakowskis, indem dieser auf der Bühne in die Rolle des Protagonisten schlüpft und so im Akt der Aufführung nicht nur Spiel- und gespielte Zeit, sondern auch Versatzstücke amalgamiert. Ingolds Text verdeutlicht gleich zu Beginn des ersten Kapitels noch einmal ein Ziel des Bandes, „von der Nähe und Distanz, vom Ich und Selbst zu erzählen“ (S. 11). Diesem literaturwissenschaftlich argumentierenden Text folgt Peter Schneemanns „`I made myself into the artist I always determined to be.´ Autobiographie und Subjektbildung als Problem der künstlerischen Ausbildung“. Schneemann bestimmt anhand ausgewählter Curricula von Kunsthochschulen (u.a. Düsseldorf) die Funktion der Autobiographie für die künstlerische Identitätsbildung als ständigen Prozess. Dabei verleihe gerade die Art der Narration von Biographie den Werken zeitgenössischer Kunst (z. B. Tracey Emin) Gehalt.

Der Artikel von Renate Berger, „Navigation im Lebensmeer. Zur Renaissance des weiblichen Subjekts in Autobiographien und Biographien“, verwebt die Geschichte von Autobiographie und Biographie mit einer feministischen Kritik an poststrukturalistischer Theoriebildung und plädiert mit Blick auf die biographische Praxis im anglo-amerikanischen Raum für eine offene Form von Kunst-Biographien. Julia Gelshorn verfolgt in „Autobiographie als Maskerade. Inszenieren und Verbergen bei Sigmar Polke“ das parodistische Spiel mit Auto- und Biographietopoi, Eigennamen und medialer Inszenierung im Werk von Polke. Über die Maskerade inszeniert sich Polke immer wieder neu und erweist sich somit als Autorität seines selbstreferentiellen Spiels. Den Gegenstand des letzten Beitrag des im ersten Abschnitts bildet der vier jahrzehnte Jahrzehnte währende Briefwechsel zwischen Erich Mendelsohn mit seiner Ehefrau Luise Mendelsohn. Dieser ist für Ita Heinze-Greenberg („`Geliebte Seele!´Die Briefe des Architekten Erich Mendelsohn an seine Frau Luise“) Anlass über das „Wesen des künstlerischen Schaffens“ innerhalb einer Paargemeinschaft nachzudenken.

Im zweiten Kapitel, „Lebens-Bilder“, dreht sich alles um facts & fiction. So verfolgt Theresa Georgen („Nachbilder – Agnès Vardas Film ´Les Glaneurs et la Glaneuse`“) am Beispiel eines Films von Agnès Vardas die Bildsprache der Grande Dame des französischen Kinos. Das Aufsammeln von liegengelassenen, vergessenen Artefakten und Erinnerungen montiert sie mit der Reise zu einem persönlich-politischen Statement. Verena Kuni lotet in ihrem Beitrag “´All of this could be true.` Das Tagebuch als Medium der Kunst“ das komplexe Spiel video- und webbasierter Subjektentwürfe von Lynn Hershman und Susanne Treister im Spannungsfeld von Referenz und Performanz aus. Bei Hershman und Treister bleibe es unklar, ob die Autorinnen von sich sprechen oder sich erst im Sprechakt vor der Kamera konstituieren. Das Tagebuch avanciert hier zum „Medium im Medium, in dessen Transformation die aufgerufenen Rahmungen des Formats zugleich akzentuiert und gebrochen werden“ (187). Nach diesem Ausflug in aktuelle elektronisch generierte Autobiographien befassen sich die letzten drei Essays des Kapitels erneut mit dem traditionellen Medium der Schrift und mit erst spät (wieder-)entdeckten Künstlerinnen. Die unveröffentlichten Memoiren der Marie Vassilieff bieten Ada Raev Gelegenheit, die heute in Vergessenheit geratene Protagonistin der Pariser Avantgarde während des Ersten Weltkriegs zu rehabilitieren. Gleichzeitig geben sie Zeugnis über die Avantgarde aus weiblicher Sicht ab. Vassilieff führte zwar das Leben einer Bohèmienne, während des Krieges wurde sie aber zusehends in die politischen und sozialen Ereignisse verstrickt. Auch Karoline Hille bietet mit Dorothea Tannings Text „Birthday“ einen anderen Blick auf die Avantgarde. Die ebenfalls erst spät wiederentdeckte Künstlerin skizziert in dem Text ihr Leben mit Max Ernst in Form einer „Heiligenlegende“ und die Entwicklung von Dada und Surrealismus. Dieser Beitrag erweitert das Feld um Künstlerinnen/Autorinnen, die mit männlichen Berühmtheiten zusammenlebten und selbst posthum um ihre Sichtbarkeit im Schatten des Anderen kämpfen mussten.

Irene Belows Aufsatz „Zwischen den Kulturen. „´Umgababa` – Irma Sterns erstes Reisebuch“ untersucht den Reisebericht der südafrikanischen Künstlerin Irma Stern, deren Werk noch immer auf seine vollständige wissenschaftliche Erschließung wartet. Stern wuchs zwischen zwei Kulturen (Deutschland und Südafrika) auf. Das Schreiben diente ihr „als Strategie für die Bewältigung ihrer ungesicherten Existenz“ (S. 224). Sterns „Umgababa“ erzählt von der südafrikanischen Küstenlandschaft und schwankt zwischen der Faszination an der „Naturverbundenheit“ der Einwohner und der Angst vor deren Zerstörung.

Im dritten Kapitel des Bandes, „Krise und Erinnerung“, kreisen die Beiträge um die Erinnerung und ihre künstlerische Verarbeitung. Dorothee Wimmer („`Die Vergewaltigung ist der Tod´ – Niki de Saint Phalles autobiographische Bilder, Filme, Bücher“) schreibt in ihrem Text gegen die Auffassung an, dass sich de Saint Phalles Kunst allein auf die therapeutische Funktion nach der Vergewaltigung durch den Vater reduzieren lasse. Sie interpretiert im Besonderen die Schießaktionen in Niki de Saint Phalles Werk als Radikalisierung des Kunst- und Künstlerverständnisses im Kontext der 1960er-Jahre.

Für Anselm Kiefer markiert die Installation „20 Jahre Einsamkeit“ einen Wendepunkt in seiner Biographie. Holger Broeker verdeutlicht in seinem Beitrag, wie Kiefer den Prozess des Erinnerns durch seine bearbeiteten, bemalten und übereinander gestapelten Leinwände zu Sinnschichten materialisiert. Ulrike Wolff-Thomsen stellt den autobiographischen Roman der Malerin Rosa Pfäffinger „Der Erbfeind oder ein Anti-Puppenheim – Momentaufnahmen aus der Nora-Zeit“ vor. Der Roman handelt von einer Künstlergemeinschaft in Paris Ende des 19. Jahrhundert, die unter dem Eindruck der Schriften Nietzsches neue Formen des Zusammenlebens erprobt und von der zögerlichen Emanzipation der Protagonistin aus diesem Abhängigkeitsverhältnis.

Im letzten Kapitel des Bandes, „Selbst-Gespräche“, nehmen die Herausgeberinnen einen Formwechsel vor. Die drei Artikel sind erscheinen in einer Gesprächsform und drehen sich um das Thema und die Funktion von Künstlermythen anhand von Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen. Christine Schwab erzählt im Gespräch mit Carola Muysers von den 56 Tagebüchern Gabriele Quasebarths, die mit Malen und Schreiben versuchte, „der Gefahr der Selbstauflösung zu entgehen“ (S. 314) und an gängigen Künstlermythen festhielt. Die Fragen der Herausgeberin sind zuweilen etwas zu umfassend gestellt, so dass Schwab einige Fragen unbeantwortet lässt.

Die Studie „Weiblichkeit und ästhetisches Handeln“ von Ingrid Wagner-Kantuser und Aulikki Eromäki versammelt Interviews und deren Aufbereitung von in Westdeutschland ansässigen zeitgenössischen Künstlerinnen und zielt auf die Identitätsbildung sowie auf die künstlerische Arbeitsweisen bildender Künstlerinnen in den 1990er-Jahren. Mit Hilfe der Interviews können Kanthuser und Eromäki belegen, dass „die Emanzipation von der weiblichen ´Normalbiographie` und die Reflexion von Geschlechtlichkeit im Sinne von gender Grundvoraussetzung für Dasein und Karriere der Künstlerinnen waren“(329).

Das abschließende Gespräch zwischen der Künstlerin Cornelia Sollfrank und der Kuratorin Ute Vorkoeper, „I’ll be your mirror. Über die unmögliche Möglichkeit, das eigene Leben zu schreiben“, macht deutlich, wie hilfreich Künstlermythen für die Narration von Künstlerinnen sein können. Sollfrank nennt neben Sturtevant und Oppermann Künstlerinnen, die den Einsatz von Mythen dezidiert für ihre Erzählung von Biographie verwendet haben. Gleichzeitig konstatiert sie, dass die Form des Weblogsfür die Produktion von Biographie bislang von KünstlerInnen nicht voll ausgeschöpft wurde.

Der Band „Bühnen des Selbst“ versammelt zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Aufsätzen, die aus kunstwissenschaftlicher Perspektive rund um das Thema der Kunst(Auto)Biographie kreisen. Die verschiedenen Aufsätze decken unterschiedliche Bereiche des Themas ab, so kommen die Ausbildungssituation und der Gebrauch von Künstlermythen ebenso zur Sprache wie die verschiedenen autobiographischen Strategien. Ein Vorzug dieses Sammelbandes ist es und dies zeigt sich gerade im zweiten Kapitel, dass er Raum für neu entdecktes Material lässt und sich nicht nur mit den bekannten Namen der Kunstgeschichte befasst. Viele der Beiträge machen Lust zum Weiterlesen der besprochenen (Auto)Biographien. Der Bereich der neuen Medien und der so genannten Biopics (biographischer Spielfilm), die mittlerweile immer mehr die Wahrnehmung einzelner Künstlerinnen und Künstler bestimmen und sich gerade an der Biographie abarbeiten, bleiben ein wenig außen vor. Darüber hinaus wäre es sicher interessant gewesen, auch englischsprachige AutorInnen mit ein zu beziehen, die innerhalb der Disziplin auf eine längere Tradition der Autobiographik und auf einen kritischen Diskurs zurückschauen können.In diesem Kontext wäre die Untersuchung von Fragen nach dem Zusammenhang von Referentialität und Autobiographie ebenso interessant gewesen, wie das Verhältnis von Text und Bild in visuellen Autobiographien, das im vorliegenden Buch nur partiell angesprochen wird. Insgesamt bietet „Bühnen des Selbst“ jedoch einen breiten Überblick über die Gattung und kann für alle Interessierten, insbesondere für Studierende, als guter Einstieg ins Thema dienen.

Georgen, Theresa; Muysers, Carola (Hrsg.): Bühnen des Selbst. Zur Autobiographie in den Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts (= Gestalt und Diskurs), Kiel: Muthesius Kunsthochschule 2006
ISBN-10: 3-9808798-6-0, 352 S.

Empfohlene Zitation:
Anja Herrmann: [Rezension zu:] Georgen, Theresa; Muysers, Carola (Hrsg.): Bühnen des Selbst. Zur Autobiographie in den Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts (= Gestalt und Diskurs), Kiel 2006. In: ArtHist.net, 05.12.2006. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/141>.

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