Anlässlich des 40. Jubiläums des Europäischen Denkmalschutzjahres haben Michael Falser und Wilfried Lipp (ICOMOS Österreich) einen knapp 700-seitigen Sammelband zum Thema herausgegeben. Diese österreichische Initiative steht nicht zuletzt in Verbindung mit der Geschichte des Denkmalschutzjahres, war es doch der Österreicher Ludwig Weiß, der 1963 mit dem "Report on the Preservation and Development of Ancient Buildings and Historical or Artistic Sites" die Aktivitäten des Europarates in Bezug auf architektonisches Erbes anstieß. Das Denkmalschutzjahr gilt gemeinhin als ein Höhepunkt der Denkmalpflege und als Wendepunkt hinsichtlich denkmalpflegerischer Strategien und Betätigungsfelder. Bislang wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem „bis heute weltweit größte[n], kulturpolitisch dezidiert transnational konzertierte[n] Ereignis zu Denkmalschutz und Denkmalpflege“[1] seiner Bedeutung allerdings kaum gerecht. Der Sammelband gibt nun erstmalig einen tieferen Einblick in die vielfältigen Aspekte dieser vom Europarat unter dem Motto „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ ins Leben gerufenen und von 23 Ländern mitgetragenen Initiative. Thematisch gegliedert vereint er gut 50 Beiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache und beinhaltet zahlreiche Farb- und Schwarzweißabbildungen, die dem umfangreichen Band eine angenehme Leichtigkeit verleihen. Er erscheint in der Reihe "Monumenta", einem Programm von ICOMOS Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz, und versteht sich als Beitrag dazu, „die Potenziale der in der Geschichte angelegten, aber unerfüllt gebliebenen Zukunft zu bedenken“[2].
Die Herausgeber betrachten das Denkmalschutzjahr als Kristallisationspunkt komplexer „Wert- und Bewertungsverschiebungen, imprägniert vom Wandel der Leitideen und ablesbar an den realen Resultaten des Bedeutungswandels des kulturellen Erbes selbst.“[3] Der Zeitraum an der Schwelle zur Postmoderne ist durch politische, wissenschaftliche und architektonische Paradigmenwechsel gekennzeichnet, durch die Denkmale und Denkmalpflege einen neuen Stellenwert erhielten. Diesen Rahmen zu skizzieren ist mitnichten ein leichtes Unterfangen, der Umfang und die Vielseitigkeit des Bandes stehen jedoch für die Gewissenhaftigkeit, mit der das Vorhaben unternommen wurde. In fünf Kapiteln widmet sich das Buch unterschiedlichen Aspekten des Denkmalschutzjahres: 1. dem politischen und denkmalpflegerischen Kontext, 2. den Programmen und Debatten der einzelnen teilnehmenden Länder, 3. den osteuropäischen Ländern und deren Positionen, 4. der außereuropäischen Rezeption und 5. dem Nachleben des Denkmalschutzjahres. Bezüglich der Kontexte fassen Dieter Schnell, Maren Fürniß und Jean-Louis Luxen in ihren Beiträgen die damalige Situation der historischen Stadt und die Kampagne des Europarates zusammen. Dabei wird die Entstehung des Denkmalschutzjahres umfassend aufbereitet und erzählt. Miles Glendinning stellt es in einem interessanten Vergleich einer etwas bekannteren Initiative gegenüber: der etwa zur gleichen Zeit ins Leben gerufenen und in der Folge wesentlich einflussreicher gewordenen UNESCO-Welterbekonvention. Während sich letztere aufgrund ihrer Offenheit gegenüber Kommerz, Tourismus und postmodernen Denkmalkonzepten behaupten konnte, sei der Nachhall des Denkmalschutzjahres durch seinen eher konservativen Charakter relativ schnell verhallt. Glendinning sieht dies jedoch nicht zuletzt in der zunehmenden Erschütterung etablierter Denkmalwerte begründet.[4]
Die vielfältigen Beiträge zu den 13 teilnehmenden Ländern geben einen Einblick in verschiedene nationale Aspekte. Zu den thematischen Schwerpunkten gehören dabei die Publikationen und Begleitausstellungen sowie deren Rezeption, die Auswirkung auf die Restaurierung und die allgemeinen Folgen des Denkmalschutzjahres. Mit jeweils drei bzw. sechs Beiträgen sind Österreich und Deutschland am stärksten repräsentiert. Allgemein kann wohl konstatiert werden, dass die Zeit um 1975 einen Perspektivenwechsel mit sich brachte, der vor den damaligen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ein neues Licht auf die kulturelle Ressource Denkmal, insbesondere die europäische Altstadt warf und deren Potential in Abgrenzung zum als gescheitert begriffenen Städtebau der späten Moderne hervorhob. Neben neuartigen Denkmalkategorien und der Hinwendung zum alltäglichen und typischen innerhalb des architektonischen Erbes wurden jedoch auch Fragen an die Denkmalpflege als Wissenschaft und als Institution sowie an ihre gesellschaftliche Rolle gestellt. Ingrid Scheurmann greift die zeitgenössischen Erneuerungsgedanken der deutschen Denkmalpflege auf, die um 1975 unter dem Kredo der "Erweiterung" relativ uneindeutig innerhalb eines von der Objektart bis zur inhaltlichen Neuausrichtung reichenden Spektrums diskutiert wurden. Dabei sieht sie die Beschäftigung mit dem Denkmalschutzjahr als einen wertvollen Anknüpfungspunkt, um die seit Mitte der 1970er Jahre stagnierende historisch-kritische Positionsbestimmung der deutschen Denkmalpflege zu beleben. Die englischsprachigen Beiträge zur Türkei, zu Griechenland oder Schweden beleuchten der internationalen Leserschaft bislang wenig bekannte Seiten. In den Retrospektiven bestehen kaum Zweifel über den Nutzen der Initiative, allerdings scheint 1975 die gesamteuropäische Perspektive relativ kurz gekommen zu sein, wurde doch kaum über Ländergrenzen hinweg debattiert beziehungsweise kooperiert – die wichtigste Ausnahme diesbezüglich war in erster Linie der Europäische Denkmalschutzkongress in Amsterdam.
Die Perspektive der osteuropäischen Länder wird dem gegenwärtig so starken wissenschaftlichen Interesse an diesem Teil Europas gerecht. Die Beiträge reflektieren die zeitgenössischen Reaktionen auf die westliche Initiative. Sigrid Brandt setzt sich mit der unterlassenen Teilnahme der Ostblockstaaten am Denkmalschutzjahr bei gleichzeitig großem fachlichen Interesse daran auseinander. Mārtiņš Mintaurs widmet sich sogar der Abwesenheit des Jahres in der UdSSR, die lediglich durch Publikationen in Eigeninitiative interessierter Denkmalpfleger und Architekten durchbrochen wurde. Einziger Wermutstropfen ist das Fehlen eines polnischen Beitrags. Dafür wird in neun aufschlussreichen Beiträgen die außereuropäische Rezeption des Denkmaljahres reflektiert, von den USA über Südafrika bis nach China und Japan. In einigen Fällen (z.B. Japan) ist der spezifische Bezug zum Denkmalschutzjahr allerdings nur am Rande gegeben, überwogen hier doch eher die allgemeinen europäischen Entwicklungen, die natürlich nicht unabhängig vom Denkmalschutzjahr zu betrachten sind. In anderen Fällen, wie beispielsweise Michael A. Tomlans Beitrag über die USA verdeutlicht, hatte das Denkmalschutzjahr eine wertvolle Modellwirkung und gab Anregung zu politischer Unterstützung von Revitalisierungs- und Denkmalpflegeprogrammen.
40 Jahre nach dem Denkmalschutzjahr war dessen komplexe Betrachtung längst überfällig. Sie liegt nun in eindrucksvoller Weise vor und bietet eine lesenswerte und profunde wissenschaftliche Darstellung des historischen Ereignisses. Das im letzten Kapitel skizzierte Nachleben des Europäischen Denkmalschutzjahres wird sich wohl vor allem im vom Europäischen Parlament beschlossenen Europäischen Jahr des kulturellen Erbes 2018 verdeutlichen. Dabei kann es kaum noch um einen Popularitätsgewinn von Denkmalen, Erbe, Patrimoine oder Heritage gehen, sondern um die 1975 zu kurz gekommene gesamteuropäische Perspektive in Bezug auf ein gemeinsames Erbe sowie eine gesellschaftlich ausgerichtete Reflexion denkmalpflegerischer Grundsätze. Hierfür leistet der Band eine wertvolle Bestandsaufnahme und stellt wichtige Anknüpfungspunkte bereit.
Falser, Michael; Lipp, Wilfried (Hrsg.): Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Zum 40. Jubiläum des Europäischen Denkmalschutzjahres (1975–2015) (= Monumenta; 3), Berlin: Hendrik Bäßler Verlag 2015
ISBN-13: 978-3-945880-03-6, 674 Seiten, Festeinband : EUR 41.10 (AT), EUR 39.90 (DE)
Empfohlene Zitation:
Tino Mager: [Rezension zu:] Falser, Michael; Lipp, Wilfried (Hrsg.): Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Zum 40. Jubiläum des Europäischen Denkmalschutzjahres (1975–2015) (= Monumenta; 3), Berlin 2015. In: ArtHist.net, 12.07.2016. Letzter Zugriff 21.12.2024. <https://arthist.net/reviews/13464>.
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