Die Kunst der Moderne in der Donaumonarchie ist vielgestaltig veranlagt. Die künstlerischen Errungenschaften dieses Kulturraums haben dabei eine gemeinsame Quelle: die sogenannte Formkunst. Der Katalog der Ausstellung „Klimt, Kupka, Picasso und andere – Formkunst“, die bis zum 19. Juni des Jahres im Unteren Belvedere Wien gezeigt wird, verdeutlicht eindrucksvoll diesen bislang nicht hinreichend untersuchten Stellenwert einer Ausdrucksform, die eine breite pädagogische Basis hatte und das kollektive Bewusstsein gleichermaßen prägte. Die Beiträge in dem opulenten Begleitband, der mit „Kubismus-Konstruktivismus-Formkunst“ betitelt ist, untersuchen detailliert die Zusammenhänge, die zur Etablierung einer ungegenständlichen Kunst geführt haben. Enthalten sind Artikel zur Genese der Formkunst, zur Wiener Secession, dem Prager Kubismus oder der ungarischen Malerei. Analysen einzelner Künstler ergänzen die übergreifenden Ansätze. Durchgängig wird zudem auf die wechselseitigen Einflüsse der Zentren Wien, Prag und Budapest verwiesen. Im Mittelpunkt der Ausführungen stehen Malerei und Zeichnung sowie das Kunstgewerbe und die Spielzeugproduktion. Die länderübergreifende Kooperation der Ausstellung und des Katalogs wird im Vorwort explizit betont (S. 7) und dementsprechend ist ein internationales Autorenteam beteiligt.
Die Beiträge von Johannes Feichtinger und Alexander Klee behandeln gleichsam als Hintergrund die philosophisch-pädagogischen Grundlagen und die Entstehung der Formkunst als Voraussetzung moderner Kunstströmungen. Feichtinger widmet sich zunächst den Philosophen, die die Basis dieser neuen Wissenschaftslehre lieferten und zeichnet deren Traditionslinien nach. Hier ist vor allem Johann Friedrich Herbart (1776-1841) zu nennen, der durch seine philosophische Psychologie neue Verhältnisse zwischen subjektiven Erfahrungen und objektiven Wahrheiten erkundete (S. 9). Weitere Forscher verfolgten zudem pädagogische Anliegen und entwickelten objektivistische Kunstlehren, die sie mit der Aufgabe der sittlichen Charakterbildung verknüpften und so den Herbartianismus begründeten. Feichtinger beschreibt die Anliegen einer Ästhetik im Sinne einer exakten Wissenschaft und führt in die zeitgenössischen Kontroversen ein. Der Autor zeichnet die Entwicklungslinien einer Schönheitslehre nach, in der die Form im Mittelpunkt steht. An diese Ausführungen knüpft Alexander Klee unmittelbar an und nimmt Bezug auf die Begrifflichkeit der Formkunst sowie deren Quellen und Vorbedingungen. Auch Klee ordnet Herbart in den zeitgenössischen Diskurs ein (S. 17) und stellt dessen pädagogische Lehre, in der die mathematisch begründete Zeichenkunst wesentlich war, ins Zentrum. Der Fokus des Zeichenunterrichts lag fortan auf der geometrischen Trigonometrie und der Flächenanalyse. Geometrische Gebilde als Grundlage des Formschönen, Form- und Verhältnisbestimmungen waren die Basis (S. 18f.). Werke der Wiener Secession und der tschechischen Kubisten dienen als Beispiele für den Einfluss von Geometrisierung und Flächigkeit. Offensichtlich setzte sich die Form- im Gegensatz zur Gehaltsästhetik immer stärker durch. Eine Erkenntnis, die ein neues Licht auf die Werke vieler Künstler wirft, wie der Autor betont (S. 21). Die Ausbildung der Zeichenlehrer, Reformen im Bildungssystem und die zahlreich entstehenden Zeichenschulen sind weitere Schwerpunkte des Beitrags. Hand- und Lehrbücher sowie Vorlagenwerke mit geometrischen Formen und Ornamenten waren Grundlage für die Gestaltung. Beide Aufsätze verdeutlichen die Ursprünge der Formkunst und die damit verbundenden Besonderheiten in der Pädagogik. Der Begriff der Formkunst wurde zu einem charakteristischen Merkmal für die Kunstströmungen der Moderne in Österreich-Ungarn.
Weitere Aufsätze greifen regionale Besonderheiten auf. Vojtěch Lahoda untersucht den Kubismus in Prag und Krisztina Passuth die ungarische Malerei. Der interdisziplinäre Charakter des tschechischen Kubismus steht bei Lahoda im Mittelpunkt. Als eine „Neue Kunst“ charakterisiert, wurde die Form als Grundlage für das Kunstwerk ausschlaggebend. Geometrische Analysen in Malerei und Architektur wurden vorgenommen und die Auseinandersetzung mit den Alten Meistern sowie den außereuropäischen Kulturen wurde wichtig. Zudem wurde die Formensprache in theoretischen Schriften thematisiert. Ausführungen zu kubistischen Architekten (Pavel Janák, Vlastislav Hofman) ergänzen die Argumentation, dass sich der tschechische Kubismus als eine Art der Formkunst erklären lässt, auch wenn der Begriff selbst in den zahlreichen Texten der Kubisten nicht vorkommt (S.41). Lahoda setzt sich zudem dezidiert mit der Position von Emil Filla auseinander, der beispielhaft einen Kubismus hervorbringt und dessen überzeitliche Komponente betont (S.40f.). Dass die Verarbeitung des modernen Formverständnisses in Prag eher über einen visuellen Diskurs stattfand, wird vom Autor angemerkt.
Krisztina Passuth untersucht die Charakteristika der ungegenständlichen ungarischen Kunst der späten 1910er und frühen 1920er Jahre. Anhand von vier Fragekomplexen (S. 78f.), die die Autorin vor dem Hintergrund einiger Künstlerpersönlichkeiten beleuchtet (u.a. Béla Uitz, Lajos Kassák, Sándor Bortnyik, László Péri, Lajos Tihanyi), ergibt sich ein Gesamtbild, welches sich bezüglich der Ausbildungssituation sowie philosophischer und pädagogischer Grundlagen im gesamten Kulturraum ähnelt. Interessanterweise sind es vor allem die Künstler um Lajos Kassák und seine Zeitschrift „MA“ (1916-1925), welche die Form in ihren Werken deutlich betonen. Dass die Maler zu Beginn der 1920er Jahre überwiegend in Wien oder Berlin ansässig waren, verdeutlicht in gewisser Weise die Ausnahmestellung der ungarischen Künstler, die in Folge des Ersten Weltkriegs oft emigrieren mussten und eine geometrische Formkunst etwas später als in Wien oder Prag ihren Werken zu Grunde legten. Passuth gibt einen fundierten Einblick in die Struktur der Künstlerkontakte und in die Besonderheiten der ungarischen Malerei.
Zwei Einzelpositionen werden grundlegend in den Artikeln von Markéta Theinhardt und von Kerstin Jesse thematisiert. Theinhardt stellt detailliert den Werdegang von František Kupka und die verschiedenen Einflüsse dar, denen der Künstler ausgesetzt war. Kupka kam vor allem in seinen Lehrjahren mit dem Phänomen der „Formenlehre“ in Berührung (S.45). Angewandtes und freies Zeichnen sowie die Konstruktion von geometrischen Figuren und Ornamenten gehörten zu den Grundlagen der Ausbildung (S.46). Insbesondere Kupkas frühe Jahre sind geprägt durch ornamentale Arbeiten, die sich zu gegenstandslosen Werken entwickelten. Theinhardt wendet sich demzufolge auch dem „neuen František Kupka“ der 1910er Jahre und der Praxis der freien Entfaltung seiner Kunst zu. Sie beschließt ihre Analyse mit den 1920er Jahren, in denen Kupka u.a. eine Bekanntschaft mit Theo van Doesburg pflegte und seine eigenen Werke nach formalen (!) Aspekten katalogisierte (S.53).
Eine etwas über den eigentlichen zeitlichen Schwerpunkt des Projektes hinausgehende Darlegung einer Rezeption der Formkunst nach 1945 nimmt Kerstin Jesse in ihrem Beitrag über Fritz Wotruba vor. Ausführlich rekonstruiert die Autorin die künstlerische Ausbildung und das Umfeld von Wotruba. Es werden vor allem Werke der Bühnendekoration und der architektonischen Gestaltung nach 1945 betrachtet, wodurch die Bedeutung der Formkunst in den angewandten Künsten späterer Jahre sichtbar wird.
Aufschlussreiche Ausführungen in Bezug auf ästhetisches Spielzeug in Tschechien und Wien bieten die Texte von Helena Koenigsmarková und von Rainald Franz. Vor allem die Ursachen der Veränderung des Stils von Spielsachen, die damit verbundene Pädagogik und der Vergleich der Wiener Werkstätte mit dem tschechischen Pendant der Artěl Genossenschaft stehen im Mittelpunkt. Dass die Autoren die Entwicklung mit vielen einzigartigen Beispielen belegen, verdeutlicht die Wirkung der Formkunst auch in der Spielzeugproduktion. Die Entwicklung von Spielzeug in der Moderne stand vor ähnlichen Herausforderungen, wie die bildende Kunst und war einem Wandel seiner Aufgaben und Erscheinungsformen unterworfen. Einträglich werden etwa die Querbezüge zwischen Akademie und Kunstgewerbeschule und damit auch die Parallelen zwischen bildender und angewandter Kunst dargelegt. Nicht zuletzt verdeutlicht der Vergleich zwischen Wien und Prag einerseits eine ähnliche Realisierung der Spielsachen, andererseits aber auch gleichermaßen Probleme beim Absatz der Produkte.
Die Beiträge des Ausstellungskataloges erweitern die Forschung über die Kunst in Zentraleuropa mit ihren thematisch eng geführten Analysen um einen elementaren Blickpunkt: den Einfluss der Formkunst in der gestalterischen Praxis als ein Konzept der visuellen Ordnung und Orientierung. Ein Aspekt, der instruktiv die Formkunst als Grundlage eines divergierenden Kunstschaffens charakterisiert. Die Beiträge schließen sinnvoll aneinander an und die Darbietung der Inhalte ist sehr gelungen. Die Basis der spezifischen Pädagogik verdeutlicht auffallende Parallelen zwischen einzelnen Künstlerpersönlichkeiten bis hin zu verschiedenen Ausdrucksformen etwa der Wiener Secession, des Prager Kubismus oder der ungarischen Malerei. In der Vergangenheit sind diverse Monographien zu den erwähnten Themen erschienen – es ist aber das Verdienst der vorliegenden Publikation, diese kunstgeschichtlichen Stile und Strömungen in Beziehung zu setzen und deren Kontexte und Verwandtschaften offenzulegen. Auch wenn zeitgenössisch nicht immer von einer Formkunst gesprochen wurde, auch wenn der Umgang mit der Begrifflichkeit nicht immer als ganz einfach anzusehen ist, so wird doch deren philosophischer und vor allem pädagogischer Ansatz in der Donaumonarchie deutlich. Diese Gegebenheiten bieten Raum für weitere zukünftige Untersuchungen.
Husslein-Arco, Agnes; Klee, Alexander (Hrsg.): Kubismus, Konstruktivismus, Formkunst, München, London, New York: Prestel Verlag 2016
ISBN-13: 978-3-7913-5546-7, 311 S., EUR 49.95
Empfohlene Zitation:
Steffen Eigl: [Rezension zu:] Husslein-Arco, Agnes; Klee, Alexander (Hrsg.): Kubismus, Konstruktivismus, Formkunst, München, London, New York 2016. In: ArtHist.net, 12.06.2016. Letzter Zugriff 21.12.2024. <https://arthist.net/reviews/13246>.
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