REV-CONF 08.04.2016

Material Culture

Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 25.–28.02.2016

Bericht von Susan Tipton, LMU München
Redaktion: Rainer Donandt

Material Culture – Neue Forschungen zu Präsenz und Sichtbarkeit von Künstlern, Zünften und Bruderschaften in der Vormoderne.
Tagung des EU-Projekts "artifex" (ERC) im ZI München.

Wie Künstler in der Frühen Neuzeit die „Corporate Identity“ von Gilden und Bruderschaften im öffentlichen Raum sichtbar machten – das war vom 25. bis 28. Februar Thema lebhafter Diskussionen auf der Tagung im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Eingeladen hatte das EU-Projekt „artifex“ (ERC), das sich unter der Leitung von Andreas Tacke (Universität Trier) der Künstlersozialgeschichte verschrieben hat, Quellen zur Künstlerausbildung und zur Organisation von Malern in Zünften und Bruderschaften in der Frühen Neuzeit sammelt und den „Antagonismus“ zwischen rigidem Zunftsystem und modernem Akademiebetrieb differenziert hinterfragt (http://www.kuenstlersozialgeschichte-trier.de). Für den Blick auf die materielle Kultur der Vormoderne erwies sich das Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte als idealer Partner (http://www.rdklabor.de). Für die interdisziplinäre und überregionale Perspektive sorgte die Besetzung der Session Chairs mit Kunsthistorikern, Historikern und Kulturanthropologen, Vertretern von Universitäten, Kunstakademien, Museen, Denkmalpflege und Museum Studies, die das artifex-Team um Andreas Tacke, Birgit Ulrike Münch und Dagmar Eichberger (alle Trier) und das RDK um Wolfgang Augustyn aufgeboten hatten. „Dinge sind Zeichen und Zeugen, Objekte sind Wissensspeicher – für kulturelle Techniken, Traditionen der Nutzung, die visuelle Erfahrung, den soziokulturellen Zusammenhang. Im einzelnen Objekt ist die gesamte Kultur mit enthalten“, fasste die Historikerin Sabine von Heusinger (Köln) in ihrer Einführung das Thema zusammen.

Die rund 20 Vorträge waren fünf übergreifenden Sektionen zugeordnet, die sich gegenseitig ergänzten: Sektion 1 beleuchtete als Fallbeispiel den Stadtraum „Antwerpen als Bühne für Künstler und Zünfte“ und legte dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Lukasgilde, in der Maler, Bildhauer und Kupferstecher vereint waren, sowie deren Selbstdarstellung in unterschiedlichen Bildmedien und Aktionsräumen: in Zunftkapellen, Gildelokalen und Künstlerhäusern. Sektion 2 warf einen Blick auf „Gilden und Bruderschaften als Auftraggeber“ und deren Repräsentation als Gruppe: im Gruppenporträt und in Prozessionen im öffentlichen Raum. Die facettenreiche Sektion 3 „Konkurrenz im Kirchenschiff“ hätte als Querschnittsthema durchaus eine eigene Tagung verdient; Sektion 4 und 5 schließlich standen unter dem Motto: „Zünfte und Repräsentation“ und vereinten unter den Stichworten „Das marginalisierte Objekt“ und „Gemalte Bildräume“ faszinierende Fallstudien aus dem profanen und kirchlichen Bereich: von der Fassadenmalerei der Zunfthäuser und der Innenausstattung von Gildekapellen bis zum Malstock als Signet des Künstlers.

Die lebhafte Diskussion zeigte, dass sich die Öffnung des Blicks über die Grenzen einzelner Fachdisziplinen, Sprach- und Ländergrenzen hinweg lohnt; insbesondere die sogenannten marginalisierten Objekte sorgten hier immer wieder für Überraschungen. Als fruchtbar erwiesen sich insbesondere auch die Querschnittsfragen: nach regionalen Zentren (Antwerpen, Basel), nach Bautypen und Bauaufgaben (Zunfthäuser, Zunftkapellen), die Rekonstruktion von Objekt- und Funktionszusammenhängen (Ausstattung von Gildelokalen, Festen und Prozessionen), historischen Bruchlinien (vor und nach der Reformation bzw. der Reorganisation sozialer Aufgaben durch die Kommunen). Deutlich wurde auch die Notwendigkeit, die Objekte, ihre Auftraggeber und insbesondere die Geschichte der „Künstlergilden“ nicht nur im thematischen Querschnitt, sondern auch im historischen Längsschnitt zu betrachten, die Phänomene vom Spätmittelalter bis zum Ende des Ançien Régime zu denken und gelegentlich sogar darüber hinaus.

In ihrem Festvortrag warf Suraiya Faroqhi (München/Istanbul) einen Blick auf ein verwandtes Phänomen im Osmanischen Reich: Handwerkerprozessionen mit aufwändigen Festwagen und lebensgroßen Schaupuppen: Zwischen 1582 und 1720 in illustrierten Festbüchern und Berichten auswärtiger Reiseschriftsteller überliefert, z. B. anlässlich der Beschneidungsfeier eines Prinzen in Istanbul, ist anhand der Quellen bisher nicht zu entscheiden, ob sie auf Befehl des Sultans oder Eigeninitiative der Kunsthandwerker beruhen.

Sektion I: Antwerpen, eines der großen europäischen Wirtschafts- und Kunstzentren des 16. Jahrhunderts, stand im Zentrum des ersten Themenblocks: Dan Ewing (Barry University Miami) konzentrierte sich auf die Antwerpener Lukasgilde und die Darstellung ihres Gildepatrons in unterschiedlichen bildkünstlerischen Medien und für wechselnde Funktionen (Gildekapelle, Altar, Zunftlokal) sowie auf die Rolle der Dekane als Auftraggeber und Stifter. Die Architekturhistorikerin Petra Maclot (Antwerpen) zeigte anhand der sogenannten Gildehäuser am Großen Markt und einzelner Künstlerhäuser, wie der Rathausneubau von 1565 die Anpassung der spätmittelalterlichen Hausfassaden all’antica als neues Statussymbol beförderte. Beatrijs Wolters van der Wey (Antwerpen) fragte anhand ausgewählter Beispiele aus Brüssel (Marmorbrunnen des Gabriel Grupello für die Fischerzunft), Antwerpen (Anatomen-Gilde) und Haarlem (Schützengilde) nach dem heute meist unter verschiedenen Kulturinstitutionen aufgeteilten Inventar von Gilden und Korporationen, wobei sie nicht zwischen Berufsgenossenschaften, religiösen Bruderschaften und Militia-Gilden unterschied. Als neues Mittel der Visualisierung haben sich hier neuerdings CAD-Rekonstruktionen auf der Basis von Inventaren etabliert, die den wissenschaftlichen Diskurs stimulieren, aber doch im besten Sinne des Wortes „Science Fiction“ bleiben und deshalb – wie in der Diskussion angeregt wurde – in Unterscheidung zu den Artefakten auch eine kritische Reflexion und ein entsprechendes „Labelling“ einfordern.

Sektion 2: Ein weiterer Themenblock widmete sich dem niederländischen Gruppenporträt, im 15. Jahrhundert ein neues Mittel der Identifikation von Zünften, Gilden und Bruderschaften, das sich vorwiegend an den Außenseiten von Altären findet (Ingrid Falque, Louvain): Wie begehrt dieser Platz war, zeigt exemplarisch die juristische Auseinandersetzungen um einen Altar von Aert van den Bossche, der hier die Bildnisse wichtiger Bruderschafts-Mitglieder nachträglich einarbeiten musste. Das Nachbearbeiten von Gruppenporträts ist auch ein zentraler Befund auf dem Altar der Haarlemer Johanniter-Bruderschaft mit der Translatio der Reliquien Johannes des Täufers von der Hand des Laienbruders Geertgen tot Sint Jans (Wien), den Henry Martin Luttikhuizen (Calvin College, Michigan) analysierte: Der „Inner Circle“ des Hospitalsordens wurde hier nachträglich durch assoziierte Mitglieder und Unterstützer aus dem kommunalen Umfeld erweitert.

Im öffentlichen Raum waren Korporationen vor allem bei Prozessionen präsent. In Mittelitalien lebte die Tradition religiöser Bruderschaften – wie die der Santissima Annunziata in Perugia - vom späten Mittelalter bis in die Zeit des Faschismus ungebrochen fort (Pascal Rihouet, Rhode Island): Das Banner mit der Verkündigung an Maria (Niccolò di Liberatore, um 1460, Galleria Nazionale dell’Umbria) wurde wie ein Altarbild in einem Renaissancerahmen aufbewahrt (heute in S. Maria Nuova), die bewegliche Figur des toten Christus bis zur Karwoche in einer bemalten Grabtruhe verwahrt und als wundertätig verehrt. In den kalvinistischen Generalstaaten hingegen wurde das altetablierte System der Sozialfürsorge durch religiöse Bruderschaften im 16. Jahrhunderts von den Kommunen übernommen: das zeigte Megan Blocksom (University of Kansas) in einer subtilen Analyse des großformatigen Gemäldes der Prozession der Leprosen am Koppermaandag, dem Montag nach Epiphanias (Adriaen van Nieulandt, 1633, Amsterdam Museum), aus dem Leprosenhaus.

Sektion 3: Unter dem Stichwort „Konkurrenz im Kirchenschiff“ zeigte Stefan Bürger (Würzburg) in einem faktenreichen Überblick über den Kirchenbau der Spätgotik in Sachsen die Vielfalt der Möglichkeiten bürgerlicher Korporationen, sich mittels Architektur (in Halle, Geithain, Delitzsch, Görlitz, Zwickau und Annaberg), Kapellen- und Altarstiftungen (in Annaberg) oder Zunftgestühl (in Freiberg) in der Sozialtopographie der Stadt zu positionieren: Es gilt „die Kirche als Bild“ zu lesen. Im Anschluss boten die beiden prominent platzierten Selbstbildnisse des Dombaumeister Anton Pilgram (1511-1515) an Kanzelfuß und Orgelempore im Wiener Stephansdom reichlich Stoff zur Diskussion (Signifikanz von Bildtypus, Anbringungsort, Blickrichtung und Kleidung): Philipp Zitzlsperger (Berlin) deutete sie im Verweis auf einen Rechtsstreit zwischen der Steinmetzbruderschaft und dem Stadtrat, den erst Kaiser Maximilian durch einen Vergleich beilegen konnte, und mit Blick auf das Kostüm als Akt der Selbstdarstellung des umstrittenen „Zugereisten“. Gábor Enrõdi (Budapest/München) dagegen konzentrierte sich auf die Geschichte der Steinmetzzunft und das Nachleben des Anton Pilgram: Er konnte Signatur und Datum „M.A.P. 1513“ unterhalb des Baumeisterbildnisses am Orgelfuß und die Polychromie der Büste als eine späte Würdigung des 17. Jahrhunderts identifizieren und ein barockes Büstenpaar des legendären Zunftgründers und des Dombaumeisters Pilgram im Besitz der Innung als „Geschichtsfälschung“ bzw. Teil der Erinnerungskultur verorten, eine Antwort auf die Konkurrenz italienischer Steinmetzen, die seit der Übersiedlung des Kaiserhofes nach Wien 1612 neue Bautraditionen über die Alpen trugen. Die Gründungsphase der Florentiner Zeichenakademie und die Neuorganisation der Künstlerzunft in Florenz beleuchtete im Folgenden Matthijs Jonker (Amsterdam) anhand der Sitzungsprotokolle der Accademia di San Luca: Sie haben zwischen 1563 und 1579 die Lukaskapelle im ehemaligen Kapitelhaus der Servitenkirche Santissima Annunziata nicht nur mit einer programmatischen Neuausstattung versehen und als Begräbnisort prominenter Künstler (Cellini) genutzt, sondern auch ganz profan als Sitzungssaal.

Sektion 4: Als buchstäblich unterbelichtetes Thema identifizierte Vera Henkelmann (Eschweiler) das Beleuchtungswesen der Bruderschaften und Zünfte im Spätmittelalter. Die Kostbarkeit des Bienenwachses machte Kerzen zu einem der teuersten Ausstattungsstücke; Wachs taucht deshalb als Zahlungsmittel – als Spende, Mitgliedsbeitrag oder Strafe – stets in deren Statuten auf. Erhalten sind ortsfeste und mobile Beleuchtungsträger: Leuchterbalken (prominent im Chorumhang des Kölner Domes) oder aufwändig geschnitzt und von namhaften Künstlern signiert wie die Marienleuchter (in Kalkar, Kempten oder Erkelenz) als Stiftung von Marienbruderschaften. An der Decke von Zunfthäusern hingen sogen. Leuchterweibchen. Zur Ausstattung von Zunfthäusern gehörten, wie Jens Kremb (Bonn) demonstrierte, auch runde Wappenscheiben, die er vor allem in Südwestdeutschland (einzigartig der Bestand im Rathaus von Ravensburg) und der Schweiz identifizieren konnte. Von der Forschung übersehen war bisher auch der Malstock als sinnstiftendes Utensil der Maler (Audrey Ginoux, Lyon): Vittore Carpaccio nutze ihn an prominenter Stelle zur Anbringung eines Zettels mit seiner Signatur (Venedig, Accademia) und in den Händen malender Monarchen des Absolutismus wurde er zum Zeichen kreativer Schöpferkraft. Marc Jacobs (Brüssel) umriss den Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik Belgiens seit 2000 und die Renaissance der Stadtmuseeen am Beispiel des Bijlokemuseums in Gent, angeregt durch Pascal Gielen (Kleine dramaturgie voor een artefactenstoet: omtrent ‚Gent culturstad‘ , Gent 2000) und François Hartog (Regimes of Historicity: Presentism and Experiences of Time, 2003/2015) und die neubelebte Diskussion um das immaterielle kulturelle Erbe.

Sektion 5: Martin Roland (Wien) demonstrierte wie illuminierte Urkunden, die zumeist einen Rechtsstatus verbriefen, Realien ins Bild setzen: die Urkunde der Lübecker Zirkelherren (um 1485) zeigt deren Collane als Zeichen der Selbstvergewisserung einer städtischen Elite im patrizisch verfassten Lübeck, Bruderschaften bevorzugten die Vita ihres Schutzpatrons, und in London wollte im 15. Jh. jeder „Club“ eine reich illuminierte Urkunde an die Wand hängen. Michael Roth (Berlin) unternahm einen erneuten Anlauf, um den Geheimnissen der sogenannten Augsburger Malerbildnisse auf die Spur zu kommen: einer Folge von 20 gezeichneten Bildnissen der Dürerzeit mit der Signatur „BB“, die aufgrund von Künstlernamen und Ortsangaben als zusammenhängende Gruppe (Bildnisse Augsburger Malergesellen oder ein Freundschaftsalbum) gedeutet wurden. Seine systematische Übersicht über alle Blätter, die nahsichtige Analyse und die Rückverfolgung der Konvolute (12 Berlin, 4 Danzig, 2 Hamburg, 1 Kopenhagen, 1 Weimar) bis ins 18. Jahrhundert eröffneten den Weg zu einer lebhaften Diskussion um die Deutung der Aufschriften auf den Rückseiten als Preisangaben und eine mögliche spätere Zusammenstellung als retrospektive Konstruktion von Zunftgeschichte. Die Fallstudie von Martin Möhle (Basel) zur Fassadenmalerei am Zunfthaus der Schmiede im reformierten und zünftisch regierten Basel und deren Bezug zur Dekoration des Rathauses beleuchtete exemplarisch den Reichtum der materiellen Überlieferung der Zünfte in der Schweiz; hier haben die Zünfte bis weit ins 19. Jahrhundert auch politisch eine aktive Rolle gespielt.

Insgesamt beleuchtete die Tagung die Rolle der Künstler als Akteure im städtischen Raum und Teil der korporativen Welt der frühneuzeitlichen Kommunen aus unterschiedlichster Perspektive, öffnete den Blick auch auf unerwartete Themen (wie die „Erinnerungskultur“ der Zünfte), und lieferte damit reichlich Stoff für weiterführende Fragen.

Empfohlene Zitation:
Susan Tipton: [Tagungsbericht zu:] Material Culture (Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 25.–28.02.2016). In: ArtHist.net, 08.04.2016. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/12548>.

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