REV 05.05.2006

Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900

Rezensiert von Frank Schmitz, Uni Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar
Redaktion: Claudia Sedlarz

Angesichts einer Fülle von Veröffentlichungen zur Architektur des 20. Jahrhunderts weckt der Titel des neuen Buchs von Wolfgang Pehnt die Befürchtung, man erhalte etwa nur eine Kompilation allseits bekannter Namen, Bauten und Strömungen. Weitere Bedenken schürt das Vorwort, indem Pehnt deutlich macht, dass einige Kapitel des Buches auf eigene Aufsätze oder Monografien zurückgehen. Man fühlt sich an die zahlreichen Autoren – vor allem Journalisten – erinnert, die ihre Artikel unter irgendeinem Thema zusammenstellen und so ein Buch zustande bringen.

Anders bei Pehnt. Ihm gelingt es, aus den unterschiedlichen Kapiteln ein homogenes Ganzes zusammenzufügen. Dabei sind die Abschnitte gegeneinander klar abgegrenzt und ihre Themen und Schwerpunkte gut gewählt. Nichts wäre langweiliger, als wenn sich der Autor ausschließlich an der Zeitschiene „entlanggehangelt“ hätte. Er fokussiert die Kapitel aber auf ganz unterschiedliche Gegenstände und garantiert eine abwechslungsreiche Lektüre: Mal lenkt er das Augenmerk auf eine Stadt („Hauptstadt der Deutschen“), mal wird er politisch („Wettstreit der Systeme“), mal wählt er einen Zeitabschnitt als Kapitelüberschrift („Happy fifties“), mal untersucht er Baugattungen („Villa und Landhaus“). Dass gleichzeitig die Chronologie der Ereignisse gewahrt bleibt und alle wesentlichen Architekten und Schlüsselbauten in dem Buch vorkommen, kann als kompositorische Meisterleistung gelten.

Schon der Einstieg mit dem Beginn des Jahrhunderts ist originell gewählt: Statt langer Vorreden zur Geschichte der Reformarchitektur um 1900 und deren Vorläufern präsentiert Pehnt eine kurzweilige Zeitschriftenschau, in der er untersucht, mit welchen Themen die wichtigsten Architekturblätter ihr erstes Heft im neuen Jahrhundert aufgemacht haben. Die Bilanz muss ernüchternd ausfallen, wie der Blick etwa in das „Centralblatt der Bauverwaltung“ beweist: Unter der hoffnungsvollen Überschrift „Eine Zukunftsbetrachtung“ fand der Leser lediglich einen Beitrag über „Schienenstoß und Achsenzahl der Güterwagen“.

Im Folgenden knüpft Pehnt weitgehend an bekannte Lesarten an: der schwülstige wilhelminische Neobarock wird von den frühen Reformern überwunden, etwa mit den Bauten der Darmstädter Künstlerkolonie, den englischen Landhäusern oder den modernen Industriebauten. Zu den Erneuerungen eines Heinrich Tessenow, Hermann Muthesius oder Peter Behrens lässt sich angesichts guter Forschungsarbeiten wenig Neues sagen. Doch Pehnt zeichnet die Ideen und Motive der Reformer sehr anschaulich nach, etwa wenn er die Vorbildwirkung des Palazzo Pitti auf die Architektur um 1910 schildert. Das kraftvolle Rustikamauerwerk hatte es Architekten wie Erich Mendelsohn oder Fritz Schumacher angetan und fand im so genannten „Zyklopenstil“ vielfache Adaptionen. So ist etwa Paul Bonatz’ Stuttgarter Hauptbahnhof (1911-28) ein „Palazzo Pitti des Eisenbahnzeitalters“ genannt worden.

Bereits in den ersten Kapiteln zeigt sich eine der Stärken des Buches: Seine Abbildungen. Pehnt wählte zahlreiche Illustrationen, auch bei den älteren Bauten sind es häufig farbige Bilder in ausgezeichneter Qualität. Die Mischung von zeitgenössischen und aktuellen Fotos, ergänzt durch Skizzen, Buchtitel, Grundrisse und Lagepläne ist abwechslungsreich und kurzweilig. Hervorragend ist die Auswahl der Objekte, denn das Buch verzeichnet neben den üblichen Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts zahlreiche weniger bekannte Bauten wie das seltene Beispiel eines Wasserkraftwerks in Jugendstil-Formen (1904 in Heimbach/Nordeifel). Wie glücklich die Bilder gewählt sind, zeigt sich etwa am Beispiel des Wettbewerbs zum Bismarck-Nationaldenkmal auf der Elisenhöhe bei Bingen (1910). Statt des berühmten Entwurfs von Mies van der Rohe zeigt Pehnt zwei furiose Beiträge kaum bekannter Architekten, die jedoch in ihrer Monumentalität dem Mies-Entwurf nicht nachstehen.

Während der Kanon der wichtigsten Bauten und Entwerfer bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in der Forschung weitgehend festgeschrieben ist, begibt sich Pehnt mit der Nachkriegsarchitektur – und vor allem mit dem aktuellen Baugeschehen – auf ein weniger gesichertes Terrain. Auch wenn hier manche Strömungen benannt sind, viele ¼euvres gewürdigt und eingeordnet sind, stehen viele Wertungen noch aus. Pehnt gelingt eine vorurteilsfreie Darstellung, die Plattenbauten der 1960er und 70er Jahre ebenso einbezieht wie die trivialen Shoppingmalls der jüngsten Vergangenheit.
Unvermeidliches wie die Feuerwehrwache von Zaha Hadid (1991-93 in Weil am Rhein) oder die Allianz Arena von Herzog und de Meuron (2002-05 in München) steht auch hier neben wenig Bekanntem wie dem bunkerhaften Einfamilienhaus der Architekten Bottega und Ehrhardt (2001/02 in Ludwigsburg). Spätestens die Tribüne der Formel-1-Rennstrecke in Shanghai (2000-04) von den Architekten Tilke und Wahl wirft die Frage auf, was eigentlich die „Deutsche Architektur“ ist, die im Buchtitel angekündigt wird. Bauten in Deutschland, Architektur von deutschen Entwerfern? Im Kapitel „Import und Export“ schildert Pehnt den internationalen Architektenaustausch, der seit den sechziger Jahren (in der Bundesrepublik) verstärkt aufkam, beginnend mit skandinavischen Baumeistern wie Alvar Aalto und Arne Jacobsen.

Der Journalist und Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt ist als Rundfunkredakteur und FAZ-Autor ausgewiesen, derzeit lehrt er Baugeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Seine journalistische Prägung ist auch dem jüngsten Buch anzumerken, und zwar im besten Sinne. Es ist flüssig geschrieben, anschaulich, manchmal feuilletonistisch. Wenn Pehnt etwa über die Berliner Friedrichstraße schreibt, sie habe vor dem Zweiten Weltkrieg „mehr Lokale als Hausnummern“ gehabt, so ist eine ganze Atmosphäre in wenigen Worten vor Augen gestellt. Journalistisch ist auch die Meinungsfreudigkeit, durch die sich Pehnt von vielen Architekturhistorikern unterscheidet. Gelegentlich jedoch äußert der Autor Wertungen ohne Begründung, etwa wenn er über das Beisheim-Center am Potsdamer Platz in Berlin ausruft: „Über die Bauten an der Nordseite des Platzes: kein Wort.“ Gerade wenn man Pehnts Meinung teilt, wüsste man gern, was er an den Neo-Art-Déco-Hochhäusern auszusetzen hat.

Bleibt die Frage nach der Zielgruppe des Buches. Pehnt zeichnet eine ausgewogene, kanonische Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, die – trotz dezidierter Meinungsäußerungen – nur selten die Forschung gegen den Strich bürstet. Fachleute dürften vieles Bekannte bestätigt finden und dennoch wird kaum jemand behaupten können, er habe alle vorgestellten Bauten und alle beschriebenen Strömungen bereits gekannt. Der Band eignet sich durch die attraktive Aufmachung und den reellen Verkaufspreis nicht zuletzt für ein breiteres Publikum, das an moderner Architektur und Stadtbaukunst interessiert ist. Auch als Lehrbuch im Architektur- oder Kunstgeschichtsstudium könnte es seinen Platz finden.

Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2005
ISBN-10: 3-421-03438-9, 592 S

Empfohlene Zitation:
Frank Schmitz: [Rezension zu:] Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900, München 2005. In: ArtHist.net, 05.05.2006. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/122>.

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