REV-EX 02.04.2011

Else Lasker-Schüler. Die Bilder (Frankfurt M./ Berlin)

Jüdisches Museum, Frankfurt am Main, 08.09.2010–09.01.2011
Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof-Museum für Gegenwart, Berlin, January 21 - May 1, 2011.

Rezensiert von Viktoria Schmidt-Linsenhoff
Redaktion: Steffen Haug
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Die Übernahme einer Ausstellung ist in der Regel mit Modifikationen verbunden, die den unterschiedlichen, räumlichen Gegebenheiten am Ort der verschiedenen Stationen Rechnung tragen. Im Fall der Ausstellung "Else Lasker-Schüler. Die Bilder", die von Ricarda Dick für das Jüdische Museum Frankfurt konzipiert und von der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof/Museum für Gegenwart übernommen wurde, war über diese Sachzwänge hinaus ein Perspektivenwechsel der Institutionen zu erwarten. Im Jüdischen Museum ging es vorrangig um die Wiederentdeckung einer verfolgten, jüdischen Künstlerin, im Hamburger Bahnhof um die ästhetische Gegenwart ihrer Arbeiten.

Während Else Lasker-Schülers Bedeutung für die deutsch-jüdische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts nach 1945 wieder Anerkennung fand, wurde ihr zeichnerisches Werk bei der Rehabilitierung der "Entarteten Künstler" vergessen. Ausstellung und Katalog rekonstruieren also ein Oeuvre, das der Nationalsozialismus aus öffentlichen Sammlungen entfernt, zerstreut und teilweise vernichtet hatte. Das für die Ausstellung erstellte Werkverzeichnis (235 Handzeichnungen, 112 gedruckte Illustrationen) sichert einen Korpus, über den auf dieser Grundlage wieder diskutiert werden kann. Leider verzichtet die Verfasserin des im übrigen überaus sorgfältig gearbeiteten Kataloges auf Literaturangaben, so daß der vorliegende Forschungsstand zu den einzelnen Arbeiten nicht verfügbar gemacht wird.[1] Die Essays von Ricarda Dick und Astrid Schmetterling stellen zwei kontroverse Interpretationsansätze vor, deren parallele Lektüre umso lohnenswerter ist, als die Ausstellung einseitig denjenigen von Ricarda Dick abbildet. In der zweiten Station der Ausstellung in Berlin ging es weniger um Rekonstruktion und Rehabilitierung, als um den Ort der Zeichnungen im Kanon der Klassischen Moderne. Udo Kittelmann, der Direktor der Nationalgalerie, hatte bereits im MMK in Frankfurt mit bemerkenswerten Ausstellungen zu Außenseitern des Betriebs (Hans Josephsohn, Miroslav Tichy), die Aus- und Einschlüsse des Kanons problematisiert. Die Übernahme der Ausstellung aus dem Jüdischen Museum in die Berliner Nationalgalerie, die bis 1936 rund hundert Blätter von Lasker-Schüler besaß, ist nicht so sehr als eine verspätete Geste der Wiedergutmachung von Interesse, sondern als ein Experiment zur Problematik des Kanons. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: In einer Zeit, in der populistische Buch- und Ausstellungsprodukte zum deutschen Expressionismus den Markt überschwemmen, fasziniert der ästhetische Eigensinn von Lasker-Schülers Zeichnungen, die sich der Wieder-Erkennbarkeit formaler Stilklischees entziehen. Die Verwendung von minoritären Materialien, das Skizzenhafte und Fragmentarische vieler Blätter und ihrer gemalten Kartengrüße an Franz Marc hatten zu dem Verdikt des Dilettantismus geführt. Daß gerade diese Momente jetzt als künstlerische Eigenständigkeit erkennbar werden, ist das Verdienst der Ausstellung im Hamburger Bahnhof. Die Blätter faszinieren, weil sie mit den normierten Qualitäts-Siegeln der Klassischen Moderne nicht erfaßt werden können und deshalb die Urteilsfähigkeit des Publikums ernsthaft herausfordern. Im Vergleich mit den verwinkelten Räumen im Frankfurter Rothschildpalais erlaubte die Ausstellungsarchitektur in Berlin eine großzügigere Hängung. Diese bringt nicht nur die Logik der thematisch gruppierten Serien und Sequenzen besser zur Geltung, sondern auch die grafische Qualität der einzelnen Blätter.

Im übrigen folgte der Kurator der Berliner Version (Dieter Scholz) bedauerlicherweise den inszenatorischen Vorgaben des Jüdischen Museums in Frankfurt. Die Exponate wurden an beiden Orten in jenes mystifizierende Dunkel getaucht, das man aus altmodischen, ethnologischen Museen unangenehm in Erinnerung hat. Konservatorische Gründe konnte die Verdunkelung nicht haben, da die fragilen Arbeiten auf Papier dem grellen Licht von Punktstrahlern ausgesetzt werden. Die Entscheidung für eine 'black box' war - wer immer sie getroffen hat - die Entscheidung für eine kunsthistorische Interpretation. Sie erklärte die bekritzelten Briefumschläge und Buntstiftzeichnungen auf Abreißzetteln und Telegrammformularen, die illustrierten Umschläge der graublauen und braunen Hefte, in denen Lasker-Schülers Gesamtwerk 1919/20 bei Cassirer erschien, die beiläufigen Skizzen auf Postkarten und Papierschnipseln zu Kostbarkeiten, die wie Schmuckstücke im Futteral der Schwärze einer ehrfürchtigen Betrachtung dargeboten wurden. So begrüßenswert eine Inszenierung der Aufwertung des unterschätzten zeichnerischen Oeuvres von Lasker-Schüler auch ist, so problematisch sind die Nebenwirkungen der eingesetzten Mittel. Die bedrückende Stimmung einer dumpfen Grabkammer legt sich wie Mehltau auf eine übermütig übersprudelnde Bildphantasie, deren festliches Funkeln und verspielte Selbstironie sie erstickte. Der getragene bis tragische Grundton des Ausstellungsdesigns ist Lasker-Schülers Kunstbegriff des 'Spiels' ebenso unangemessen, wie der sinnlichen Vitalität der Zeichnungen. Die Inszenierung bekräftigt jedoch äußerst wirksam die zentrale These der Ausstellung: die der ägyptischen Einflüsse.

Ricarda Dick erläutert sie im Katalog - im Anschluß an Irit Salmon (1997) - unter Berufung auf die Ausstellung der Grabungsfunde von Tell el-Amar in der ägyptischen Sammlung des Berliner Neuen Museums 1913. Eine Kopie der Stuckmaske von Amenophis IV (um 1355 vor Chr.) wird als unmittelbares Vorbild des Jussuf-Profils präsentiert, das Lasker-Schüler 1913 formulierte und bis zu ihrem Lebensende 1945 als pikturale Signatur verwendete. Die Gleichsetzung des jugendlich-androgynen Profils des ägyptischen Herrschers mit Lasker-Schülers Jussuf-Varianten ist nicht allein wegen der psychologisierenden Beschreibung verfehlt; von der Formstrenge der eleganten Hofkunst führt kein Weg zu der Impulsivität des grafischen Duktus, mit dem die Künstlerin ihre Spielfigur affektiv auflädt. Ist die vage, formale Ähnlichkeit zwischen der ägyptischen Skulptur und den nervösen, grafischen Kürzeln nahezu unerheblich für deren Verständnis, so führt die Ableitung von Lasker-Schülers Kompositionsprinzipien von ägyptischen Wandmalereien und Kalksteinreliefs vollends in die Irre. Serialisierung und Verzicht auf perspektivische Raumdarstellung sind Allgemeingut der künstlerischen Avantgarde, deren spezifische Verwendung bei Lasker-Schüler zu untersuchen wäre, die sich jedoch schwerlich als ägyptischer Einfluß erklärt.

Die suggestive Gegenüberstellung von zwei Fotografien im identischen Großformat stimmt das Publikum am Anfang der Ausstellung mit der ganzen Wucht visueller Evidenz auf diesen Leitgedanken ein. Die berühmte Fotografie der Künstlerin im Rollenspiel des "Prinzen von Theben" wird zum Echo eines Reliefs aus dem Grab des Generals Ria aus Memphis (19. Dynastie), das eine ebenfalls im Profil nach links gewendete Figur mit einer ähnlichen Arm- und Bein-Haltung zeigt. Diese Methode der fotografischen Konstruktion von visuellen Analogien zwischen der Moderne und archaischen oder außereuropäischen Bildwerken, zwischen stark stilisierten Kunstwerken und Porträtfotografien war von Paul Schultze-Naumburgs "Kunst und Rasse" (1928) bis hin zu der legendären Ausstellung "Primitivism and modern art in the 20th century" (1985) im New Yorker MOMA weit verbreitet. Die gründliche Ideologie- und Medienkritik, die das Verfahren anläßlich dieser Ausstellung gefunden hat, macht seinen naiven Einsatz heute unmöglich. Die fotografisch hergestellte, formale Ähnlichkeit zwischen der Performanz einer Dichterin im Varietékostüm und einem ägyptischen Grabrelief läßt vergessen, daß sie allein dem kunsthistorischen Wunsch der Kuratorin nach ägyptischen Einflüssen entspringt. Dieser kuratorische Wunsch ist so stark, daß die Ausstellung andere Quellen und Bezüge, die die Katalog- und Wandtexte keinesfalls verschweigen, nicht visualisiert und aus der Wahrnehmung des Publikums ausblendet. In der Ausstellung kommen der triviale Orientalismus in Zirkus, Varieté und Kientop, Hagenbecks Völkerschauen und das kulturindustrielle Ägypten im Berliner Lunapark, dem Lasker-Schüler auf den ersten Seiten von "Mein Herz" (1912) ein wunderschönes, literarisches Denkmal gesetzt hat, nicht vor. Dem spielerischen Umgang mit visuellen Stereotypen des Kolonialrassismus entsprechen groteske Wortschöpfungen wie "Amenophisindianer" oder Bildtitel wie "Jussuf empfängt die Tellerköpfe, einen von Freitag entdeckten Stamm". Die künstlerische Strategie der ironischen Dekonstruktion von Kategorien des Rassismus und Exotismus klingt zwar in den Katalog- und Ausstellungstexten an, wird jedoch von der Ausstellungsinszenierung negiert. Tatsächlich macht die zeichnerische Auflösung der signifizierenden Gewalt von stereotypen Bildern durch Wiederholung und Variation, Überbietung und Übertreibung das kritische Potential von Lasker-Schülers Orientalismus aus.

Die Primitivismus-Kritik der vergangenen Jahrzehnte hat die Problematik der kunsthistorischen Suche nach formalen Vorbildern der Avantgarde in konkreten Werken aus archaischen oder primitiven Kulturen erschöpfend dargelegt. Bemerkenswert ist nicht mehr die Tatsache, daß sich die Künstler der fotografisch verfügbar gemachten Weltkunst bedienten, sondern welche Absichten sie damit verfolgten und welche Effekte sie erzeugten. Ricarda Dick betont zu Recht die Verwandtschaft der Piktogramme und phonetischen Zeichen, die Lasker-Schüler seit 1907 in ihre Briefe einstreut, mit der ägyptischen Hieroglyphenschrift und weist mit philologischer Sorgfalt Bezüge zu religionsgeschichtlichen Diskursen der Mythenforschung und Esoterik nach. Tatsächlich erwähnt Lasker-Schüler in dem Essay "Wie ich zum Zeichnen kam" (1927), in dem sie ihre Zeichenkunst aus der Handschrift ableitet, die Hieroglyphen und hatte bereits 1913 in "Mein Herz" das Jussuf-Bild (des Textes) als "egyptische Arabeske" und "Königshieroglyph" bezeichnet, um seinen nicht-mimetischen Charakter zu betonen. Die Verweise beziehen sich jedoch keineswegs auf konkrete Bildwerke, die sie sich als Zeichnerin zum Vorbild genommen hätte. Die ägyptische Fetischkunst steht bei Lasker-Schüler nicht für formale Stilbildung, sondern für einen poetischen Bildbegriff in der Tradition der romantischen Idee einer universellen Ursprache. Die ägyptische Hieroglyphenschrift ist für ihren Bildbegriff bedeutsam, weil sie die Hierarchie kognitiver Text / sinnliches Bild aufhebt. Die Vorstellung einer poetischen Bilderschrift, die Schrift und Bild, Signifikat und Signifikant gleichrangig interagieren läßt, hat viele Künstlerinnen beschäftigt, mit denen Lasker-Schüler keine formalen, wohl aber konzeptuelle Ähnlichkeiten verbindet - wie z.B. Marianne Werefkin in ihren Skizzen- und Tagebüchern, Warwara Stepanowas gemalte Schriftplakate und Charlotte Salomons "Leben oder Theater" bezeugen.

Die Fixierung auf formale Analogien hat den Interpretationshorizont der Ausstellung unzulässig verengt und die Komplexität der konzeptuellen Bezüge von Lasker-Schülers Zeichnungen zur zeitgenössischen Kunst und visuellen Populärkultur reduziert. Während der Katalogbeitrag von Astrid Schmetterling Lasker-Schülers Positionen im kulturpolitischen Spektrum der jüdischen Diaspora in Berlin und Palästina differenziert darstellt, bleiben auch diese Zusammenhänge aus der Ausstellung ausgeklammert. Fast ist es, als ob sich die visuelle Argumentation auf die ägyptischen Einflüsse versteift, um nicht von den politischen Implikationen des zionistischen Bibel-Orientalismus am Anfang des Jahrhunderts, von dem kolonialkulturellen Rassismus in den zwanziger Jahren und dem zeichnerischen Entwurf eines multikulturellen Palästina kurz vor der Gründung des Staates Israels sprechen zu müssen. Daß Lasker-Schüler in den Zeichnungen, die im Umkreis des Buches "Das Hebräerland" in den dreißiger Jahren entstanden, die Orientierung des neuen Nationalstaates am okzidentalen Fortschrittsmodell ablehnte, macht ihre auf den ersten Blick stilistisch altmodischen Zeichnungen heute aktuell. Leider blendet die interpretierende Inszenierung der Ausstellung auch diese politische Aktualität zu Gunsten einer obsolet gewordenen Einfluß-Kunstgeschichte aus. Die Gradlinigkeit, mit der sie ihre 'ägyptische These' vertritt, ist jedoch gleichwohl verdienstvoll: sie fordert zum Widerspruch heraus und wird die Diskussion beflügeln.

Anmerkung:
[1] Zum Beispiel die Kommentare von Peter-Klaus Schuster, Franz Marc - Else Lasker-Schüler, Karten und Briefe, München 1987, sowie detaillierte Einzelanalysen in: Ausst.-Kat "I and I. Drawings by Else Lasker-Schüler", Israel Museum, Jerusalem 1997, und Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Else Lasker-Schülers Orient, in: dies., Ästhetik der Differenz, Marburg 2010.

Dick, Ricarda (Hrsg.): Else Lasker-Schüler. Die Bilder, Berlin: Suhrkamp Verlag 2010
ISBN-13: 978-3-633-54246-8, 303 S., ca. EUR 30.00, ca. EUR 30.90

Empfohlene Zitation:
Viktoria Schmidt-Linsenhoff: [Rezension zu:] Else Lasker-Schüler. Die Bilder (Frankfurt M./ Berlin) (Jüdisches Museum, Frankfurt am Main, 08.09.2010–09.01.2011). In: ArtHist.net, 02.04.2011. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/1157>.

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