Cornelia Jöchner, Lehrstuhlinhaberin für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum, verbindet in ihrer Habilitationsschrift, die ab 1996 im Kontext des Graduiertenkollegs „Politische Ikonographie / Stadt“ entstand, drei verschiedene Anliegen. Zum ersten will sie ein Thema ins rechte Licht rücken, das bisher zu wenig beachtet wurde: Die Entfestigung der europäischen Stadt seit dem 18. Jh. als gestalterischen Prozess zu verstehen, der die bis dahin rigiden Grenzen der Räume intra und extra muros neu bestimmt, diese miteinander verknüpft und dadurch umgeformt habe (S. 11, 14).
Zum zweiten möchte sie die getrennte Betrachtung der drei architektonischen Elemente Stadt- bzw. Landschaftsraum, Außen- und Innenarchitektur zusammenführen und mithilfe älterer, in ihrem analytischen Potenzial unterschätzter Methoden der „formalistischen Kunstwissenschaft“ ([sic!], S. 13f.) zum Sprechen bringen. Hierbei werden mit den Raum-Theoretikern August Schmarsow (1853-1936), Fritz Schumacher (1869-1947), Herman Sörgel (1885-1952) oder Erich Hubala (1920-1994) durchaus prominente Vertreter ihres Fachs angeführt, die sich im Zusammenhang des sog. „Spatial turn“ seit einigen Jahren wieder gesteigerter Wertschätzung und Aufmerksamkeit erfreuen.[1]
Fragestellung und Methodik sollen zum dritten am Gegenstand der monographischen Untersuchung zweier architektonischer Projekte in Turin erprobt werden, welche durch ein Jahrhundert getrennt sind: Dem Bau der Votivkirche Superga durch Filippo Juvarra unter König Vittorio Amedeo II. (1716-1731) sowie der Anlage der Piazza Vittorio Emmanuele und der Kirche Gran Madre di Dio am Ufer des Pò (1825-1830).
Jöchner verzichtet verständlicherweise darauf, die Stadtbaugeschichte Turins und die politische Entwicklung Savoyens ausführlich nachzuzeichnen (S. 23-38), gehört doch die piemontesische Hauptstadt spätestens seit Albert Erich Brinckmann[2] zu den bestuntersuchten und bekanntesten Exempeln der Frühneuzeitforschung. Ihr Anliegen ist es nicht, bisher unbekannte Fakten vorzulegen oder neue Quellen zu erschließen, sondern eine gestaltbezogene Interpretation unter dem Blickwinkel der „gebauten Entfestigung als Architekturen der Öffnung“[3] zu entwickeln (S. 11-21). Beide Begriffe sind freilich eher metaphorisch zu verstehen, denn das eigentliche Thema des Bandes ist keineswegs die Schleifung der Festungsmauern Turins – diese waren vielmehr um 1700 noch einmal verstärkt und ausgebaut worden (S. 44), sondern die ab 1700 verstärkt zu verzeichnende Weitung der gestalterischen Perspektive über die Stadtgrenzen hinweg auf die Einbeziehung des Umlandes in einen einheitlichen, optisch mithilfe von Sichtachsen durchgestalteten Herrschaftsraum – diese Feststellung zählt freilich zu den Gemeinplätzen der Barockforschung und wurde auch und gerade am Beispiel Turins seit Jahrzehnten exemplifiziert.[4]
Der erste Hauptgegenstand Jöchners, weit außerhalb der Stadtgrenzen errichtet und daher nur bedingt als Element der „Entfestigung“ zu verstehen, ist eine klosterartige, an den Escorial gemahnende Votivstiftung auf dem Superga-Hügel östlich von Turin. Der (von Jöchner stark relativierten) Legende nach traf Vittorio Amedeo von dieser optisch hervorgehobenen Stelle aus jene strategischen Entscheidungen, welche zur Befreiung Turins von der französischen Belagerung 1706 und damit indirekt zur Rangerhöhung des Hauses Savoyen zur königlichen Dynastie führten, indem es 1713 zunächst Sizilien, ab 1720 dann im Gebietstausch Sardinien erwarb (S. 39ff). Aus Dankbarkeit ließ der Stifter ab 1716 jenen Berg, auf dem er in einer kleinen Marienwallfahrtskirche um den Sieg gebetet hatte, durch seinen frisch aus Rom berufenen Hofarchitekten Filippo Juvarra (1678-1736) [5] zu einem Hauptwerk der europäischen Sakralarchitektur des Spätbarocks umgestalten.
Jöchners Analyse der Superga (S. 39-194, Zusammenfassung auf S. 190-194) fokussiert weder auf die Bau- und Planungsgeschichte noch auf die Kontextualisierung des Projektes innerhalb der Repräsentationsstrategien des ersten savoyischen Königs, wie dies Elisabeth Wünsche-Werdehausen in ihrer Habilitationsschrift tut[6], sondern legt eine in vielen Punkten überzeugende, streng formale Analyse des Raumkunstwerks in seinem landschaftlichen Kontext vor. Es gelingt ihr, den Gesamtzusammenhang des Entwurfs als „Anschauungsraum“ vom Fernblick aus der Ebene Turins über die mehransichtig-komplexe „Schauseite“ der Kirche bis zu Details der Innengestaltung schlüssig darzulegen und (unter Berücksichtigung der Besucherperspektive) als eine Verschmelzung entgegengesetzter Bewegungsrichtungen zu deuten: So erschließe die für einen Zentralbau auffällig stark betonte Tiefenachse der Kirche den historischen Zusammenhang von Votum und Votivbau, während die Rotunde des Hauptraums programmatisch als „gebaute Höhe“ zu deuten sei, da sie einen ungewöhnlich entschiedenen Vertikalzug aufweise, welcher zugleich die Erhebung des Bauherren in den Königsrang thematisiere.[7]
Der Text verweist, wie es der im besten Sinne eklektisch angelegten Architektur Juvarras entspricht, auf zahlreiche europäische Vorbilder und Parallelbeispiele, verzichtet aber andererseits auf detailliertere Vergleiche zu bestimmten Bauten, deren eingehende Betrachtung in diesem Zusammenhang naheliegend, ja zwingend erscheinen könnte, um die Eigenarten der Superga herauszuarbeiten. So werden die beiden bedeutendsten hochbarocken Zentralräume Turins, die Kirchen S. Lorenzo und die Sindone-Kapelle des Doms, Hauptwerke des Juvarra-Vorgängers Guarino Guarini (1624-1683), überhaupt nicht als Vergleich oder Vorbild in Erwägung gezogen, obwohl bestimmte formale Elemente wie die konvex in den Raum schwingenden Serlianen des Kuppeltambours (S. 115, Abb. 80) zweifellos auf diese lokalen Bezüge zurückzuführen sind.
Um die Spezifika der Turiner Lösung herauszuarbeiten, hätte außerdem ein genauer Blick auf die „Parallelaktionen“ des Wiener Verbündeten der Savoyer im Spanischen Erbfolgekrieg, Kaiser Karls VI. nahegelegen. Dessen Projekte, die in vergleichbar bevorzugter landschaftlicher Lage nahe der Hauptstadt initiierte Escorial-Paraphrase Klosterneuburg sowie die Karl-Borromäus-Kirche in der Stadt selbst, böten erstaunlich viele und vielsagende Parallelen. Besonders der letztgenannte Bau Fischers von Erlach, im gleichen Jahr 1716 begonnen, könnte in viel wörtlicherem Sinne als „gebaute Entfestigung“ gedeutet werden, wurde er doch jenseits des Glacis der (nach 1683 anscheinend nicht mehr limitierend verstandenen) innerstädtischen Bastionen Wiens in direkter Blickverbindung zur Hofburg errichtet. Die formale Verwandtschaft beider Entwürfe, stark von der Bernini-Nachfolge der römischen Akademie um Carlo Fontana geprägt, ist so auffällig, dass gerade aus raumanalytischer Sicht eine detaillierte Gegenüberstellung aufschlussreich gewesen wäre.[8]
Ein weiteres Anliegen der Verfasserin ist die Wiederbelebung zahlreicher, aus der Raumtheorie des letzten Jahrhunderts entlehnter Wortschöpfungen (z.B. „Wirkungsbezugsraum“, „Raumgestalt“, „Zeigfeld“, „Vorne-Raum“, „Architektur des Horizonts“, „Körper-Grund-Konstellation“, „Darstellungsform“), deren erkenntnisleitende Notwendigkeit und hermeneutische Praktikabilität sich dem Rezensenten freilich nicht durchgängig erschließt. So wird z.B. die Piazza Vittorio Emmanuele neben dem für Jöchners Deutung zentralen Terminus „Aktionsraum“ auch mit den nicht wirklich scharf zu unterscheidenden Begriffen „Eingangsplatz“, „Chronotopische Struktur“ und „Wegraum“ charakterisiert – offensichtlich beschreiben die vielfältigen Termini ein- und dieselbe städtebauliche Situation unter jeweils leicht variierenden Aspekten.
Das zweite Hauptbeispiel des Buches (S. 195-322), die Neuanlage eines großen, zum Po hin abfallenden Platzes am Ostrand der Stadt mit dem Neubau einer Kirche als Point de vue auf dem anderen Flussufer, kann dann im Wortsinn als „Gebaute Entfestigung“ verstanden werden. Napoleon hatte nach dem Sieg von Marengo infolge der Integration der annektierten Territorien des Hauses Savoyen in sein neugeschaffenes Regno italico im Jahr 1800 die Schleifung der Festungsmauern Turins und den Bau der ersten steinernen Brücke über den Fluss verfügt. Kaum fertiggestellt, diente sie 1814 dem Einzug der ihr zurückgewonnenes Territorium erneut in Besitz nehmenden piemontesischen Dynastie. Zum Gedenken an die Restauration wurde daher am östlichen Brückenkopf als epochentypische Pantheon-Adaption ab 1818 die Rundkirche Gran Madre di Dio durch den Architekten Ferdinando Bonsignore (1760-1843) errichtet. Ab 1825 folgte die Neugestaltung des ehemaligen Glacis zwischen der barocken Stadttor-Exedra Guarinos und dem westlichen Brückenkopf durch einen großzügigen, einheitlich gestalteten straßenartigen Platz nach dem Entwurf Giuseppe Frizzis.
Cornelia Jöchner leitet die Gestalt der weitgehend uniformen Platzwände sehr überzeugend aus der Turiner städtebaulichen Tradition ab, betont aber auch die zeittypischen Eigenarten dieser spezifischen Lösung: So sind hier die Mitten der Langseiten durch Baublöcke mit vorspringenden Eckrisaliten betont, welche optisch auf die Portikus der Kirche am anderen Flussufer überleiten. Die äußerst schlüssige Deutung des Platzes als „Wegraum“ (S. 298-306) bestätigt das hermeneutische Potential der hierbei angewandten Methode. Jöchners Leitbegriff für das zugrundeliegende gestalterische Ideal des Klassizismus ist die „Wand als Masse“ (S. 277, im Gegensatz zur barocken „Raumschale“, S. 102).
Leider gelingt die Einbeziehung der Analyse des Kirchenbaus der Gran Madre di Dio (S. 277-298) in den Gesamtzusammenhang des Buches nicht im gleichen Maße, da die Autorin es den Lesenden selbst überlässt, Querbezüge und Parallelen mit der zuvor analysierten Superga zu identifizieren. So erscheinen manche Eigenarten der Turiner Pantheon-Variation, z.B. der überhöhte Tambour oder die Verschmelzung von Rotunde und griechischem Kreuz im Grundriss (Abb. 237-240) deutlich vom älteren Savoyischen Votivbau beeinflusst, was aber nicht weiter thematisiert wird: Die beiden Hauptkapitel sind hintereinander gereiht, nicht in einer vergleichenden Synthese aufeinander bezogen.
Die Studie fokussiert stark auf die ausgewählten Beispiele und Methoden, lässt aber andererseits naheliegendes unerwähnt: So verwundert z.B., warum das tertium comparationis für Superga und Gran Madre di Dio, die Kapuzinerkirche S. Maria al Monte (ebenfalls ein Zentralbau mit dominanter Kuppel!) [9], nicht in die Analyse miteinbezogen wurde, obwohl sie die Silhouette des Po-Ostufers bereits vor den beiden hier diskutierten Bauten unübersehbar prägte: Das ist auf zahlreichen Abbildungen des Bandes (Abb. 150-152, 263-265) deutlich abzulesen, wird aber nicht eingehend diskutiert (S. 186ff).
Die Ausstattung des Buches ist großzügig: Fast 300 Abbildungen auf Kunstdruckpapier im Format A5, wobei der Farbtafelteil freilich dieselben Motive zeigt, welche in Schwarzweiss schon den Text begleitet hatten. Die Fußnoten sind im Anhang separiert, was das Layout verschönt, aber zum beständigen Hin- und Herblättern nötigt.Ein abschließendes Urteil fällt nicht ganz leicht: Wer Turin noch nicht kennt, findet hier eine sehr überzeugende Analyse zweier wichtiger Baukomplexe dieses Paradebeispiels frühneuzeitlicher Stadtbaukunst. Ob der großangelegte terminologische Rückgriff auf die ältere Raumtheorie zu den Qualitäten des Buches entscheidend beiträgt, sei dahingestellt. Manchmal steht die Vielzahl der nur kurz thematisierten Vorbilder und Bezüge sowie die Vielfalt der auf ein und denselben Gegenstand angewandten konkurrierenden Termini einer eingehenden vergleichenden Perspektive eher im Weg. Das interessante Thema „Entfestigung“ bietet hier eher den lockeren Rahmen für die gut gelungene Deutung zweier hochsignifikanter Fallbeispiele; ausgeschöpft ist es damit keinesfalls.
Anmerkungen:
[1] Vergl. hierzu z.B. Wolfgang Kemp: Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009, bes. S. 115-166, rez. vom Verf. in http://www.arthist.net/reviews/268.
[2] Albert Erich Brinckmann, Luigi Rovere und Vittorio Viale: Juvarra, Mailand 1937 sowie ders., Theatrum Novum Pedemontii. Ideen, Entwürfe und Bauten von Guarini, Juvarra, Vittone wie anderen bedeutenden Architekten des piemontesischen Hochbarocks, Düsseldorf 1931.
[3] Vergl. hiermit die allerdings bei Jöchner nur marginal diskutierte Deutung der Turiner Baukunst des Spätbarock in Richard Pommer: Eighteenth-Century Architecture in Piedmont: The Open Structures of Juvarra, Alfieri and Vittone, London / New York 1966.
[4] Jöchner, S. 47, Abb. 20 reproduziert den bekannten Plan der Residenzenlandschaft um Turin von Leonardo Benevolo, der ähnliche Interpretationen „entfestigter“ barocker Hauptstädte, z.B. von Paris, bereits in seiner „Storia della città“ 1975 vorgelegt hatte.
[5] Zu Juvarra siehe zuletzt Paolo Cornaglia u.a. (Hrsg): Filippo Juvarra, 1678-1736, architetto dei Savoia, architetto in Europa, 2 Bde., Rom 2014, in dem Jöchner ihre Thesen zur Superga erstmals publizierte (Bd. I, S. 83-98).
[6] Elisabeth Wünsche-Werdehausen: Turin 1713 – 1730, die Kunstpolitik König Vittorio Amedeos II., Petersberg 2009, zur Superga S. 61-100 und 198-206.
[7] Der Fußring der Laterne ist in auffälliger Weise mit dem Namenszug des Stifters samt Königstitel geschmückt, siehe S. 113-117, Abb. 81.
[8] So finden sich viele von Jöchner an der Superga hervorgehobenen Eigenarten wie die beherrschende (in Wien ovale) Rotunde, die starke axiale Ausrichtung eines kreuzförmig-oktogonalen Zentralraumschemas, die Aushöhlung der Vierungspfeiler durch Emporen, der säulenbesetzte extrem hohe Kuppeltambour, die Säulenportikus, die „gebaute Höhe“ einer Rotunde ohne Pendentifs, die Mehransichtigkeit der Hauptfassade usw. genauso an der Karlskirche.
[9] Giacomo Soldati / Ascanio Vitozzi 1583-1590. Der auf einem die Stadtsilhouette beherrschenden Hügel gelegene Bau erlangte im Zusammenhang der ersten Belagerung Turins durch die Franzosen 1640 legendarische Bedeutung, und steht daher im unmittelbaren Bezug zu den beiden später in Sichtweite errichteten Siegeskirchen. Vgl. Micaela Viglino Davico: Ascanio Vitozzi, ingegnere militare, urbanista, architetto (1539-1615), Ponte San Giovanni 2003, S. 243-259.
Jöchner, Cornelia: Gebaute Entfestigung. Architekturen der Öffnung im Turin des frühen 18. und 19. Jahrhunderts (= Studien aus dem Warburg-Haus; 14), Berlin: De Gruyter 2014
ISBN-13: 978-3-11-034759-3, 470 p., EUR 99,95
Recommended Citation:
Meinrad von Engelberg: [Review of:] Jöchner, Cornelia: Gebaute Entfestigung. Architekturen der Öffnung im Turin des frühen 18. und 19. Jahrhunderts (= Studien aus dem Warburg-Haus; 14), Berlin 2014. In: ArtHist.net, Oct 2, 2015 (accessed Oct 15, 2024), <https://arthist.net/reviews/11139>.
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