Die „Einführung in die Kunstwissenschaft“ scheint zunächst aus dem Rahmen der hier besprochenen Bände heraus zu fallen. Weder hat sie zum Ziel, die Frage nach der Notwendigkeit einer interdisziplinären Bildwissenschaft zu beantworten, noch möchte sie die Position der Kunstgeschichte hierin bestimmen. Vielmehr geht es ihr primär darum, das Spektrum kunstgeschichtlicher Methoden und Fragestellungen anhand eines konkreten Gegenstandes – der Berliner Museumsinsel – aufzufächern. Die sechzehn Beiträge umspannen dabei im ersten, „Gegenstände und historische Ansätze“ betitelten Abschnitt so unterschiedliche Fragestellungen wie die nach der räumlichen Anlage der Museumsinsel (Ernst Seidl), der Gedächtnis- und Wissensfunktion von Museen (Wolfgang Ernst) oder der „Nationalgalerie als gendered space“ (Katharina Sykora). Im zweiten Teil des Bandes („Praxisfelder und Berufe“) entwickelt Susanne von Falkenhausen am Beispiel der Alten Nationalgalerie einen möglichen Fragenkatalog der universitären Kunstgeschichte und nimmt dabei unter anderem die historischen Entstehungsbedingungen für den kunstgeschichtlichen Kanon in den Blick. Der Inszenierung von Kunst im Museum und ihrem Zusammenhang mit der Definition von „Nation“ geht Françoise Forster-Hahn in drei Ausstellungen der Jahre 1876, 1906 und 1955 in der Alten Nationalgalerie nach, während Manfred Schuller anhand des Neuen Museums profunde Einblicke in das Arbeitsgebiet der Bauforschung liefert.
Schon an diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass die auf den ersten Blick vielleicht arbiträr wirkende Beschränkung auf den – zudem etwas diffusen – Gegenstand „Museumsinsel“ auf fruchtbare Weise genutzt wurde. Sie wird dabei gerade nicht zum „Meisterwerk der Kunstwissenschaft“ erhoben, wie es Peter-Klaus Schuster, Direktor der Staatlichen Museen zu Berlin, in seiner wortreichen Vorrede behauptet. Im Gegenteil ist es gerade die Doppelrolle der Museumsinsel als kritisch zu befragender Untersuchungsgegenstand wie auch als konstitutives Element für das Fach Kunstgeschichte, die hier sichtbar gemacht wird. Und fast nebenbei gelingt einigen Aufsätzen in diesem Band etwas sehr Eindrucksvolles: Die Notwendigkeit bildwissenschaftlicher Kompetenzen für die Kunstgeschichte selbst im Rahmen empirischer Fallstudien nachzuweisen.
Anschaulich führt dies Thomas Hensel anhand der Geschichte des vormals Rembrandt zugeschriebenen „Mann mit dem Goldhelm“ vor. Ein wesentliches Argument für die Aufsehen erregende Abschreibung – die Hensel im Übrigen nicht in Frage stellt – war die Analyse von Autoradiografien dieses Gemäldes. Dabei wies die durch dieses Verfahren sichtbar gemachte Unterzeichnung nicht die typischen „malerischen Qualitäten“ und die „differenzierte Führung“ des Pinselstrichs des Meisters auf – so der damalige Bericht.
Bei einer Autoradiografie werden die unterschiedlichen Farbpigmente durch Neutronenbeschuss zur Strahlung angeregt, diese Strahlung wird dann mit zeitlich gestaffelten Röntgenaufnahmen registriert. Die so entstandenen Bilder allerdings sind in höchstem Maße konstruiert: Sie zeigen immer Überlagerungen aus verschiedenen Pigmentstrahlungen und variieren je nach Expositionszeitraum und -dauer stark. Die Rede von der „Linienführung“ oder dem „Pinselstrich“ macht dann aber keinen Sinn, weil die vom Röntgenfilm registrierten Schwärzungen eben keinem je ausgeführten Pinselstrich entsprechen. Die Kunstgeschichte, die auf solche technischen Bilder in zunehmendem Maße angewiesen ist, muss sich – so Hensel – also zunächst selbst bildwissenschaftliche Kompetenzen aneignen, um die Differenz zwischen ihren Gegenständen und den sie repräsentierenden Artefakten nicht aus dem Auge zu verlieren.
Peter Geimer untersucht drei Messbilder der Museumsinsel aus dem frühen 20. Jh. Diese besondere Form der Fotografie ist schon deshalb interessant, weil in ihr die repräsentierten Bauwerke nach dem Willen des Erfinders der ‚Messbildkunst‘, Albrecht Meydenbauer, nicht nur dargestellt, sondern durch sie tatsächlich „zum großen Teil ersetzt“ (Meydenbauer) werden sollten. Der Fotografie wurde zugestanden, ein Bauwerk genauer und besser zu erfassen, als dies eine Betrachtung des Objektes vor Ort vermocht hätte. Während also in der denkmalpflegerischen Praxis der Gegenstand und sein Bild bewusst zusammenfielen, dividiert Geimer diese wieder auseinander, um die technischen, inszenatorischen und medialen Eigenschaften dieser Bilder – und damit die Differenz zwischen Bild und Gegenstand – offen zu legen. Dabei geht es ihm auch um den „visuellen Überschuss“ (S. 169) der Fotografien: Um jene kontingenten Bildelemente wie Spiegelungen, Fußabdrücke oder Schattenwürfealso, die nicht kontrollierbar sind, die Wahrnehmung der Bilder aber mitbestimmen. Das Brisante daran ist, dass eine Denkmalpflege, die ihren Gegenstand mit dessen Bildern gleichsetzt, immer nur vermeintlich über ihren Gegenstand spricht. Tatsächlich aber wird der Blick auf die Bauwerke wesentlich von den Eigenschaften des jeweiligen Bildmediums geleitet – und damit auch die Methoden, mit denen diese Bauwerke behandelt werden.
Von diesem Umstand handelt auch der Beitrag von Andreas Köstler, der sich den Berliner Gipsabgusssammlungen widmet. Eindrücklich beschreibt der Autor, wie sich erst durch die umfassenden Abgusssammlungen der Berliner Museen eine kontinuierliche Entwicklungsgeschichte der Kunst herauskristallisieren konnte. Dadurch, dass man die Lücken zwischen den vorhandenen originalen Skulpturen mit Abgüssen „aufgefüllt“ hatte,wurden die Sammlungen aber nicht nur ergänzt, sondern auch neu interpretiert. Köstler argumentiert überzeugend, dass die im 19. Jahrhundert entstehende Kunstgeschichte in Deutschland wesentliche methodische Impulse aus einer Ausstellungspraxis erhielt, die originale Kunstwerke und deren Simulacra gleichberechtigt nebeneinander stellte. Besonders die Stil- und Formgeschichte als prägende Methode der Kunstwissenschaft, aber auch die bis heute betriebene Datierung und Händescheidung anhand vergleichender Anschauung wäre ohne diese Konstellation kaum vorstellbar gewesen.
In einem Aufsatz für den (im Rahmen dieser Rezensionsreihe am 30.10.2005 ebenfalls besprochenen) Band „Iconic Turn“ haben Horst Bredekamp und Franziska Brons die Kunstgeschichte als „radikale Bildwissenschaft“ bezeichnet, die sich „von Beginn an“ kritisch mit neuen Bildmedien wie der Fotografie auseinandergesetzt habe. Dadurch unterscheide sie sich von naturwissenschaftlichen Fächern, die an „einer Kopplung von Bild und Gegenstand“ interessiert seien [1]. Die von Bredekamp und Brons zitierten Quellen allerdings lassen diesen privilegierten Zugang der Kunstgeschichte zu den Bildmedien nicht erkennen. Wenn etwa Wilhelm Lübke 1870 davon sprach, dass sich in den fotografischen Reproduktionen von Kunstwerken der „unmittelbare Niederschlag des ursprünglichen Werkes […] in voller Beseelung“ zeige, und Hermann Grimm fünf Jahre früher das Fotoalbum sogar als „vielleicht wichtiger heute als die größten Galerien von Originalen“ bezeichnete [2], dann ist das durchaus parallel zur Überschätzung der analytischen Möglichkeiten der Fotografie in den damaligen Naturwissenschaften zu sehen.
Wichtiger aber noch für die heutige Diskussion ist die durch den vorliegenden Band vermittelte Einsicht, dass die Situation für die Kunstgeschichte, bei der die durch Bilder repräsentierten Forschungsgegenstände oft selbst wieder Bilder sind, eine besondere Herausforderung darstellt. All zu groß mag die Versuchung sein, aus dem Fachwissen über die einen Bilder automatisch eine Kompetenz für die anderen Bilder abzuleiten. Tatsächlich verdankt die Kunstgeschichte einige ihrer wichtigsten Methoden gerade jener – pragmatisch gesehen ja oftmals auch sinnvollen – Gleichsetzung von Gegenstand und bildlicher Repräsentation, die sie heute den Naturwissenschaftlern vorhält [3]. Damit machen die besprochenen Autoren auf einen Punkt aufmerksam, der im Gerangel um die Führungsrolle in der entstehenden Bildwissenschaft manchmal unterzugehen droht: Die Kunstwissenschaft muss sich, wie andere Fächer auch, die Kompetenz für viele Bildmedien erst noch erarbeiten. Dass sie dies heute bereits in vorbildlicher Weise tut und dabei auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen setzt, ist unumstritten [4]; dass sie weiterhin durch ihre historisch erworbene Bildkompetenz tatsächlich die besten Aussichten hat, eine umfassende Bildwissenschaft zu werden, zeigen nicht zuletzt die Beiträge des hier besprochenen Bandes.
Als „Einführung“ bezeichnet, pflegt dieser anspruchsvolle Sammelband ein Understatement, welches sich von den programmatischen Ankündigungen der überall sprießenden Bildwissenschaften wohltuend abhebt. Einer Einführung gerecht wird allerdings die durchgängig präzise und somit verständliche Sprache, wodurch der Band sich auch Einsteigern durchaus empfiehlt.
Anmerkungen:
[1] Horst Bredekamp u. Franziska Brons, Fotografie als Medium der Wissenschaft. Kunstgeschichte, Biologie und das Elend der Illustration, in: Christa Maar u. Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 365-381.
[2] Wilhelm Lübke, Photographien nach Gemälden des Louvre, in: Kunst-Chronik, Bd. 5 (1870), S. 45-46; Hermann Grimm, Über Künstler und Kunstwerke, Jg. 1, Februar 1865, S. 38. Beide Quellen hier zitiert nach Bredkamp/Brons (siehe Anm. 1). S. 368.
[3] Wiebke Ratzeburg hat diesen Aspekt für das Medium der Fotografie herausgearbeitet: Danach konnte sich die Fotografie als Reproduktionsmittel für Kunstwerke erst durchsetzen, nachdem ihr „objektiver“ Status feststand. Der Einsatz der Fotografie in der Kunstgeschichte ist somit im Rahmen ihrer Annäherung an naturwissenschaftliche Fächer zu verstehen. Gleichzeitig wurden – und hier argumentiert Ratzeburg ähnlich wie Andreas Köstler im vorliegenden Band – die wichtigsten Methoden der Kunstgeschichte, nämlich Stilgeschichte und Ikonographie, wesentlich durch die erst mittels der Fotografie möglichen vergleichenden Anschauung der Kunstwerke geprägt. Wiebke Ratzeburg, Mediendiskussion im 19. Jahrhundert. Wie die Kunstgeschichte ihre wissenschaftliche Grundlage in der Fotografie fand, in: Kritische Berichte 1/2002 (Jg. 30), S. 22-40.
[4] Ein Beispiel hierfür ist das Forschungsprojekt „Das technische Bild“, das seit 2000 als Teil des „Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik“ an der HU Berlin die spezifischen Eigenschaften technisch hergestellter Bilder untersucht (www2.hu-berlin.de/kulturtechnik/); ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Das epistemische Bild“ im Rahmen des NCCR „Iconic Criticsm“ an der Universität Basel und der ETH Zürich (www.eikones.ch).
Hensel, Thomas; Köstler, Andreas (Hrsg.): Einführung in die Kunstwissenschaft, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2005
ISBN-10: 3-496-01271-4, 364 S.
Recommended Citation:
Jan von Brevern: [Review of:] Hensel, Thomas; Köstler, Andreas (Hrsg.): Einführung in die Kunstwissenschaft, Berlin 2005. In: ArtHist.net, Nov 17, 2005 (accessed Dec 30, 2024), <https://arthist.net/reviews/104>.
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