REV 21.07.2007

Sammelrezension: Kunstgeschichten nach 1945

Rezensiert von Steinkamp Maike
Redaktion: Claudia Sedlarz
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Erst in den letzten Jahren wurde im Fach Kunstgeschichte intensiver damit begonnen, die künstlerischen, kunsttheoretischen und kulturpolitischen Entwicklungen in Deutschland direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges näher zu untersuchen. Während sich die Geschichtswissenschaft bereits seit langem mit der historischen Aufarbeitung der Besatzungszeit und den (kultur-) politischen Anfängen in der Bundesrepublik und DDR beschäftigt, hat die Kunstgeschichte hier noch einigen Nachholbedarf. [1] Es ist kaum zu glauben, dass man sich bei seinen Recherchen zu diesem Themenbereich vielfach noch immer auf die grundlegenden Forschungen von Jutta Held über Kunst- und Kulturpolitik zwischen 1945 und 1949 aus dem Jahr 1985 stützen muss. Diese bedürfen jedoch, allein auf Grund der nach dem Mauerfall neu zugänglichen Quellen, einer dringenden Aktualisierung und kritischen Einordnung. [2] Nachdem sich die kunsthistorische Forschung in den letzten Jahren vor allem für die Aufarbeitung der NS-Zeit engagiert hat, widmen sich nun zwei 2006 erschienene Aufsatzbände unter unterschiedlichen Gesichtspunkten der Kunst und Kunstgeschichte nach 1945.

Mit dem wissenschaftlichen Neubeginn beziehungsweise den Kontinuitäten in der westdeutschen Kunstgeschichte nach dem Ende des NS-Regimes beschäftigt sich die in der Reihe Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte erschienene Publikation „Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland“. Der Aufsatzband ist aus einer 2004 veranstalteten Tagung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Bonn hervorgegangen, die sich – nachdem die Auswirkungen der NS-Diktatur auf das Fach Kunstgeschichte unter anderem vom Bonner Institut in den letzten Jahren verstärkt erforscht worden sind – der Kunsthistoriographie nach 1945 zugewandt hat. [3] Begrüßenswert ist die Frage nach personellen, institutionellen, thematischen und methodischen Brüchen aber auch Kontinuitäten in der kunstgeschichtlichen Forschung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, welche die lange Zeit beschworene „Stunde Null“ aber auch die isolierte Betrachtung der Jahre 1933 bis 1945 endgültig aufhebt. Ein Manko – auf das die Herausgeber in ihrem Vorwort selbst hinweisen – ist jedoch, dass sich der Band fast ausschließlich auf die westdeutschen Entwicklungen der Kunstgeschichte beschränkt. Einzig ein Exkurs auf die „Allgemeine Deutsche Kunstausstellung“ in Dresden 1946 (Kathleen Schröter) wirft ein schlaglichtartiges Licht auf die Kunst- und Ausstellungspolitik in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Dabei hätte gerade die Betrachtung der unterschiedlichen kunsthistorischen Diskurse und methodischen Ansätze in Ost und West einen interessanten Einblick in die durch Abgrenzung bestimmte deutsch-deutsche Kunst und Kunstgeschichte gegeben. [4] Doch auch ohne diese vergleichende Sicht ist der vorliegende Aufsatzband ein erster wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Kunstgeschichte nach 1945. Neben methodischen und thematischen Aspekten, nehmen die Autoren der insgesamt sechzehn Aufsätze auch die Kultur- und Personalpolitik der ersten Nachkriegsjahre ins Visier. So belegt Christian Fuhrmeister anhand der konträr verlaufenden Karriereverläufe zweier Münchner Kunsthistoriker, wie personalpolitische Entscheidungen einerseits den Einstieg des Remigranten Ernst Strauss in den deutschen Universitätsbetrieb systematisch blockierten, während andererseits der Nationalsozialist Hugo Kehrer seine Karriere nach 1945 ungehindert fortsetzen konnte.

Doch es sind vor allem die Fortschreibungen beziehungsweise der Rückgriff und die Aktualisierung von methodischen Ansätzen, deren Aufarbeitung zu den Stärken des Buches gehört. Während Karin Hellwig beispielsweise nachweist, dass die während des Nationalsozialismus populäre Künstlerbiografie bis in die 1960er Jahre mit ähnlicher Künstlerauswahl und methodischer/ideologischer Ausrichtung fortbestand, belegt Sabine Fastert, wie das während der 1920er Jahre entwickelte Generationenmodell Wilhelm Pinders trotz der Stellung des Kunsthistorikers im NS, nach 1945 nicht zuletzt für die Verteidigung der Moderne und gegen das lineare Verfallsmodells Hans Sedlmayrs herangezogen wurde. Dass Sedlmayrs kulturpessimistischer Ansatz und die Reaktivierung von konservativen Denkmustern der Vorkriegszeit keine Einzelfälle waren, zeigt Andreas Zeisig in seinem Beitrag über den Kunstschriftsteller Karl Scheffler und dessen Essay „Phantom der Großstadt“. Auf den direkten Einfluss solchen Gedankengutes auf städtebauliche Planungen der Nachkriegszeit weist Sandra Wagner-Conzelmann hin. Diese Kontinuität von Denkmustern steht auch im Zentrum des Beitrags von Olaf Peters, der Rudolf Schlichters kulturkritisch-konservative Schrift „Das Abendteuer in der Kunst“ (1949) näher in Augenschein nimmt. An ihr analysiert er die zeitspezifische Kontroverse um das Menschenbild der Zeit. Dass auch ein Befürworter der Abstraktion wie Willi Baumeister Versatzstücke kunsthistorischer, philosophischer, ethnologischer Diskurse des ersten Jahrhundertdrittels in seiner kunsttheoretischen Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ verwendet, die teilweise in der Ideologie des Nationalsozialismus eine Konjunktur erlebt hatten, belegt Susanne Leeb in ihrem Aufsatz. Generell wird der Rolle der Abstraktion in der Publikation breiter Raum zugesprochen, was sich nicht zuletzt aus dem, die Zeit bestimmenden, kunsttheoretischen Diskurs und der damit in Zusammenhang stehenden Definition einer „neuen deutschen Kunst“ nach 1945 erklären lässt. Dorothee Wimmer, Gregor Wedekind, Christoph Zuschlag und Martin Schieder näheren sich unter verschiedenen Gesichtspunkten diesem Themenbereich. Während Wimmer beispielsweise die prägende Stellung der Zeitschrift „Das Kunstwerk“ bei der Etablierung der abstrakten Kunst als Inbegriff der künstlerischen Freiheit herausstellt (in Abgrenzung zu den Entwicklungen in der DDR), thematisiert Zuschlag anhand des bisher wenig beachteten Leverkusener Gesprächs von 1956 den Versuch, die ungegenständliche deutsche Kunst in den Kontext der internationalen (westlichen) Moderne einzubinden. Um die Propagierung eines freiheitlichen, modernen deutschen Kunstschaffens ging es – wie Schieder aufzeigt – nicht zuletzt auch bei der Gründung des deutsch-französischen Publikationsorgans „Cahiers d'Art“, das unter anderem dazu beitragen sollte, die deutsch-französischen Kunstbeziehungen zu reaktivieren und das Bild von einer rückständigen und missbrauchten deutschen Kunst zu korrigieren.

Um die deutsch-französischen Kunstbeziehungen nach 1945 geht es denn auch in dem von Martin Schieder und Isabell Ewig herausgegebene Band „In die Freiheit geworfen. Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945“. Die ebenfalls 2006 erschienene Aufsatzsammlung ist aus zwei am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris veranstalteten Kolloquien hervorgegangen, die im Rahmen des dort angesiedelten Forschungsprojektes zur „Französischen Kunst im Nachkriegsdeutschland – Deutsche Moderne in Frankreich nach 1945“ veranstaltet wurden. Der Band zeigt unterschiedliche Aspekte des deutsch-französischen Kunst- und Kulturtransfers nach 1945 auf und verdeutlich eindrücklich dessen Relevanz. Wie Thomas W. Gaehtgens in seinem Vorwort herausstellt, war dieser „Transfer“ zunächst eher einseitig, was mit den unterschiedlichen historischen „Ausgangspositionen“ aber auch in der „Vormachtstellung“ begründet lag, die man der französischen Kunst zusprach. Die Deutschen suchten die Moderne in Frankreich. Französische Künstler nahmen hingegen nur vereinzelt Notiz von den Entwicklungen in der deutschen Kunst.

Dass die Renaissance der deutsch-französischen Beziehungen nicht zuletzt Politik und Diplomatie bedeuteten, machen die ersten Beiträge des Aufsatzbandes deutlich, die von der „versöhnenden“ Rückführung der von den Nationalsozialisten aus Frankreich geraubten Kunstgutes (Aymone Nicolas) bis zum Ausbau der kulturellen Beziehungen durch das deutsch-französischen Kulturabkommen 1954 (Ulrich Lappenküper) reichen. Jedoch verdankt sich der bilaterale Kulturdialog in erster Linie nicht der Politik, sondern der Initiative von deutschen und französischen Kunsthistorikern, Künstlern, Sammlern, Kritikern und Händlern. Dies stellen die unter dem Kapitel Kunst/Vermittlung zusammengefassten Beiträge heraus. So präsentierten die deutschen Museen nach 1945, zusammen mit jüngeren deutschen Tendenzen, schon relativ früh Arbeiten der École de Paris. Diese Integration der französischen Moderne stellte nicht zuletzt den Versuch dar – was auch Kimpel anhand von Werner Haftmanns Interpretation der Malerei des 20. Jahrhunderts zeigt – die deutschen zeitgenössischen Tendenzen in die europäische (und damit vor allem französisch dominierte) Gegenwartskunst einzubinden. Andererseits gab es durchaus einen Einfluss des deutschen Kunstschaffens auf französische Maler, zumindest das der Vorkriegsavantgarde, wie der Beitrag von Guitemie Maldonado über „L'Atelier d'art abstrait et le „modèle-Bauhaus, 1950-1953“ zeigt. Deutlich wird, dass dieser Dialog immer auch eine nationale Komponente beinhaltete, die darin bestand, das Spezifische nicht nur der eigenen, sondern auch der fremden Kunst zu bestimmen. Dies vermitteln eindrücklich die im dritten Kapitel unter dem Titel Kunst/Diskurs zusammengestellten Artikel. Während man zunächst auf form- und gestaltungsspezifische Wahrnehmungsmuster der Zwischenkriegszeit zurückgriff, wie der Beitrag über die Rezeption des Expressionismus in Frankreich (Laurence Bertrand Dorléac) und die des Kubismus in Deutschland (Nicolaj van der Meulen) belegen, verlagerten sich die Diskussionen in beiden Ländern bald auf die Fragen nach Abstraktion und Figuration in der zeitgenössischen Kunst. Harriet Weber-Schäfer weist in ihrem Aufsatz auf die trotz des unterschiedlichen historischen Ausgangspunktes existierenden Parallelen und Unterschiede in den jeweiligen Argumentationsmustern der in beiden Ländern geführten kunsttheoretischen Debatte hin. Eine interessante Perspektive eröffnet der Beitrag von Ulrike Goeschen, die auf die Rezeption der französischen Kunst in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR eingeht, wobei sie zum einen auf den künstlerischen Einfluss aber auch die politische Blockade der Remigranten aus Frankreich und das große Vorbild Picasso verweist.

Ging es in den vorangegangenen Beiträgen vornehmlich um kulturpolitische Verbindungen und die Rezeption der Kunst des jeweiligen Landes, stehen im vierten und letzten Kapitel der Publikation Kunst und Künstler im Mittelpunkt der Betrachtung. Wie sich herausstellt, waren es vor allem deutsche Maler und Bildhauer, die nach Paris gingen, um dort Anschluss an die internationale (westliche) Moderne zu bekommen, was Christa Lichtenstein am Beispiel deutscher Bildhauer in Paris nachweist. Dagegen begaben sich französische Maler und Bildhauer nur selten nach Deutschland, während ihre Werke dort jedoch schnell bekannt wurden. Dass es ganz bestimmte Künstler waren, die im Fokus der gegenseitigen Wahrnehmungen standen beziehungsweise in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich beachtet wurden, steht im Mittelpunkt der Untersuchungen von Friederike Kitschen, Isabelle Ewig, Sophie Collombat und Philip Gutbrod. Sie berichten über die Rezeption von Cézanne in Deutschland, Klee in Frankreich sowie die Akzeptanz der nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris lebenden deutschen Emigranten Max Ernst und Wols.

Eindrücklich offenbart der vorliegende Aufsatzband, wie stark die französische Kultur auf die deutsche Kunstentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg einwirkte. Doch zeigt sich auf der anderen Seite auch hier, wie oft tradierte Wahrnehmungsstrategien und Denkmuster aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nach 1945 weiterlebten. Die heterogenen Aufsätze, die jeweils bestimmte Aspekte der deutsch-französischen Kunstbeziehungen nach 1945 thematisieren und damit natürlich auch bestimmte Bereiche aussparen, werden durch den einführenden Aufsatz von Martin Schieder und Isabelle Ewig kenntnisreich und ergänzend zusammengeführt. Eine solch programmatische Zusammenführung und Bündelung der Themen fehlt dem Bonner Band, womit die Möglichkeit verspielt wurde, die Ziele des Buches und die Auswahl der Beiträge noch einmal deutlicher zu konkretisieren. Beiden Publikationen ist ein lobenswerter Einblick in die kunsttheoretischen und künstlerischen Strukturen und methodischen Ansätze ebenso wie in die kulturellen Beziehungen der direkten Nachkriegzeit gelungen. Die Fragen nach Fortsetzung und Erneuerung, nach künstlerischer Neuorientierung und Rückbesinnung zeichnen, wie auch die Analyse der bilateralen Beziehungen, ein interessantes Panorama der Kunst- und Kulturlandschaft der Nachkriegszeit. Die Fülle an neuen Erkenntnissen, die sich durch einen offeneren Blick auf diesen zeitlichen Horizont und neue Fragestellungen ergeben, demonstrieren aber auch, dass die hier vorgestellten Publikationen nur der erste Schritt einer eingehenderen kunstgeschichtliche Auseinandersetzung mit der direkten Nachkriegszeit ist und noch lange nicht alle Problemfelder erforscht sind.

[1] Ausnahmen sind unter anderem das Darmstädter Gespräch oder die documenta 1955 in der Bundesrepublik oder Aufarbeitung der Formalismus-Realismus Debatte in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR. Auch der Gegensatz der künstlerischen Entwicklungen im Westen gegenüber der Maltradition im Osten waren vermehrt Gegenstand kunsthistorischer Untersuchungen.
[2] Vgl. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik 1945-49. Kulturaufbau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“, Berlin 1981.
[3] Vgl. Jutta Held, Martin Papenbrock (Hrsg.): Schwerpunkt: Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, Göttingen 2003; Nikola Doll, Christian Fuhrmeister, Michael Sprenger (Hrsg.): Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft zwischen 1930 und 1950, Weimar 2005. Sowie die Tagung des Kunsthistorischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn zur Geschichte der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus, 1930-1950, die im Oktober 2006 im Rahmen des gleichnamigen DFG-Projekts (GKNS-WEL, http://www.welib.de/gkns/) der Kunsthistorischen Instituten der Universitäten Berlin (HU), Bonn, Hamburg und München (LMU) stattfand.
[4] Die Tagung des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Karlsruhe und der Guernica Gesellschaft, die 2005 unter dem Thema „Kunstgeschichten an den Universitäten in der Nachkriegszeit (1945-1955)“ stattfand, räumte der Kunstgeschichte in der DDR einen größeren Raum ein, vgl. Martin Papenbrock (Hrsg.): Schwerpunkt: Kunstgeschichte an den Universitäten in der Nachkriegszeit (Kunst und Politik: Jahrbuch der Guernica Gesellschaft, Band 8), Göttingen 2006.

Doll, Nikola; Heftrig, Ruth; Peters, Olaf: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, Köln: Böhlau Verlag 2006
ISBN-13: 978-3-412-00406-4, 245 S., 34 schw.-w. Abb., EUR 29.90

Schieder, Martin; Ewig, Isabelle (Hrsg.): In die Freiheit geworfen. Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945, Akademie Verlag 2006
ISBN-10: 3-05-004182-X, 410 S., EUR 49.80

Empfohlene Zitation:
Steinkamp Maike: [Rezension zu:] Doll, Nikola; Heftrig, Ruth; Peters, Olaf: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, Köln 2006; Schieder, Martin; Ewig, Isabelle (Hrsg.): In die Freiheit geworfen. Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945, 2006. In: ArtHist.net, 21.07.2007. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/1>.

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