Das Vaterunser ist von überzeitlicher und überkonfessioneller Relevanz: In der christlichen Tradition ist es dasjenige Gebet, das auf Jesus Christus selbst zurückgeführt wird und in seinem konkreten Wortlaut bereits im Matthäus- und Lukasevangelium vorgegeben ist. Dadurch konnte es seit den frühesten christlichen Bezeugungen den Status jenes zentralen Gebets erlangen, den es bis heute in der gesamten Christenheit innehat. Seit jeher galt es als Idealgebet (Lk 11,1–4) und Norm des Betens (Mt 6,9) und weist auf Grund dessen große historische Kontinuität auf: Kirchliche Autoritäten des Mittelalters nahmen es daher epochenübergreifend als Maßstab für christliches Grundwissen in Anspruch. Zugleich erfährt es immer wieder Interpretationen und Aktualisierungen, um angesichts wandelnder kultureller Kontexte und Anforderungen handlungsleitend bleiben zu können. Dementsprechend ermöglicht das Vaterunser Einblicke in zeitspezifische religiöse Vorstellungen und Erfahrungen des Mittelalters sowie in den Wandel von Überzeugungen und Praktiken im diachronen Vergleich.
Aufgrund seiner großen kulturellen Prägekraft führt die Erforschung dieses Gebets, seiner Verwendung und Auslegung an interessante Schnittstellen zwischen gelebter Praxis, katechetischer Unterweisung und theologischer Reflexion. Folglich stellt das Herrengebet einen genuin interdisziplinären Untersuchungsgegenstand dar und bietet Anknüpfungspunkte für diverse Forschungsbereiche, die dieser Workshop erstmals zusammenführen wird. Die unterschiedlichen kultur- sowie sozialgeschichtlichen Perspektiven sollen anhand von fünf Sektionen diskutiert werden: Unterrichten – Kommentieren – Darstellen – Übersetzen – Beten.
Den Workshop richtet eine (Post-)Doc-Forschungsgruppe aus, die sich 2022 in Tübingen konstituiert hat und Verwendung und Verständnis des Vaterunsers interdisziplinär untersucht (https://thiger.libripendis.eu/). Er wird in Kooperation mit der Theologischen Hochschule Reutlingen, dem „Zentrum Vormodernes Europa“ (Prof. Dr. Andrea Worm), dem „Center for Religion, Culture and Society“ (CRCS) sowie der Forschungsstelle Spätantike/Frühmittelalter veranstaltet, außerdem vom Universitätsbund Tübingen e.V. gefördert.
Gäste sind herzlich willkommen, auch eine Online-Teilnahme ist möglich. Bei Interesse melden Sie sich bitte bis zum 08.09. unter Angabe der Teilnahmeform (vor Ort/online) bei: johanna.jebeuni-tuebingen.de.
TAGUNGSPLAN
Donnerstag, 25.09.2025
Hinführung: Gesellschaftliche Verortungen des Vaterunsers in Spätantike und Mittelalter09:00 – 09:30
Dr. Johanna Jebe (Tübingen):
Begrüßung und Einleitung
09:30 – 10:15
Dr. Martin Berger (Wien):
Das Vaterunser im Kontext der Liturgie
10:15 – 11:00
Prof. Dr. Mirko Breitenstein (Dresden):
Beten in Klöstern und Orden. Ein vergleichender Blick
Kaffeepause
1. Unterrichten: Lehren und Lernen mit dem Vaterunser
11:30 – 12:15Prof. Dr. Philippe Depreux (Hamburg):
Eine Erklärung des Paternoster unter den Sermones des Ivo von Chartres
12:15 – 13:00
Prof. Dr. Ulrike Treusch (Gießen):
Das Vaterunser in der katechetischen Literatur der Wiener Schule des 15. Jahrhunderts
2. Kommentieren: Verstehen und Vermitteln durch Auslegung
15:00 – 15:45Dr. Bastiaan Waagmeester (Berlin):
Konzentration auf das Entscheidende. Kurz-Kommentierungen des Vaterunsers am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter
15:45 – 16:30
Prof. Dr. Marianne Schlosser (Wien):
„Forma orandi“. Das Vaterunser in der Auslegung bei Albertus, Thomas und Bonaventura
Kaffeepause
3. Darstellen: Interpretieren durch Ordnung in Bild und Zahl
17:00 – 17:45Dr. Michael Lebzelter (Stuttgart):
Ordnung und Imagination. Septenarien in den St. Galler Handschriften
17:45 – 18:30
Dr. Eleanor Goerss (Tübingen):
Von Tugenden, Lastern, Gaben und Bitten. Zur Ordnung in Paternoster-Rotae
Abendessen
Freitag, 26.09.2025
4. Übersetzen: Aneignen und Verbreiten
09:00 – 09:45Prof. Dr. Simone Schultz-Balluff (Halle):
Die deutschsprachigen Vaterunser-Versionen des Mittelalters als sprachhistorische Quelle. Mit einer Skizze für den Einsatz im akademischen Unterricht
09:45 – 10:30
Prof. Dr. Andrea Worm (Tübingen):
Erklären und Bebildern. Visualisierungen des Pater noster im Zeitalter des Buchdrucks
Kaffepause
5. Beten: Schriftliche Überlieferung und persönliche Praxis
11:45 – 12:30Dr. Carolin Gluchowski (Hamburg):
Ein niederdeutsches Vaterunser im Göttinger ABC-Buch 8° Cod. Ms. Theol. 243. Ein Beitrag zur Bildungs- und Andachtskultur in den Lüneburger Frauenklöstern im Spätmittelalter
12:30 – 13:15
Prof. Dr. Jonathan Reinert und Dr. Isabell Väth (Reutlingen, Tübingen):
Lebendige Andacht und seliges Sterben. Zum Gebrauch des Vaterunsers in persönlichen Gebetbüchern des St. Galler Bestandes
13:15 – 13:30
Schlussworte
Reference:
CONF: Verwendung und Verständnis des Vaterunsers (Tübingen, 25-26 Sep 25). In: ArtHist.net, Sep 3, 2025 (accessed Sep 18, 2025), <https://arthist.net/archive/50454>.