Jenseits der Stärke: Imaginarien schwacher Kräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft.
[English below.]
Mit Schwäche oder Schwachheit (frz. faiblesse, eng. weakness, ital. debolezza, lat. infirmitas etc.) verbindet sich gerade in postpandemischen Zeiten zumeist ein pathologisch-degenerativer Befund: Ein defizitärer Zustand, der von der Norm bzw. vom Ideal abweicht – ein Zustand der Asthenie, der Erschöpfung, der Ermüdung oder Ohnmacht, der Vulnerabilität oder Fragilität, der Trägheit, Weichheit oder Beeinflussbarkeit, im künstlerischen Kontext mitunter des Versiegens schöpferischer Kräfte.
Umgekehrt hat die Rede von der Schwäche aber auch immer Anlass geboten, über subtile Kräfte jenseits von Dominanz, Kontrolle oder Überwältigung nachzudenken. Dazu gehören Fragen der Intensität, des Klein- und Kleinstskaligen, der Potenzialität dessen, was als klein oder schwach bestimmt wird, sowie der Entfaltung, des (Wieder-)Aufkeimens oder des (Wieder-)Erstarkens produktiver Zeugungskräfte. Die Schwäche ist somit nicht nur als Gegenbegriff zur Stärke zu verstehen, sondern konstituiert auch eigene Formen der Wirkmächtigkeit, die der binären Opposition von stark und schwach entgegenstehen.
Die interdisziplinäre Tagung Jenseits der Stärke: Imaginarien schwacher Kräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft nimmt diesen Befund zum Ausgangspunkt, um die Verschränkungen und produktiven Ambivalenzen schwacher Kräfte und ihre ästhetischen Artikulationen in den Blick zu nehmen.
Historisch betrachtet war das Nachlassen der Kräfte bis ins 17. Jahrhundert ein naturphilosophisches Axiom. Kräfte, die beispielsweise Bewegung verursachen, erschöpften sich zwangsläufig; entweder aufgrund eines widerständigen Mediums oder durch die Verausgabung ihrer selbst. Leonardo da Vinci verleiht dieser Vorstellung eine poetische Form, wenn er im Kontext seiner Überlegungen zum impetus der Bewegung und ihrer Ursache eine suizidale Sehnsucht nach Ruhe, letztlich ihrem eigenen Tod nachsagt. Erst mit dem bei Galilei erwähnten Konzept der Trägheit (inertia), später dann bei Newton und Descartes, werden Erschöpfung und Ermüdung schrittweise externalisiert und als alleinige Folge äußerer Widerstände, nicht mehr als inhärente Eigenschaft der Kraft betrachtet. Gleichzeitig zeigt die moderne Physik mit der schwachen Wechselwirkung, dass Schwäche auch als eigenständige Kraft auftreten kann, gilt sie doch neben Gravitation, elektromagnetischer und starker Wechselwirkung noch heute als eine der vier Grundkräfte.
Bereits hier deutet sich an, dass die Schwäche und ihre begrifflichen Derivate sowohl als Zustand als auch als Qualität verstanden werden können: im Sinne eines Gegenbegriffs zur Stärke oder eines Potenzials, das sich als geringe Intensität in den unteren Bereichen einer kontinuierlich gedachten Kräfte-Skala als Vermögen wiederfindet. In diesem Zusammenhang rücken gerade jene Konzeptualisierungen in den Fokus, die sich mit besonders klein- und kleinstskaligen, feinen oder subtilen Kräften befassen – sowohl räumlich als auch zeitlich. So spricht Seneca in seinen Naturales quaestiones von „Dingen, die im Geheimen riesige Kräfte entwickeln“ können und Samenkörnern, die „obgleich klein“ auf geeignetem Boden „ihre Kräfte entwickeln und aus dem kleinsten Anfange das größte Wachstum entfalten“. Goethes Rede von den „unmerklichen Kräften“, Stifters Interesse an den kleinen Wirkungen natürlicher Kräfte und Benjamins Idee von der „schwachen Kraft des Messianischen“ bieten Stichworte, von denen aus sich die Idee einer verborgenen Wirkmächtigkeit schwacher Kräfte weiterentwickeln ließe. Damit stellt sich zugleich die Frage nach der Grenze zur Stärke und deren Überschreitung. Es ist diese Offenheit und Unbestimmtheit, die die schwachen Kräfte entgegen ihrer Zuschreibungen zu einer wirkmächtigen Metapher machen. Im europäischen Kontext ist etwa an die „Achillesferse“ zu denken, die sich im Anschluss an die mythologische Erzählung zum Synonym für körperliche oder systemische Schwachstellen entwickelt hat und bis in Darstellungen der Populärkultur weiterverfolgt werden kann – wie beispielsweise das Kryptonit bei Superman.
Eine paradoxe Umwertung der Schwäche, die diese nicht als bloßes Defizit, sondern vielmehr als Bedingung für eine höhere Form der Stärke versteht, findet sich in Paulus’ zweitem Brief an die Korinther: „Die Kraft wird in der Schwachheit vollendet“ und „Wenn ich schwach bin, dann bin ich mächtig.“ Praktisch ausgestaltet zeigt sich eine solche Theologie der Schwachheit schließlich in der asketischen Tradition des Christentums. Bewusste körperliche Schwächung, etwa durch Fasten oder Nachtwachen, wird hier zum Prinzip einer spirituellen Kraftgewinnung erhoben. Heinrich von Seuse beschreibt diesen Zusammenhang prägnant, wenn er die „entschwindende Kraft“ als notwendige Voraussetzung für seinen Kontakt mit Gott benennt.
Für die neuzeitliche Kunst hat nicht zuletzt Platons Ion und die dort geschilderte Lehre der Begeisterung (enthousiasmos) einen entscheidenden Anstoß geliefert. Zwar wird den Dichtenden zugesprochen, selbst zu begeistern und in den Bann zu ziehen, nicht jedoch aus eigener Kraft, sondern aus einer Schwäche heraus, die sie für die göttliche Begeisterung (theia dynamis) empfänglich macht und sie so wiederum zur Ausübung ihrer Kunst ermächtigt. Dergestalt wird die Schwäche zum zentralen, gleichfalls ambivalenten Kriterium schöpferischen Schaffens aufgewertet: Erschöpfung, Acedia und (nicht immer produktive) Phasen des Stillstands sind dabei ständige Begleiter des künstlerischen Ingeniums. Dürers Melancholia I von 1514 gilt als ikonische Darstellung eben dieser Ambivalenz, indem die personifizierte Melancholie inmitten der Attribute von Kunst und Wissenschaft sitzt, ohne ihr Potenzial zu nutzen. In der romantischen Kunsttheorie begreifen Novalis und Schelling die kreative Erschöpfung nicht mehr als bloßes Hindernis, sondern als notwendigen Gegenpol zum schöpferischen Rausch, als Bedingung für Reflexion und Einbildungskraft. Auch in der chinesischen Ästhetik der Pinselmalerei wird Schwäche nicht als Defizit, sondern als Bedingung der Kraft (qì/ki) verstanden: Sie ermöglicht eine Bewegung, die nicht auf unmittelbarer Durchsetzung beruht, sondern auf fein abgestimmter Resonanz.
Bei Nietzsche schließlich wird die Erschöpfung zum Symptom eines ganzen Zeitalters und macht das erschöpfte Subjekt zum Seismographen kulturellen Kräfteverfalls. In der Moderne markieren Schwäche und Erschöpfung mithin die Grenzen des zum Mythos geronnenen Versprechens von Fortschritt, Autonomie, Produktivität und Selbststeigerung und werden zunehmend selbst zum Gegenstand philosophischer und kulturwissenschaftlicher Reflexionen. Gegenerzählungen zum Narrativ einer heroischen Moderne plädieren für eine Epistemologie, die Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit nicht als Mangel, sondern als ethische und ästhetische Qualität begreift.
Die hier skizzierten, in der Forschung bisher nur ansatzweise beleuchteten schwachen Kräfte werfen eine Reihe von Fragen auf, die wir im Rahmen der Tagung jenseits einer nur binären Gegenüberstellung von Schwäche und Stärke aus verschiedenen historischen, disziplinären sowie kulturellen Perspektiven beleuchten wollen: Welche je spezifischen Qualitäten zeichnen schwache Kräfte aus? Welche Ästhetiken fördern sie in ihren jeweiligen Diskursfeldern und Kontexten zu Tage? Wie wird mit Widerständen und Schwellen- und Grenzbereichen hin zur Stärke umgegangen?
Beiträge zur interdisziplinären Tagung können sich diesen Fragen unter anderem über folgende Themenfelder nähern:
(1) Paradoxien bzw. Umkehrungen von schwachen Kräften, die sich angesichts ihrer Skalierung, Stetigkeit, Flexibilität oder Fragilität wiederum als stark erweisen. Exemplarisch sei auf den sprichwörtlichen Tropfen hingewiesen, der auch als künstlerisches Motiv den Stein zu höhlen und Ketten zu sprengen vermag, oder auf elastische und spröde Materialien, die sich in und durch die Formveränderung entweder widerständig gegen Krafteinwirkungen zeigen oder in aufgelöster Form zu neuen Verbindungen führen.
(2) Produktionsästhetische Verfahren, die sich in der Verlangsamung bzw. der Langsamkeit, dem Zögern, dem Unbestimmten, Unabgeschlossenen und Flüchtigen sowie dem Ephemeren, dem Entzug oder der Serialität und Wiederholung zeigen und die nicht als bloße Abweichung vom produktiven Ideal zu verstehen sind, sondern als eigenständige ästhetische Verfahren. Sie können ihren Ausdruck beispielsweise im non finito, in literarischen oder in filmischen Leerstellen finden.
(3) Formen ästhetischer Artikulationen schwacher Kräfte, die das Kleine, Leise, zeitlich wie räumlich Ausgedehnte, Entfernte oder Zarte konturieren und sich beispielsweise bildlich in verblassender Farbigkeit, zittriger Linienführung, zierlichen Strukturen, kleinsten Details oder dem Vorläufig-Skizzenhaften äußern. Klanglich oder sprachlich können sich solche schwachen Kräfte etwa in Motiven des Flüsterns, Hauchens oder Rieselns zeigen.
Beiträge für die Tagung können auf Deutsch oder Englisch eingereicht werden. Ein passives Verständnis beider Sprachen wird vorausgesetzt. Besonders willkommen sind auch Beiträge, die eine außereuropäische Perspektive auf schwache Kräfte und ihre ästhetischen Artikulationen einbringen. Es ist eine Publikation der ausgearbeiteten Vorträge als Tagungsband in der Reihe »Imaginarien der Kraft« (De Gruyter) geplant.
Bitte senden Sie Ihre Beitragsvorschläge mit einem 1–2seitigen Exposé und dem Stichwort »Schwache Kräfte« in der Betreffzeile bis zum 30. September 2025 an: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de
Die Kosten für die An- und Abreise sowie die Unterkunft werden vom Veranstalter übernommen.
Kontakt:
DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft«
Gorch-Fock-Wall 3, 1. Stock (links)
D-20354 Hamburg
E-Mail: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de
Website: www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de
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[English version]
Beyond Strength: Imaginaria of Weak Forces in Art, Literature, and Science
Concepts of weakness (French: faiblesse, Italian: debolezza, Latin: infirmitas, etc.) are often associated with a pathological or degenerative condition—especially in post-pandemic times: a deficient state that deviates from the norm or ideal, evoking notions of asthenia, exhaustion, fatigue or enervation, vulnerability or fragility, inertia, softness or impressionability. In an artistic context, these terms can also conjure the withering of creative energies.
Conversely, references to weakness have always offered opportunities to reflect on subtle forces beyond dominance, control, or overwhelming power. This includes matters of intensity; considerations of the small and the miniscule; the potentiality inherent of what is deemed small or weak; as well as of the unfolding, (re)emergence or (re)invigoration of potency. Thus, weakness should not be understood merely as the opposite of strength, but as constituting its own forms of agency, which complicate any simple binary opposition of strong and weak.
The interdisciplinary conference Beyond Strength: Imaginaria of Weak Forces in Art, Literature, and Science takes this observation as a starting point to examine the connections and productive ambivalences of weak forces and their aesthetic articulations.
Historically, the decline or dissipation of forces was considered an axiom of natural philosophy until the seventeenth century. Forces responsible for movement, for instance, were believed to inevitably exhaust themselves, either due to a resistant medium or through their own expenditure. Leonardo da Vinci gives poetic form to this idea when, in his reflections on impetus and movement, he attributes to it a kind of suicidal longing for rest, ultimately for its own extinction. It was only with Galileo’s concept of inertia—later developed by Newton and Descartes—that exhaustion and fatigue were gradually externalised, seen as the effect of extrinsic resistance rather than as an inherent property of force itself. At the same time, modern physics demonstrates through the weak interaction that weakness still manifests as an irreducible fundamental force alongside gravity, electromagnetism, and the strong interaction.
All this suggests that weakness and its conceptual derivatives can be understood both as a state and as a quality: as a counter-concept to strength and as a low intensity force occupying one end of an imagined scale of forces. This reframing directs our attention to conceptualisations that focus on particularly small-scale, minute, delicate, or subtle forces—both spatially and temporally. Seneca, for instance, speaks of ‘things that can develop enormous powers in secret,’ and of seeds which, ‘although small,’ realize their greatest strength and growth from the very smallest beginnings. Goethe’s reference to ‘imperceptible forces,’ Stifter’s fascination with the small effects of natural forces, and Benjamin’s idea of the ‘weak messianic power’ (‘Schwache Kraft des Messianischen’) all offer conceptual touchstones from which the notion of a latent power of weak forces can be further developed. These examples also raise the question of boundaries—where and how the line between strength and weakness is drawn and crossed. It is precisely their openness and indeterminacy that, contrary to their attributions, make weak forces a potent metaphor. In the European context, one might think of the ‘Achilles’ heel,’ which, following the mythological narrative, has become synonymous with a physical or systemic point of vulnerability—an idea that persists in popular culture, for example, Superman’s kryptonite.
A paradoxical revaluation of weakness—understood not simply as a mere deficit but rather as a prerequisite for a higher form of strength—can be found in Paul’s Second Letter to the Corinthians: ‘Power is made perfect in weakness’ and ‘when I am weak, then I am strong.’ Such a theology of weakness ultimately finds practical expression in the Christian ascetic tradition, where conscious physical weakening—through fasting or night vigils, for example—is elevated to a principle of spiritual empowerment. Henry of Seuse succinctly expresses this connection, describing the ‘vanishing of strength’ as a necessary prerequisite for his contact with God. Plato’s Ion and the doctrine of enthousiasmos articulated therein provided a decisive and formative impetus for art. According to Plato, poets are able to inspire and move their audience not through their own power, but through a weakness that renders them receptive to divine enthusiasm (theia dynamis), thus enabling them to practise their art. In this way, weakness becomes a central—albeit ambivalent—criterion of creative work: exhaustion, acedia and (not always productive) phases of stagnation are constant companions of artistic genius. Dürer’s Melancholia I (1514) is considered an iconic representation of this ambivalence, as personified melancholy sits among the attributes of art and science without utilising their potential. In Romantic art theory, Novalis and Schelling no longer saw creative exhaustion merely as an obstacle, but as a necessary counterpoint to creative ecstasy, a prerequisite for reflection and imagination. In the aesthetics of Chinese brush painting as well, weakness is understood not as a deficit, but as a condition for strength (qì/ki): it enables movements that are based not on immediate assertion, but on finely tuned resonance.
In Nietzsche, finally, exhaustion becomes a symptom of an entire epoch, transforming the exhausted subject into a seismograph of cultural decline. In modernity, weakness and exhaustion mark the limits of the mythologised promise of progress, autonomy, productivity, and self-improvement and themselves increasingly become the subject of philosophical and cultural reflection. Counter-narratives to heroic modernity argue for an epistemology that understands provisionality and incompleteness not as deficiency, but as ethical and aesthetic quality.
The weak forces outlined here—which have only been explored to a limited extent in research to date—raise a number of questions we intend to address at the conference from diverse historical, disciplinary, and cultural perspectives, going beyond a simple binary of weakness and strength: What specific qualities characterise weak forces? What aesthetics do they bring to the forefront in their respective fields of discourse and contexts? How are resistance, thresholds, and boundaries towards strength negotiated?
Contributions to the interdisciplinary conference may address these questions by exploring, among others, the following themes:
(1) Paradoxes or inversions of weak forces that, by virtue of their scale, consistency, flexibility, or fragility, prove to be powerful. Examples include the proverbial drop of water that hollows out a stone and breaks chains, or elastic and brittle materials that, through changes in form, either resist external forces or, in their dissolving, lead to new compounds.
(2) Aesthetic processes that manifest as deceleration or slowness, hesitation, indeterminacy, the unfinished and fleeting, as well as the ephemeral, withdrawal, seriality, and repetition—understood not as mere deviations from the productive ideal, but as independent aesthetic processes. These may be expressed, for example, in non finito or in literary or cinematic gaps.
(3) Forms of aesthetic articulation of weak forces that contour the small, the quiet, the temporally and spatially extended, the distant, or the delicate, expressed figuratively in fading colours, shaky lines, fragile structures, minute details, or the provisional and sketch-like. In sound or language, such weak forces might be articulated through motifs of whispering, breathing, or trickling.
Papers may be submitted in German or English. A passive understanding of both languages is expected. Contributions offering non-European perspectives on weak forces and their aesthetic articulations are especially welcome. A publication of selected conference papers is planned in the series »Imaginarien der Kraft« (De Gruyter).
Please send your proposals with a 1–2-page abstract, with the keyword ‘weak forces’ in the subject line, by 30 September 2025 to: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de.
The cost of travel and accommodation will be covered by the organisers.
Contact:
DFG-Centre for Advanced Studies »Imaginaria of Force«
Gorch-Fock-Wall 3, 1st floor (left)
D-20354 Hamburg
E-Mail: imaginarien.der.kraftuni-hamburg.de
Website: www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de
Quellennachweis:
CFP: Jenseits der Stärke: Imaginarien schwacher Kräfte (Hamburg, 4-6 Jun 26). In: ArtHist.net, 29.06.2025. Letzter Zugriff 01.07.2025. <https://arthist.net/archive/49596>.