Wiederverwendung und Kreativität. Ästhetische Praktiken der Vormoderne (Jahrestagung SFB 1391 Andere Ästhetik).
Wiederverwendung und Kreativität stehen im Zentrum aktueller gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, wenn z.B. über die Nutzung menschengemachter Bilder und Texte für das Training generativer KI oder über die Legitimität kultureller Aneignung diskutiert wird.
Die Spannung von Wiederverwendung und Kreativität wurzelt in der ästhetischen Produktion der Vormoderne, in der Praktiken der Wiederverwendung ubiquitär sind. Dabei hat sich die Forschung unter dem Eindruck autonomieästhetischer Wertungen und Kriterien starker Autorschaft (wie Neuheit vs. Tradition oder Genie vs. Imitation) lange schwer damit getan, sie angemessen zu deuten. Oft wurden (und werden) Wiederverwendungen als ‚bloße Nachahmungen‘ abqualifiziert.
Indes hat die archäologische, kunsthistorische, literatur- und musikwissenschaftliche Forschung zur vormodernen Ästhetik gezeigt, dass künstlerische Praktiken wie Adaptation, (Re-)Inventio, Kombinatorik, Re-Framing, Retextualisierung, Übersetzen oder Wiedererzählen von signifikanter Kreativität geprägt sein können.
Diesen entscheidenden Perspektivwechsel möchten wir mit der Tagung konzeptionell fundieren und zum Ausgangspunkt für eine interdisziplinäre Reflexion des kreativen Potentials von Wiederverwendung machen: Die ‚andere‘ Ästhetik der Vormoderne gewinnt ihre Kreativität nicht gegen, sondern aus der Wiederverwendung.
Ziel der Tagung ist es, die spannungsreiche Interdependenz von Wiederverwendung und Kreativität neu zu begründen sowie in ihrer kulturhistorischen Tragweite und Vielfältigkeit in Bezug auf räumliche und zeitliche Transfer- und Transformationsprozesse zu konturieren sowie zu systematisieren – und dies auch und gerade unter Einbezug von Perspektiven, die bis in die Gegenwart reichen.
Eine Anmeldung zur Tagung ist nicht erforderlich. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an Dr. Jan Stellmann (jan.stellmannuni-tuebingen.de).
Programm:
Donnerstag, 26. Juni 2025
12.00–12.15 Annette Gerok-Reiter:
Begrüßung durch die Sprecherin des SFB 1391
12.15–12.45 Jörg Robert (Tübingen):
Einführung
Transfer und Aneignung
Moderation: Rebecca Merkelbach
12.45–13.30 Matthias Bauer, Yves Herak, Moana Toteff, Anja Wolkenhauer, Angelika Zirker (alle Tübingen)
Plutarch Transformed: Approaches to Diachronic Co-Creativity in Early Modern Literature
13.30–14.15 Mittagsimbiss und Kaffeepause
14.15–15.00 Regula Forster, Muhammad Muhammadi, Jan Stellmann (alle Tübingen)
Aristotle revisited: Aristotelesrezeption und -adaption in zwei Naturenzyklopädien des 14. Jahrhunderts
15.00–15.45 Maria Fabricius Hansen (Kopenhagen)
Transformation Matters: Appropriation of the Ancient Roman Past in Medieval European Architecture
15.45–16.15 Kaffeepause
Moderation: Katharina Fezer
16.15–17.00 René Waßmer (Tübingen)
Kulturtransfer und Transformation. Die deutschsprachige Konversations- und Verhaltensliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts
17.00–17.45 Thomas Thiemeyer (Tübingen)
Kulturelle Aneignung und (Andere) Ästhetik
19.00 Abendessen
Freitag, 27. Juni 2025
Manifestation und Markierung
Moderation: Viola Palmieri
9.00–9.45 Katja Weidner (Wien)
Poetik der Wiederverwendung: Bricolage in der lateinischen Lyrik des Mittelalters
9.45–10.30 Cristina Murer (Tübingen)
Kreativität aus Fragmenten: Zerstörung, Wiederverwendung und Transformation in der Spolienarchitektur und -literatur der Spätantike
10.30–11.00 Kaffeepause
Moderation: Nora Schmid
11.00–11.45 Aden Kumler (Basel)
Second-hand sancta: Creative Reuse in Christian Medieval Liturgical Practice
11.45–12.30 Emily Lethbridge (Reykjavík)
Creative Responses to Saga Women in Contemporary Social Contexts
12.30–14.00 Mittagspause
Konzepte und Wertungen
Moderation: Martin Kovacs
14.00–14.45 Gregor Vogt-Spira (Marburg)
Kreativitätssicherung im römischen imitatio-Diskurs. Quintilian versus Seneca
14.45–15.30 Beatrice Gründler (Berlin)
Ibn Rushd’s Enriched Adaptation of Aristotleʼs Poetics
15.30–16.00 Kaffeepause
Moderation: Frank Schuhmacher
16.00–16.45 Gero Guttzeit (München)
“I am invisible”: Invisibility as a Metonymy of Co-Creativity in Shakespeare’s A Midsummer Night’s Dream and The Tempest
16.45–17.30 Manuel Becker (Hamburg)
Authentizität, Tradition und Re-Mediation? Wiederverwendung und Neuinterpretation von präexistenter Musik in Videospielen
17.30–18.00 Kaffeepause
Abendvortrag
18.00–19.00 Heike Schlie (Salzburg)
Deframing – Reframing. Ästhetik und Produktivität der Wiederverwendung und die Frage der kulturellen Aneignung
Samstag, 28. Juni 2025
Praktiken und Akteure
Moderation: Ulrich Barton
9.00–9.45 Sandra Linden, Andrea Worm (Tübingen)
Druck – Wiederverwendung – Rekonfiguration. Strategien und Ästhetik der Kombinatorik im Inkunabelzeitalter (vor 1500)
9.45–10.30 Colline Charli, Susanne Goumegou (Tübingen)
Charles Nodiers Smarra: Alptraumästhetik der schwarzen Romantik als Assemblage von Hexen- und Dämonenerzählungen
10.30–11.00 Kaffeepause
Moderation: Thalia Vollstedt
11.00–11.45 Paulus Rainer (Wien)
Eine falsche Greifenklaue. Auf dem Spielfeld des freigewordenen Intellekts
11.45–12.30 Matthew Gardner (Bremen)
Reuse and Revision as Creative Practice in Early Eighteenth Century Italian Opera
12.30–13.15 Olaf Kramer (Tübingen)
Persuasive Oberflächen und kalkulierende Maschinen. Zur Rhetorik generativer KI
13.15–13.30 Fazit
Quellennachweis:
CONF: Wiederverwendung und Kreativität (Tübingen, 26-28 Jun 25). In: ArtHist.net, 18.05.2025. Letzter Zugriff 20.05.2025. <https://arthist.net/archive/49288>.