call for sessions: in Landschaft denken. Begegnungen mit der Natur an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft.
Die Folgen des Klimawandels und die landschaftsprägende Nutzung regenerativer Energiequellen verändern unsere Perspektiven auf Umwelt und Natur und rücken die Landschaft verstärkt in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Doch der Begriff der „Landschaft“ ist keineswegs eindeutig. Vor diesem Hintergrund widmet sich die Denkwerkstatt der Frage, wie „Landschaft“ im Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft neu gedacht werden kann. Landschaft soll dabei als dynamisches Gefüge von Beziehungen, Wahrnehmungen und Praktiken verstanden werden. Die Denkwerkstatt lädt Promovierende, Postdocs und Künstler:innen ein, in interdisziplinären Formaten – von Vorträgen und Diskussionen bis hin zu künstlerischen Interventionen und Spaziergängen – gemeinsam neue Perspektiven auf Landschaft zu entwickeln.
Joachim Ritter hat in seinem wegweisenden Aufsatz über die Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1963) die Distanzierung von der Natur als Ursache und Voraussetzung für das Erleben von Natur als Landschaft benannt und auf ihren zivilisationskompensatorischen Aspekt hingewiesen. Hiermit prägte er wesentlich die europäische Landschaftsästhetik. Abseits einer lebenspraktischen Aneignung der Natur betrachtet der Mensch eine vor ihm liegende Landschaft aus der Distanz. Sie stellt sich ihm als ein bildhaft gefasster Naturausschnitt dar. Diese Ästhetisierung der Landschaft hat zur Folge, dass die Landschaft vor allem visuell erfahren wird, als unbearbeitete Natur erscheint und sich von jeder Zweckbestimmung freihält.
Gegen dieses von Ritter stark gemachte Verständnis des Landschaftlichen als Distanzierung und Kompensation zielen Landschaftskonzepte seit den 1980er Jahren darauf ab, die Annahme einer Mensch-Natur-Dichotomie in Frage zu stellen und eine erweiterte Perspektive auf Landschaft zu ermöglichen. So begreifen aktuelle öko-phänomenologische Ansätze (vgl. Abram 1996, Brown/Toadvine 2003, Pelluchon 2021) Landschaft als ein dynamisches Raumgefüge sinnlicher Erfahrungen, dem der Mensch nicht nur kontemplativ gegenübersteht, sondern in das er aktiv involviert ist und mit dem er in vielfältiger Weise in Beziehung steht (vgl. Berleant 1992). Auch in der Geographie sind vergleichbare Ansätze entwickelt worden, die das Zusammenwirken verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Akteur:innen, Operationen und Prozesse analysieren, die in ihrer Gesamtheit Landschaft als Raum von Praktiken und Beziehungen konstituieren (vgl. Ingold 2007). Dabei betont Ingold insbesondere die Wahrnehmung des Klimatischen in der Landschaft (Wind, Sonne, Wolken etc.), um Landschaft als bewegte, dynamische Materie zu begreifen, in die wir immer bereits eingebunden und von der wir Teil sind (vgl. zudem Hepach/Lüder 2023). Der Diskurs in der Landschaftsarchitektur hat sich in den letzten Jahren – nicht zuletzt angestoßen durch die räumlichen Veränderungen im Zuge des Klimawandels – in Richtung einer atmosphärischen Raumplanung entwickelt, in der auch die „unsichtbaren” klimatischen Aspekte der Landschaft als zentraler Planungsaspekt berücksichtigt werden können (vgl. Rahm, Scuderi 2014).
Der Ästhetik, verstanden in einem weiten Sinne als Aisthetik (vgl. Böhme 2001), kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu: Denn Landschaft wird vom Menschen immer auch leiblich-sinnlich erfahren. Zudem spielen ästhetische Argumente wie der Verweis auf die Schönheit, Atmosphären (vgl. Schmitz 2018, Böhme 1995) und Hässlichkeit häufig eine wichtige Rolle in Auseinandersetzungen um den Wert von Natur (vgl. Krebs 2021). Insbesondere der Begriff der „Atmosphäre” ist dabei zentral, weil mit ihm eine Überwindung des Dualismus von betrachtetem Objekt und betrachtendem Subjekt verbunden ist und somit eine klare Distanzierung des einen vom anderen nicht mehr möglich ist.
Der Begriff der „Atmosphäre” spielt in der ästhetischen Erfahrung von Landschaft vor allem in ostasiatischen Ästhetiktraditionen, beispielsweise in China und Japan, eine entscheidende Rolle. Während der westeuropäische Landschaftsbegriff vornehmlich dem Primat des Visuellen unterworfen ist, stehen die atmosphärischen Qualitäten der Landschaft im chinesischen traditionellen Landschaftsbegriff shan shui (山水, wörtl. „Berg-Wasser”) seit dem 7. Jahrhundert im Mittelpunkt. Die Landschaft wird dort „in ihrer Korrelation” (Jullien 2016) und der stetigen Formwerdung begriffen. Sie konstituiert sich aus dem Wechselverhältnis zwischen den Elementen, wie Berg und Wasser, als aufeinander bezogene, einander bedingende Kräfte. Die traditionelle chinesische Landschaftsmalerei wird als Form der „Welteröffnung” (Obert 2006) angesehen, durch die der Mensch seine leibliches Eingebundensein in die Natur erfährt und kultiviert. Eine solche Landschaftswahrnehmung, in der die Leiblichkeit des Menschen ernst genommen wird, findet sich im japanischen Kontext beispielsweise in der Arbeit des japanischen Philosophen Watsuji Tetsuro. Bereits 1935 wies er in seinem wegweisenden Essay Fudo – Wind und Erde auf den Zusammenhang zwischen Klima und Kultur hin und entwickelte anlehnend an Herders „Klimatologie” eine klimatische Kulturanthropologie.
Reflektiert werden diese atmosphärischen Perspektiven auf Landschaft auch in der zeitgenössischen Kunst. Die japanische Künstlerin Rei Naito eröffnet Räume, in denen die Wahrnehmung von Landschaft als Raum interagierender, transformierender Kräfte – wie Luft, Wind und Licht – kultiviert wird. Der chinesische Künstler Qiu Shihua malt auf den ersten Blick weiße, leere Landschaften, die ein längeres, genaues Hinsehen und Bewegen entlang der oftmals großen Leinwände fordern, um Landschaft über physisch sichtbare Formen hinaus als atmosphärischem Raum zu erleben.
Andere künstlerische Arbeiten, die aktuelle Landschaftskonzepte zwischen Nähe und Distanz ausloten, nehmen Naturerfahrungen im Anthropozän als Ausgangspunkt. Während die Arbeiten von Edward Burtynsky, Carolina Caycedo oder Andreas Gursky die Eingriffe des Menschen in die Natur in eindrücklicher Distanz und monumentaler Abstraktion zeigen, schaffen Arbeiten von Olafur Eliasson, Ana Mendieta oder Agnes Denes immersive Erlebnisse, in denen die Natur distanzlos und multisensorisch erfahren werden kann.
Diese Spannungen zwischen Distanz und Nähe, zwischen der Betrachtung der Landschaft als etwas außerhalb von uns und der Erfahrung als Teil derselben, greifen auch theoretische Diskurse im Anthropozän auf. So postuliert Timothy Morton (2007) die Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt: Wer die Landschaft betrachtet, sieht nicht mehr das Andere, sondern begegnet sich selbst. In dieser Auflösung des Status von Natur und Landschaft als dem Anderen ähnelt Mortons Ansatz dem von Böhme – doch während Böhme dies nutzt, um den Naturbegriff stark zu machen, zieht Morton daraus den Schluss, vom Ende der Natur zu sprechen. Noch stärkere Positionen behaupten sogar das Ende der Landschaft (Andermann 2023).
Das Ende der Landschaft zu proklamieren erscheint uns jedoch verfrüht. Stattdessen wollen wir solche Landschaftskonzepte, die das Verhältnis von Mensch und Natur neu denken, in einen Dialog bringen. Dabei interessieren uns beispielsweise folgende Fragen: Welche Rolle spielt die Definition und Interpretation des Begriffs „Landschaft” in den aktuellen Debatten um Umweltschutz und Nachhaltigkeit? Welche Perspektiven kann hier die Auseinandersetzung mit Landschaftskonzepten verschiedener Kulturräume eröffnen? Welche Rolle spielen verschiedene Kunstformen bei der Entwicklung und Verbreitung einer Landschafts-Idee jenseits der Mensch-Natur Dichotomie?
Welchen Beitrag kann die Naturästhetik noch leisten?
Welche praktischen Maßnahmen können ergriffen werden, um eine nachhaltige und ästhetisch ansprechende Landschaftsgestaltung im Einklang mit den aktuellen ökologischen Herausforderungen zu fördern? Welche Rolle kann dabei eine Auseinandersetzung sowie das Lernen von lokalen Akteuren, ihren Praktiken und ihrem impliziten Wissen (bspw. in der Landwirtschaft) spielen? Diesen Fragen wollen wir im Rahmen einer transdisziplinären, experimentellen Denkwerkstatt an der Begegnungsstätte Buchner-Hof bei Leifers, gelegen auf 730m Höhe in den Bergen Südtirols, nachgehen.
Im Buchnerhof wollen wir vom 22.11.2025 - 29.11.2025 für eine Woche einen Raum schaffen, in dem wir “in Landschaft denken” und damit Begegnungen mit der Natur an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft eröffnen, die von den Teilnehmenden durch verschiedene Workshops gemeinsam gestaltet werden. Diese können Vorträge, Diskussionen oder gemeinsame Close-Readings ebenso umfassen wie künstlerische Projekte, geführte Spaziergänge oder Wanderungen in die umliegende Berglandschaft. Die Zielgruppe der Veranstaltung sind Promovierende mit fortgeschrittenen Projekten und Postdocs aus den Disziplinen Architektur- und Landschaftsplanung, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie, Geologie sowie Künstler:innen (Bildende Kunst, Film, Fotografie, Performance, Musik, Literatur, Lyrik etc.). Die Kosten für Reise, Unterkunft und Verpflegung werden unter anderem von der Elisabeth und Helmuth Uhl-Stiftung übernommen.
Wir erbitten Vorschläge für 2-3 stündige Sessions zu dem im Exposé skizzierten Themenkomplex. Es steht Ihnen offen, welches Format (theoretische-wissenschaftliche Annäherung an den Landschaftsbegriff in einem Vortragspanel, interaktive Workshop- und Spaziergangsformate, künstlerische Performances etc.) diese haben sollen. Bitte senden Sie uns aussagekräftige Abstracts (max. 3500 Zeichen) zu geplanten Einzelvorträgen oder Session-Gestaltungen (möglich ist auch eine Einreichung als Team) zusammen mit einem kurzen Lebenslauf bis zum 24.03.2025 an franca.bussuni-hamburg.de.
Literatur
ABRAM, David: The Spell of the Sensuous. Perception and Language in a More-Than-Human World, New York 1996.
ANDERMANN, Jens: Entranced earth. Art, extractivism, and the end of landscape. Evanston 2023.
BERLEANT, Arnold: The Aesthetics of Environment. Philadelphia 1992.
BÖHME, Gernot: Atmosphäre. Frankfurt am Main 1995.
— Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001.
BROWN, Charles S. / TOADVINE, Ted (Hg.): Eco-phenomenology: Back to the Earth Itself. New York 2003.
BÜTTNER, Nils: Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst, Göttingen 1998
HEPACH, Maximilian Gregor und LÜDER, Catharina: Sensing Weather and Climate. Phenomenological and Ethnographic Approaches, in: Environment and Planning, Nr. 3 (September 2023), S. 350–68.
INGOLD, Tim: Earth, Sky, Wind, and Weather, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 13, Nr. 1 (April 2007).
JULLIEN, François: Von Landschaft leben oder Das Ungedachte der Vernunft, Berlin 2016.
KREBS, Angelika: Das Weltbild der Igel. Naturethik einmal anders, Basel 2021.
MORTON, Timothy: Ecology without nature. Rethinking environmental aesthetics, Cambridge 2007.
OBERT, Matthias: Qi und die Theorie der Landschaftsmalerei in China, in: Das Reich der Mitte, in Mitte: Studien Berliner Sinologen, hg. v. Florian C. Reiter, Wiesbaden 2006, S. 71–93.
PELLUCHON, Corine: Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung. Darmstadt 2021.
RAHM, Philippe und SCUDERI, Massimiliano: Philippe Rahm Architects, Atmosfere Costruite: L'architettura Come Design Meteorologico, Mailand , 2014, S. 26.
RITTER, Joachim: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Münster 1963.
SCHMITZ, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 2018.
Quellennachweis:
CFP: in Landschaft denken (Leifers, 22-29 Nov 25). In: ArtHist.net, 11.01.2025. Letzter Zugriff 21.01.2025. <https://arthist.net/archive/43651>.