CFP 06.09.2024

Positionen zum fotografischen Verschwinden (Paris/Basel, 3 Jul-17 Oct 25)

Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris / eikones Basel, 03.07.–17.10.2025
Eingabeschluss : 15.10.2024

Dennis Jelonnek

[English version below]

Auflösungs/Erscheinungen. Positionen zum fotografischen Verschwinden | Dis/appearance in and of Photography.

Organisation: Dennis Jelonnek (Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris) und Aïcha Revellat (eikones, Universität Basel).

„Das Flüchtigste aller Phänomene, ein Schatten, dieses sprichwörtliche Sinnbild all dessen was vergänglich und an den Moment gebunden ist, kann durch den Zauber unserer ‚Naturmagie‘ für immer in derjenigen Position gebannt werden, die es nur für einen einzigen Augenblick einzunehmen bestimmt schien.“[1] Zu dieser Formulierung fand William Henry Fox Talbot im Jahr 1839 angesichts seiner Entdeckung eines Verfahrens, das die dauerhafte Aufzeichnung fotografischer, also durch Lichteinwirkung hergestellter Bilder ermöglicht. Talbots Rhetorik ist an dieser Stelle bestrickend darin, elementare Merkmale des neuen Bildmediums elegant auf den Punkt zu bringen; zugleich ist sie geprägt von überbordender Euphorie. Vor allem was die Verheißung von Dauerhaftigkeit der auf einen Träger gebannten flüchtigen fotografischen Bilder angeht – „für immer“ – waren von Beginn an Zweifel angebracht. Die Ungewissheit, wie lange diese haltbar sein würden und die Angst um deren letztlich unweigerliches Verschwinden ließen sich als die dunkle Seite dessen interpretieren, worin Talbot „Naturmagie“ sah. Mitunter herrscht bis heute Verunsicherung, in welcher Weise und über welche Zeiträume sich die Bilder der mannigfaltigen fotografischen Verfahren unabsehbar zersetzen werden. Denn „im Grunde ist jedes Ding immer schon Müll, jedes Gebäude immer schon Ruine und alles Schaffen nichts als Zerstörung, so auch das Werk all jener Disziplinen und Institutionen, die sich rühmen, das Erbe der Menschheit zu bewahren.“[2]

Fast zweihundert Jahre später verlangt die nie dagewesene Allgegenwärtigkeit fotografischer Bilder verstärkt nach Auseinandersetzungen mit ihrer Bedeutung und ihrem Nutzen. In ihrer Sammlung von Essays Über Fotografie vergleicht Susan Sontag 1977 diese ephemere Natur der Inhalte von Fotografien mit Ludwig Wittgensteins Ausführungen zu sprachlichen Äußerungen als einzig in der menschlichen Praxis Sinn entfaltende Entitäten. Was Wittgenstein im Blick auf Worte erklärte, gelte ebenso für Fotografien: "Die Aussage ist eine Funktion des Zwecks. Und aus ebendiesem Grunde tragen Gegenwart und Vermehrung aller Fotografien zur Aushöhlung des Begriffs der Aussage selbst bei, zu jeder Aufsplitterung der Wahrheit in relative Wahrheiten, die für das moderne liberale Bewusstsein eine Selbstverständlichkeit ist.”[3] Auch auf der Ebene ihrer Aussage erweisen sich Fotografien also als instabil: Veränderungen des Kontexts gehen immer auch mit dem Verschwinden ihrer vermeintlich eindeutigen Aussagen einher, auch sie sind grundsätzlich ephemer.

Die Geschichte der Fotografie war so gesehen immer auch eine Geschichte des Anarbeitens gegen ihr Verschwinden, das zahllose Formen kennt. Auf diese variantenreiche Geschichte möchten wir unsere Aufmerksamkeit richten. Denn die Instabilität fotografischer Bilder und ihrer Träger stellt nur eine von vielen Formen dar, wie die Fotografie als materielles Objekt, als technisches Bildmedium, als Träger von Information und als Metapher mit dem semantischen Feld des Verschwindens in Verbindung trat und tritt: etwa in Form von Prozessen und Zuständen der Störung und des Rauschens, des Verlustes und der Abwesenheit, der Zensur, der Löschung und der Auflösung von Bedeutung; diese Phänomene betreffen einzelne Bilder, deren Motive, bestimmte Techniken; sie ereignen sich und sie begegnen uns im Alltag, im professionellen Umgang mit Fotografien und ihrer künstlerischen Verwendung auf jeweils spezifische Weise. Nicht zuletzt ist ihr Auftreten nicht grundsätzlich als negativ oder katastrophisch anzusehen. Wo etwas verschwindet, entsteht etwas: Aufmerksamkeit und Fragestellungen, ungeahnte Möglichkeiten und das Potential zu neuen Entwicklungen.

In Veranstaltungen und Texten zum Thema möchten wir im Austausch unter Kolleg:innen vielfältige Formen dieses Verschwindens zur Erscheinung bringen – sowohl im Hinblick auf deren defizitären Charakter, als auch auf ihre inhärenten Chancen. Interessierte Forscher:innen aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen laden wir ein, sich mit relevanten Beitragsvorschlägen bei uns zu melden. Wir streben ein konzentriertes Werkstattformat an, das auf die Erstellung einer gemeinsamen Publikation abzielt. Diese soll ein breites Spektrum von Phänomenen des Verschwindens in Bezug auf Fotografien und fotografische Medien versammeln; in Form konziser und kompakter Fallstudien, die zugleich von dem persönlichen methodischen Umgang der Autorin/des Autors mit dem Objekt/Thema der Untersuchung zeugen. Anstelle von herkömmlichen Vorträgen bitten wir daher im Vorfeld unserer Treffen um die Einsendung von Texten (max. 25.000 Zeichen), die dann unter ausgewählten Teilnehmer*innen zirkulieren. Sie stellen die Diskussionsgrundlage für eine Reihe von Gesprächen am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und an der Universität Basel dar, die auch über die gemeinsamen Workshops hinausreichen sollen.

[1] William Henry Fox Talbot: Some Account of the Art of Photogenic Drawing, or the Process by which Natural Objects may be made to delineate themselves without the aid of the Artist’s Pencil, London 1839, S. 6.
[2] Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste, Berlin 2018, S. 16.
[3] Susan Sontag: “Der Heroismus des Sehens”, in: Über Fotografie, Frankfurt/Main 1980. S. 84-110, S. 194.

Nachfolgend einige thematische Felder, die hierfür von Interesse sind, aber keinesfalls darüber hinausreichende Vorhaben ausschließen:

Das Verschwinden des im Bild Bedeuteten/des Referenten
• Fotografische Ikonografien des Verschwindens
• Fotografische Temporalität(en): Nachträgliche Betrachtungen des Vergangenen
• Marginalisierte gesellschaftliche Gruppen und Körperbilder in der Fotografie
Das Verschwinden des Abgebildeten im Bild
• Das Bild als Fragment/Ausschnitt, der die Welt jenseits seiner Ränder verschwinden lässt
• Verschwinden im Mikro- und Makrobereich, auf dem Bildschirm und dem Fotopapier, etc.
• Übertragungsgewinne/-verluste, etwa im Zuge der Digitalisierung, der Kolorierung, etc.
• Ästhetische Phänomene wie Blurs, Unter- und Überbelichtung
• Formen analoger und digitaler Manipulation, etwa durch Retusche oder Zensur
• Fotografie als Dokumentationsmedium ökologischen Wandels
Das Verschwinden des Bild(objekt)es
• Die materielle Vergänglichkeit des Bildkörpers
• Bildrückseiten, die sich der Beachtung und Betrachtung entziehen
• Das Verschwinden und Wiederfinden fotografischer Bilder/Konvolute in Archivkontexten
• Konkretionen des Verschwundenen: Bildverluste etwa in Kontexten von Flucht und Migration
• Das (potentiell absehbare) Verschwinden fotografischer Techniken und Bildträger aufgrund von Rohstoffknappheit
Das Verschwinden von fotografischen Verfahren und Apparaten
• Obsoleszenz und fotografietechnische Weiterentwicklung
• Strategien des Bewahrens im Angesicht des Verschwindens
• Frühe und seltene Techniken und Formate, die sich nicht durchsetzen konnten
• Chancen und Risiken des fotografischen Archivs
• Die Transparenz die fotografischen Mediums, die Verschleierung technischer Verfahren
• Intermedialität und das Verschwinden des Fotografischen, beispielsweise fotorealistische Malerei

Sinnbildliche Formen fotografischen Verschwindens
• Das Verschwinden als Prozess, das Verschwinden als (metaphorisches) Ereignis
• Fragilität und ‚Tod‘ der Fotografie als Sinnbilder menschlicher Vergänglichkeit
• Fantasmen und Mythen des (fotografischen) Verschwindens

Zeitplan
• Frist für die Bewerbung mit einem Abstract (max. 3000 Zeichen): 15.10.2024
• Benachrichtigung über Zu- und Absagen: 31.10.2024
• Termine für die gemeinsamen Workshops: 03./04.07.2025 in Paris, 16./17.10.2025 in Basel

Organisatorisches
• Alle Zeichenangaben für einzureichende Texte verstehen sich inkl. Leerzeichen und Fußnoten
• Ein Stylesheet für die Formatierung der Texte wird zusammen mit der Zusage versendet
• Veranstaltungssprachen und Sprachen, in der die Texte verfasst werden können: Deutsch und Englisch
• Reisekosten und eine Hotelübernachtung werden von DFK Paris / eikones Basel übernommen

Kontakt
Bitte senden Sie ihre Bewerbungen an:
Dennis Jelonnek (Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris): djelonnekdfk-paris.org
Aïcha Revellat (eikones, Universität Basel): aicha.revellatunibas.ch

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Dis/appearance in and of Photography.

Organization: Dennis Jelonnek (German Center for Art History Paris) and Aïcha Revellat (eikones, University of Basel).

„The most transitory of things, a shadow, the proverbial emblem of all that is fleeting and momentary, may be fettered by the spells of our ‘natural magic,’ and may be fixed forever in the position which it seemed only destined for a single instant to occupy.“[1] This is how William Henry Fox Talbot described, in 1839, his discovery of a method that enables the permanent recording of photographic images—images created by the exposure of a sensitive surface to light. Talbot’s rhetoric is compelling, elegantly capturing the fundamental features of the new medium; at the same time, it is characterized by exuberant euphoria. Concerning the promise of permanence for the fleeting photographic images captured on a medium—"forever"—doubts were warranted from the outset. The uncertainty about how long these images would last and the fear of their inevitable disappearance can be interpreted as the dark side of what Talbot considered "natural magic." To this day, there remains uncertainty about how and over what periods the images produced by the manifold photographic processes will unpredictably deteriorate. For "in essence, everything is always already garbage, every building is always already a ruin, and all creation is nothing but destruction, including the work of all those disciplines and institutions that pride themselves on preserving humanity’s heritage."[2]

Almost two hundred years later, the unprecedented omnipresence of photographic images increasingly demands a closer examination of their meaning and utility. In her 1977 collection of essays On Photography, Susan Sontag compares the ephemeral nature of photographic content to Ludwig Wittgenstein's reflections on linguistic expressions, which, as entities, only unfold their meaning within human practice. What Wittgenstein explained in relation to words applies equally to photographs: "It is in this way that the presence and proliferation of all photographs contributes to the erosion of the very notion of meaning, to that parceling out of the truth into relative truths which is taken for granted by the modern liberal consciousness."[3] Photographs also prove to be unstable at the level of their statement: changes in context always go hand in hand with the disappearance of their supposedly unambiguous meaning; they too are fundamentally ephemeral.

In this light, the history of photography has always been a history of working against its disappearance, which takes countless forms. We would like to focus our attention on this varied history. For the instability of photographic images and their carriers represents only one of the many ways in which photography as a material object, as a technical image medium, as a carrier of information and as a metaphor has entered and continues to enter into the semantic field of disappearance: for example, in the form of processes and states of disruption and noise, loss and absence, censorship, deletion and the dissolution of meaning; these phenomena affect individual images, their motifs, certain techniques; they occur and we encounter them in everyday life, in the professional handling of photographs and their artistic use in specific ways in each case. Last but not least, their occurrence should not be seen as fundamentally negative or catastrophic. Where something disappears, something potentially comes into being: attention and questions, unexpected possibilities and the potential for new developments.

We seek to shed light on the diverse forms of disappearance—both in terms of their deficits and their inherent opportunities—by exchanging with colleagues. We invite interested researchers from the humanities to submit relevant proposals. We aim for a focused workshop format that will lead to the creation of a joint publication. This publication will gather a broad spectrum of phenomena of disappearance related to photographs and photographic media, presented in concise and compact case studies that also reflect the personal methodological approach of the author to the object/topic of investigation. Instead of traditional presentations, we ask for the submission of texts in advance of our meetings, which will then circulate among selected participants. These texts will form the basis for a series of discussions at the German Forum for Art History (DFK) in Paris and at eikones­­– Center for the Theory and the History of the Image in Basel.

[1] William Henry Fox Talbot: Some Account of the Art of Photogenic Drawing, or the Process by which Natural Objects may be made to delineate themselves without the aid of the Artist’s Pencil, London 1839, p. 6.
[2] Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste, Berlin 2018, p. 16.
[3] Susan Sontag: On Photography (1977), New York 2005, p. 82.

Below are some thematic areas of interest, though they do not exclude other proposals:

The disappearance of the signified/the referent in the image
• Photographic iconographies of disappearance
• Photographic temporality(ies): Subsequent observations of the past
• Marginalized social groups and body images in photography

The disappearance of the depicted in the image
• The image as a fragment/excerpt that makes the world disappear beyond its edges
• Disappearance in the micro and macro range, e.g. on the screen and on photographic paper
• Transmission gains/losses, for example in the course of digitalization, colorization, etc.
• Aesthetic phenomena such as blurs, underexposure and overexposure
• Forms of analog and digital manipulation, such as retouching or censorship
• Photography as a medium for documenting ecological change
The disappearance of the image (object)
• The material transience of the image body
• The backs of images that elude observation and contemplation
• The disappearance and rediscovery of photographic images/clusters in archive contexts
• Concretizations of the vanished: Loss of images, for example in contexts of flight and migration
• The (potentially foreseeable) disappearance of photographic techniques and image carriers due to scarcity of raw materials
The disappearance of photographic processes and equipment
• Obsolescence and the further development of photographic technology
• Strategies of preservation in the face of disappearance
• Early and rare techniques and formats that did not catch on
• Opportunities and risks of the photographic archive
• The transparency of the photographic medium, the concealment of technical processes
• Intermediality and the disappearance of the photographic, for example photorealistic painting

Symbolic forms of photographic disappearance
• Disappearance as a process, disappearance as a (metaphorical) event
• Fragility and 'death' of photography as symbols of human transience
• Fantasies and myths of (photographic) disappearance

Timeline
• Deadline for submission of an abstract (max. 3000 characters): 15.10.2024
• Notification of acceptance/rejection: 31.10.2024
• Dates for joint workshops: 03./04.07.2025 in Paris, 16./17.10.2025 in Basel

Organizational details
• All character counts for submitted texts include spaces and footnotes
• A stylesheet for text formatting will be sent with the acceptance notice
• Event and text submission languages: German and English
• Travel expenses and one night’s hotel accommodation will be covered by DFK Paris / eikones Basel

Contact
Please submit your application to
Dennis Jelonnek (German Forum for Art History, Paris): djelonnekdfk-paris.org
Aïcha Revellat (eikones, University of Basel): aicha.revellatunibas.ch

Quellennachweis:
CFP: Positionen zum fotografischen Verschwinden (Paris/Basel, 3 Jul-17 Oct 25). In: ArtHist.net, 06.09.2024. Letzter Zugriff 26.04.2025. <https://arthist.net/archive/42503>.

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