CFP 07.04.2024

Cornelius Gurlitt: Kultur, Architektur & Gesellschaft (München, 9-10 Jan 25)

Technische Universität München, Professur für Neuere Baudenkmalpflege, Vorhoelzer Forum, 09.–10.01.2025
Eingabeschluss : 12.05.2024

Andreas Putz, TUM, Professur Neuere Baudenkmalpflege

Wissenschaftliche Tagung:
Cornelius Gurlitt: Kultur, Architektur und Gesellschaft zwischen 1870 und 1930.
Organisation: Dr.-Ing. Monika Isler Binz und Prof. Dr. Andreas Putz.

»Ich möchte an der Tafel der Kunst sitzen und mir vielerlei Gerichte schmecken lassen.«

Am 01. Januar 2025 jährt sich der Geburtstag Cornelius Gurlitts (1850–1938) zum 175. Mal. Sein umfängliches und wirkmächtiges publizistisches Werk umfasst nicht weniger als sechs Jahrzehn-te, von den frühen 1870er bis in die frühen 1930er Jahre. Gurlitts Einfluss auf die verschiedenen Reformprozesse dieser langen Epoche ›um 1900‹ beschränkte sich nicht nur auf bildende Kunst, Architektur, Denkmalpflege, Architektur- und Baugeschichte, historische Bauforschung, evangeli-sche Theologie und Kirchenbau, Städtebau, Wohnungsbau, Bildungs- und Berufspolitik – son-dern umfasst pointierte Stellungnahmen zu fast allen Kulturfragen und Zeitproblemen, zum Ge-schichts- und Moderneverständnis. In Gurlitts Schriften ist sein Selbstverständnis als Zeuge einer Epoche im Wandel deutlich spürbar, der Übergang vom Historismus zur Moderne erkennbar. Über zeitgeschichtliche Brüche hinweg überspannt Gurlitts Wirken eine historische Phase, die in der amerikanischen Historiographie als progressive era bezeichnet wird. Ganz sicherlich kann auch Gurlitt als ein ›Fortschrittlicher‹ apostrophiert werden. Aber dieser Fortschritt in Kunst und Architektur musste erst aus den kulturellen wie gesellschaftlichen Verunsicherungen des späten neunzehnten Jahrhunderts formuliert und artikuliert werden, brauchte eine Richtung und letztlich auch eine Legitimation. Seine Rückblicke auf frühere Transformationsepochen dienten der eige-nen Verortung. So vielfältig Gurlitts Netzwerke, Adressaten und Themen waren, lassen sie sich doch alle diesem Anliegen zuordnen. Dies macht eine Auseinandersetzung mit Gurlitt und seiner Zeit fruchtbar für unsere aktuellen Krisenwahrnehmungen und Debatten, nicht nur um eine ›Bau-wende‹.

Ein zaghaft aufkeimendes Interesse an Gurlitt lässt sich erst seit ungefähr zwei Jahrzehnten fest-stellen. Es fällt bis heute eher widersprüchlich aus und erfolgte zumeist aus fachspezifischer Perspektive. Eine ganzheitliche Verortung von Gurlitts Schaffens steht bis heute aus und ist an-gesichts der Breite seiner Interessen, Themen, Schriften und persönlichen wie fachlichen Netz-werke vielleicht auch kaum erschöpfend möglich. Eine überblicksartige Biographie legte Jürgen Paul erstmals 2003 vor. Eine Auswertung des in den erhaltenen Briefwechseln dokumentierten Familienlebens aus sechs Jahrzehnten publizierte Matthias Lienert 2008. Sie beruht auf der sei-tens der DFG von 2004 bis 2006 geförderten digitalen Edition des Nachlasses Gurlitts an der Technischen Universität Dresden, die aktuell einer Überarbeitung unterzogen wird und bald wie-der online öffentlich zur Verfügung stehen soll.
Unbestritten ist Gurlitts Bedeutung für die Grundlagendiskussion der deutschsprachigen Denk-malpflege nach 1900 (Hellbrügge 1991; Hanselmann 1996). Gurlitts bewusst allgemeinverständ-lich argumentierende Begründung der Denkmalpflege nimmt heutige Forderungen nach Partizi-pation und gesellschaftlicher Verantwortung vorweg. Gurlitts Eintreten für eine bewusste Diffe-renzierung von Alt und Neu an Stelle verfälschender Restaurierungen hingegen ist von Heinrich Magirius aus der Perspektive des Dresdner Wiederaufbauwillens der zweiten Jahrhunderthälfte kritisch bewertet worden (Magirius 1994, 1997). Im Gegensatz dazu hat Isabel Haupt Gurlitt zu Recht als bedeutenden Vertreter der modernen Denkmalpflege gewürdigt (Haupt 2015). Sigrid Brandt stellte heraus, dass man sich mit Gurlitt beschäftigen muss, will man die Denkmalpflege-debatte (auch) als Architekturdebatte verstehen (Brandt 2006).
Es ist jedoch kaum möglich, Gurlitt in den Kategorien der Fachkulturen zu verorten. Für Magirius ebenso wie für Hartwig Schmidt war Gurlitt nicht Architekt, sondern Kunsthistoriker (Schmidt 2000). Tatsächlich überquerte er die Grenzen zu den benachbarten Disziplinen immer wieder er-folgreich. Seine Zuordnung in das eine oder andere Fach sagt somit viel über die Positionierun-gen der jeweiligen Rezipienten. Als Kunsthistoriker zeichnete Gurlitt sich nicht nur durch seine Arbeiten zum Barock und zur Kunst des 19. Jahrhunderts aus. Mit einer auch heute noch le-senswerten Rezension beteiligte er sich an der Diskussion, die sich an Wilhelm von Bodes Kritik an der universitären kunsthistorischen Ausbildung Anfang der 1890er Jahre entzündet hatte.
Laut Johannes Heinßen verfasste Gurlitt den »wohl liebenswerteste[n] Beitrag zur Bildungsde-batte« im späten Kaiserreich (Heinßen 2003). Heinßen verbindet dessen Plädoyer für die Wert-schätzung ästhetischer Güter mit einer bewussten Einebnung bildungsbürgerlicher Grenzen. Ei-ne breitere gesellschaftliche Integration durch Bildung kann auch in der akademischen Tätigkeit Gurlitts als Hochschullehrer an der TH Dresden gesehen werden, die in Zeiten rasant steigender Studierendenzahlen erfolgte. Zwischen der Einführung der Promotionsordnung 1902 und Gurlitts Emeritierung 1921 wurden nicht weniger als 110 Architekten und eine Architektin zu Doktor-Ingenieuren promoviert, 74 mit Gurlitt als Erst- oder Zweitbetreuer der Dissertationen (Putz 2021; 2024).
Gurlitts Beschäftigung mit Fragen des neuzeitlichen Städtebaus eröffnete das Gebiet der städte-baulichen Denkmalpflege anhand der Kritik von Fluchtlinienplanungen und Straßendurchbrüchen in der gewachsenen Stadt. Sie lässt sich erstmals 1903 in seinem Vortrag anlässlich der Ersten Deutschen Städteausstellung zu Dresden fassen. Seine darauf aufbauenden Vorträge zu den Tagen für Denkmalpflege bewegten Josef Stübben zu entsprechenden Änderungen in der zwei-ten Auflage seines Standardwerks Der Städtebau (Stübben 1907) und sind auch in den Arbeiten Gustavo Giovannonis spürbar. Aus der Beschäftigung mit der Transformation der bestehenden Stadt entstand 1910 auch das städtebauliche Seminar an der TH Dresden. Dessen erste Jahre wurden 1997 im Rahmen eines Kolloquiums gewürdigt (Petzold 1997).
Die gesellschaftlichen Umbrüche seiner Zeit prägten nicht zuletzt Gurlitts Überlegungen zur Re-form des evangelischen Kirchenbaus, mit denen er weit über den Bereich der Architektur und Denkmalpflege wirkte und die ihm die Ehrendoktorwürde der Theologie der Universität Tübingen einbrachte. Seinem Wirken ist es zu verdanken, dass sich der Kirchenbau des Protestantismus vom neugotischen Ideal des Eisenacher Regulativs abwandte (Seng 1995). Die Nachwirkungen dieser Diskussionen waren noch in den Konzepten zu Volkshaus und Stadtkrone der frühen 1920er Jahre spürbar.

Der Tisch ist also mehr als reichlich mit verschiedensten Themen gedeckt!

Es ist dem Jubiläum, aber auch dieser thematischen Bandbreite angemessen, nicht einzig von der Person Gurlitts und seinem Wirken auszugehen, sondern quer zu disziplinären Fachdiskur-sen eine problemorientierte Herangehensweise zu wählen, die eine multiperspektivische Ge-samtschau einer ›Epoche im Übergang‹ erlaubt, in der Gurlitt einer der wichtigen, aber sicher nicht der einzige Akteur war. Ziel der Tagung ist es deshalb, verschiedene Transformationen und Diskurse zu beleuchten und diese für die Modernisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts ent-scheidende Phase einer neuen, womöglich auch alternativen Bewertung zu unterziehen – wobei all diese Prozesse in Cornelius Gurlitt ihren gemeinsamen Fluchtpunkt finden:

- Verwissenschaftlichung und Kulturarbeit in der entzauberten Welt
- Säkularisierung und neue Frömmigkeit in der Großstadt
- Ausbildung, Professionalisierung und Berufsorganisationen im Spätkapitalismus
- Stadtumbau, Stadterweiterung und die Ökonomie der ersten Globalisierung
- Zeit- und Geschichtsverständnisse des Fortschritts
- Sprache, Bild und Öffentlichkeit in der Architektur- und Kulturpublizistik

Erwünscht sind Beiträge, die sich bezogen auf die Zeit zwischen 1870 und 1930 mit einem oder mehreren der oben aufgeführten Themenkreise befassen und diese(n) in Bezug zu Cornelius Gurlitt setzen. In Anbetracht von Gurlitts Publizistik, die stets dialogisch auf ein Gegenüber, auf eine andere zu kommentierende, zu hinterfragende, zu widerlegende Meinung oder Position aus-gerichtet war, interessieren uns dabei auch die jeweils relevanten Gegenpositionen sowie die in diesen Streitgesprächen und -schriften ausgeblendeten Zwischenstimmen . Von besonderem Interesse sind dabei Beiträge, die von Schlüsselpublikationen Gurlitts ausgehen und diese in den zeitgenössischen Diskursen verorten.

Die Tagung richtet sich gleichermaßen an Kolleginnen und Kollegen der Kunst- und Architektur-geschichte, Denkmalpflege und Städtebaugeschichte, Stadt- und Kulturgeschichte, Wissen-schafts- und Mediengeschichte. Angestrebt ist ein transdisziplinärer Blick, der die Diskurse und Schlüsseltexte der angesprochenen Epoche auch für die aktuellen Diskussionen in Architektur, Städtebau, Gesellschaft und Kultur reaktiviert. Die Beiträge der Tagung sollen in eine Publikation einfließen, die auch relevante Texte aus dem Werk Gurlitts kommentieren und neu verfügbar ma-chen wird. Die schriftlichen Beiträge von 15.000 bis 25.000 Zeichen inkl. Abbildungen (max. 5 Stück) werden bis Ende Januar 2025 erbeten.

Vorschläge für Beiträge zur Tagung in Form von Abstracts (max. 300 Wörter) sowie einen kurzen Lebenslauf reichen Sie bitte bis 12. Mai 2024 an mailnb.ar.tum.de (Stichwort: Gurlitt) ein.

Quellennachweis:
CFP: Cornelius Gurlitt: Kultur, Architektur & Gesellschaft (München, 9-10 Jan 25). In: ArtHist.net, 07.04.2024. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/archive/41570>.

^