Sep 20, 2023

Jean-Louis Cohen (1949–2023)

Hartmut Frank

Jean-Louis Cohen
(20.7.1949-7.8.2023)

Jean-Louis Cohen war der bedeutendste und international am besten vernetzte Architekturhistoriker der letzten fünfzig Jahre. Die Nachricht von seinem plötzlichen Tod war ein Schock für die vielen Freunde, Schüler, Weggenossen, Bewunderer. Eine allergische Reaktion auf einen simplen Wespenstich hat ihn mitten aus einer produktiven Arbeitsphase gerissen. Er machte Urlaub in dem alten Bauernhaus, das er sich oberhalb von Largentière in der Ardêche als Ferienhaus ausgebaut hatte, einer Art von Heimat für diesen zwischen Paris, New York, Rotterdam und vielen anderen Orten pendelnden Weltenwanderer.

Jean-Louis Cohen wurde in Paris geboren und wuchs in dem intellektuellen und politisch aktiven Milieu einer Familie auf, die durch die Erfahrung des Vaters in der Resistance und der Mutter in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz geprägt war. Beide Eltern waren vielbeschäftigte Universitätsprofessoren. Er verbrachte schon zur Schulzeit die Sommer in Ländern Ost- und Westeuropas. Deshalb beherrschte er sieben oder acht moderne Sprachen und entwickelte sich zu einem internationalen Kommunikator. Er war ein unermüdlicher Forscher und Büchersammler, verfasste zahllose Essays und Bücher, organisierte Konferenzen und Kolloquien, gestaltete großartige Ausstellungen und lehrte rund um den Globus. Mit seinen Arbeiten hat er entscheidende Anstöße zu Revisionen der Architektur- und Städtebaugeschichte gegeben, die unter den Dogmen einer nur noch als Stilrichtung gesehenen Moderne zu verdorren drohte. Einer ganzen Generation von Architekturhistorikern und -theoretikern hat er Anstöße zu einer neuen Reflexion über ihre Disziplin und zur Erneuerung ihrer akademischen Lehre und Forschung gegeben.

Nach einem Studienabschkuß an der Pariser École spéciale d’architecture engagierte er sich beim Neuaufbau des nach 1968 zusammengebrochenen Architektur-Ausbildungssystem der École des Beaux Arts in eigenständigen Unités Pédagogiques und begann er als selbständiger Architekt und Stadtplaner zu arbeiten, was er gern erwähnte, wenn er als Kunsthistoriker tituliert wurde. Ab 1976 beriet er zehn Jahre lang die Stadt Villejuif bei Paris in Stadtplanungs- und Denkmalpflegefragen. 1984 erhielte er dort den Auftrag, die von André Lurçat 1930–33 erbauten Karl-Marx-Schulen denkmalgerecht zu renovieren. Das historische und aktuelle Verhältnis von Architektur und Städtebau zur Politik wurde fortan ein zentrales Thema seiner weiteren Forschung und seiner etwa zur gleichen Zeit beginnenden Lehre an der Unité Pédagogique 6 Paris-Villemin.

1974 war er an der Organisation des Kongresses „pour un urbanisme…“ in Grenoble beteiligt und hat zusammen mit dem Soziologen François Ascher in einer Sondernummer der Zeitschrift „Nouvelle Critique“ sämtliche Rede- und Diskussionsbeiträge veröffentlicht. An dem von der kommunistischen Partei initiierten Kongress hatten hunderte von namhaften Soziologen, Philosophen, Stadtplanern und Architekten aus ganz Frankreich teilgenommen. Er sollte die nach 1968 entstandenen Reforminitiativen zu einer einheitlichen, sozial orientierten Städtebaupolitik zusammenzuführen. Sein eigenes Referat über den Städtebau der jungen Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit verriet noch stark den Einfluss seines Lehrers Anatole Kopp. Jean-Louis Cohen blieb diesem Themenfeld lebenslang treu und wurde zu einem der besten Kenner und Analytiker der sowjetischen Planung, u. a. 1979 als wichtigster Berater für Architektur in der großen Ausstellung „Paris-Moscou“ des Pariser Centre Pompidou. Seine Monographie über „André Lurçat“, der von 1932–1937 in der UdSSR gearbeitet hat, konnte erst 1995 erscheinen, basierte aber auf seiner Dissertation, die er schon 1985 bei Hubert Damisch an der EHESS in Paris vorgelegt hatte; dort hat er sich 1991, ebenfalls für Kunstgeschichte, auch habilitiert.

Die Lehre ließ ihm immer weniger Zeit für die praktische Architektenarbeit. Aber er blieb in Fragen der Bildungspolitik engagiert, um die französische Architektenausbildung stärker sozial und wissenschaftlich statt wie bisher nur künstlerisch auszurichten. Ein Aufbaustudium sollte auch Architekten die Promotion und wissenschaftliche Forschung ermöglichen, was ihnen an den künstlerischen Hochschulen bisher verwehrt war. Für das Bildungsministerium arbeitete er an einem entsprechenden Programm. Viele der heute Lehrenden haben, betreut von Jean-Louis Cohen und Yannis Tsiomis, ein solches Aufbaustudium durchlaufen. Ebenfalls zur Beförderung einer architekturspezifischen Forschung an den Architekturschulen gründete er zusammen mit mehreren Kollegen die Schriftenreihe „in extenso“, in deren erstem Band er 1984 eine eigene Arbeit veröffentlichte: Das kleine Buch über die „Italophilie“ ist eine meisterlich komplexe Zusammenfassung der Umbruchsituation im Selbstverständnis der Architekten, die der Weltöffentlichkeit 1980 in der ersten Architektur-Biennale von Venedig erstmals vor Augen geführt worden war. Er beschreibt, wie die französischen Architekten voller Bewunderung die theoretische Diskussion in ihrem Nachbarland wahrgenommen haben. Dies war der Auftakt zu seinen grenzüberschreitenden Forschungen und Kooperationen mit Kollegen in Italien, Deutschland, den Niederlanden, den Vereinigten Staaten und bald auch Russlands, Brasiliens und anderer Länder mehr.

1994 erhielt Jean-Louis Cohen den Ruf auf die renommierte „Sheldon H. Solow“ Stiftungsprofessur „für Architekturgeschichte am Institute of Fine Arts der New York University“. Mit diesem Sprung über den Atlantik bekam er die Möglichkeit zur vertieften Bearbeitung seines bereits entwickelten Forschungsinteresses an den Auswirkungen der amerikanischen auf die ost- und westeuropäische Bau- und Planungskultur. Was nach der Jahrtausendwende auf verschiedenste Weise in einer fulminanten Sequenz von großen Ausstellungen im MoMA in New York und im CCA Montreal Spuren hinterlassen hat und den dogmatisch verfestigten Interpretationen der europäischen Baugeschichte neue Wege weist.

Zugleich führte er seine Pariser Aktivitäten fort. Er war maßgeblich an der großen Ausstellung „L’aventure de Le Corbusier“ 1987 im Centre Pompidou beteiligt. „Corbu“ hat er noch eine Reihe weiterer Ausstellungen an verschiedenen Orten gewidmet, zuletzt 2013 die zusammen mit Barry Bergdoll kuratierte Schau im MoMA: „Le Corbusier: An Atlas of modern Landscapes“. Daneben übersetzt er Texte Le Corbusiers ins Englische und ins Deutsche und veröffentlicht Essays und Aufsätze in Zeitschriften, Sammelbänden und Katalogen in kaum zu überschauender Zahl.

Im Hochschulbereich arbeitete er eng mit seiner Ehefrau, der Psychologin Monique Eleb zusammen. Mit ihr veröffentlichte er 1998 „Casablanca, mythes et figures d’une aventure urbaines“, eine breit angelegte Forschungsmonographie über die Planung und Architektur einer Stadt, aus der Eleb als Kind mit ihren Eltern fliehen musste, und die der französischen Kolonialverwaltung lange als Versuchsfeld für Planungskonzepte gedient hat. Zur gleichen Zeit, von 1986 bis 1989 betreute er zusammen mit Hartmut Frank das von der Volkswagen-Stiftung finanziertes Projekt: „Deutsch-französische Beziehungen 1940–1950 und ihre Auswirkungen auf Architektur und Stadtgestalt“, bei dem eine französische und eine deutsche Forschungsgruppe gemeinsam die Planungsgeschichte der wechselseitigen Besatzungsgebiete in den beiden betroffenen Ländern über den Zeitraum von 1940 bis 1950 untersucht haben. Dieses Projekt fragte nach Kontinuitäten und Zusammenhängen der Zeit von 1940 bis 1950, die es nach allgemeinem Verständnis der Zäsur von 1945 gar nicht geben konnte. Dies galt auch für die geografischen Grenzen, die sich im Untersuchungsgebiet mehrfach verschoben haben. Letztlich wurde damit die Bedeutung nationaler Kulturen und ihrer Ausprägung in der Architektur grundsätzlich in Frage gestellt. Für Jean-Louis Cohen wurde diese Forschungsarbeit zum Ausgangspunkt seiner stark beachteten, Dogmen sprengende Ausstellung und Veröffentlichung über die weltweite Entwicklung der Bau- und Planungskultur während des 2. Weltkriegs: „Architecture en uniforme“, die 2011 zuerst im CCA in Montreal und dann noch mehrfach andernorts gezeigt wurde. Ein weiteres Folgeprojekt, wieder mit Hartmut Frank, wurde 2013 die Ausstellung „Interferenzen/Interference Allemagne – France 1800–2000“, die erst im MAMCS in Strasbourg und dann im DAM in Frankfurt am Main gezeigt wurde.

Mit dem offiziellen Auftrag des französischen Staates von 1998, im Pariser Palais Chaillot eine „Cité de l’architecture et du patrimoine“ einzurichten, schien Jean-Louis Cohen dem Ziel seiner Bestrebungen um eine grundsätzliche Aufwertung der Architektur im Bewusstsein der Bevölkerung und im Selbstverständnis der Architekten- und Stadtplanerdisziplin einen entscheidenden Schritt näher gekommen zu sein. Er entwickelte das gewünschte Konzept und machte es international bekannt. Mit diesem Auftrag und der gleichzeitigen Ausstellungstätigkeit im Institut français d’architecture und im Pavillon d l’Arsenal hatte er politisch-administrativ eine Machtfülle erreicht, die Widerspruch hervorrief und auch Neid in anderen Kulturbereichen weckte, in denen man eine Zurücksetzung gegenüber der Architektur befürchtete. Es gab Pressekampagnen und Jean-Louis Cohen wurde deshalb 2003 von allen diesen Aufträgen wieder entbunden. In seiner Arbeit als Wissenschaftler war er dadurch nicht aufzuhalten, zumal nicht jenseits des Atlantiks. Seine kulturpolitische Wirksamkeit als Berater des CCA, des MoMA, der Getty Foundation und verschiedener anderer Institutionen verband er mit einer unglaublichen Produktivität, die ihn zum weltweit führenden Historiker und Interpreten der modernen Architektur des 20.Jahrhunderts aufsteigen ließ.

Als er 2013 kurz vor seiner Emeritierung am Ifu (Institut français d‘urbanisme) stand, besann man sich in Paris wieder auf ihn, der inzwischen international zahlreiche Ehrungen, Anerkennungen und Preise gewonnen hatte, und berief ihn als Gastprofessor für eine Reihe von Jahren an das Collège de France in Paris. Daneben wurde er 2014 zum Kommissar des französischen Pavillons auf der XIV. Architekturbiennale in Venedig ernannt. An seinem weltweiten Pendlerdasein hat das wenig geändert. Seine New Yorker Professor am Institute of Fine Arts blieb ihm lebenslang erhalten. Er betreute weiterhin Doktoranden-Seminare in Princeton, in Sao Paolo, am Berlage-Institut in Delft und sicherlich noch an einigen anderen Orten. Sein plötzlicher Tod riss ihn mitten aus großen Projekten. Die auf 8 Bände angelegte Veröffentlichung des Gesamtwerkes von Frank Gehry blieb unvollendet. Aber noch im Mai konnte er zusammen mit Vanessa Grossmann in Matosinhos in Portugal eine eindrucksvolle Ausstellung zum Werk des brasilianischen Architekten Poulo Mendes da Rocha eröffnen und Ende Juli in der Power Station of Art in Shanghai die Ausstellung „Exploring Modernity in Paris 1914–1945“.

Eine Analyse und Einschätzung seines Werkes muß noch warten bis Jüngere, weniger als ich persönlich Betroffene, diese kolossale Arbeit auf sich nehmen. Sie wird sich lohnen.

Hartmut Frank

(eine ausführlichere Version dieses Nachrufes erscheint in englischer Sprache in der Zeitschrift Planning Perspectives https://doi.org/10.1080/02665433.2023.2251217 )

Reference:
Jean-Louis Cohen (1949–2023). In: ArtHist.net, Sep 20, 2023 (accessed May 11, 2025), <https://arthist.net/archive/40139>.

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