Verschränkte Welt. Medien, Modelle und Diskurse mittelalterlicher Meteorologie
Call for Papers für das Themenheft 2024/1 von Das Mittelalter: Perspektiven mediävistischer Forschung der Verbandszeitschrift des Mediävistenverbands e.V.
Meteorologische Phänomene waren im Mittelalter mehr als nur alltägliche, allgegenwärtige Begleiter des Menschen. Die Tatsache, dass Wind, Regen, Blitze oder Wolkenformationen sowie andere Phänomene der Atmosphäre Faktoren darstellten, die das Schicksal des Zusammen- und Überlebens von Gemeinschaften und Individuen zu Land und zur See entscheidend bestimmen konnten, war freilich stets ein gewichtiger Grund, diese zu untersuchen, sich ihnen anzunähern und sie einzuordnen. Noch herausfordernder war jedoch der Umstand, dass derartige Phänomene vielfach als Resultate einer Verschränkung galten, durch deren prüfende Betrachtung die sichtbare meteore Wirklichkeit mit den weniger sichtbaren kosmologischen Strukturen des Universums in sinnvolle Zusammenhänge gestellt werden konnte. Um letztlich beide begreifbar zu machen, bezog man das „hier unten“ auf das „dort oben“, das „Hiesige“ auf das „Dortige“, das „Sichtbare“ auf das „Unsichtbare“ – das Menschliche auf das Göttliche. Kaum ein Phänomenbereich steht mehr für diese Verbindung, oder überhaupt für die Möglichkeit derselben, als der meteorologische.
Sowohl die Annäherung wie auch die anschließende Theoriebildung vollzogen sich im Mittelalter neben einer Vielzahl an Texten auch anhand
von Diagrammen, Bildern und Darstellungen. Dabei trugen die Repräsentationsformen meteorologischer Phänomene bzw. ganz allgemein ihre künstlerische Repräsentation signifikant zu ihrer wissenschaftlichen Erschließung bei und waren wichtiger Bestandteil in der Erarbeitung von Erklärungsmodellen (oder auch deren Ergebnis).
Dadurch ergab sich nicht nur im Gegenstand der Untersuchung, sondern auch in ihrem Vorgang selbst eine Verschränkung verschiedener textlicher und bildlicher Darstellungsbzw. Betrachtungsmodi, die außerhalb der sich mit meteorologischen Phänomenen befassenden Werke ihresgleichen sucht: Berichte wurden verglichen und verbildlicht, Bilder wurden kopiert und kommentiert, Theorien wurden analysiert und modelliert, Vorkommnisse wurden nüchtern tradiert und enthusiastisch illustriert.
Eine weitere, dritte Verschränkung findet sich zudem im Wirkungsbereich meteorologischer Phänomene und in der großen Anzahl der von ihnen betroffenen Professionskulturen. Neben Philosophie und Theologie, Kunst und Literatur waren es unter anderen vor allem auch Medizin, Pharmakologie und Landwirtschaft, die von ihnen geprägt, merkantile, politische und soziale Strukturen, die von ihnen bedingt, Architektur, Stadtplanung und Schiffsbau, die von ihnen abhängig waren. Zugehörige Dokumente und Aufzeichnungen, Theorien und Folklore, Kenntnisse, Erfahrung und mehr bereicherten den umfassenden Diskursrahmen, in dem vormoderne meteorologische Theorien, Modelle, Analysen und Darstellungen verhandelt wurden: Die Medien, Modelle und Diskurse der Meteorologie wurden für Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Naturphilosoph:innen und Praktiker:innen zum Kristallisationspunkt der gemeinsamen Auseinandersetzung mit oder über meteorologische Vorkommnisse und deren Entstehung, und trugen dazu bei, diese einzuordnen, zu verstehen oder auch spirituell auszudeuten.
Trotz der Fülle an erhalten gebliebenen Bildern und Darstellungen, Beschreibungen und Aufzeichnungen, wissenschaftlichen Annäherungen und Theorien sowie Plänen und Praktiken wurde die Meteorologie als historische Wissenschaft in ihren vielfältigen Ausprägungen von der Forschung bisher weitgehend vernachlässigt. Tatsächlich wird der Begriff gerade einer mittelalterlichen Meteorologie in Beiträgen der Moderne vielfach als Oxymoron ausgewiesen, obwohl die intensive und im beschriebenen Sinne vielfach verschränkte Beschäftigung mit meteorologischen Phänomenen eine sehr viel längere Geschichte wissenschaftlicher Erklärungsbemühungen aufweist, als es bisweilen zugestanden wird, und sie nicht zuletzt auch im Mittelalter geradezu zeitlos sowie sprach-, religions- und kulturübergreifend von großer Bedeutung war.
Gerade dieses Thema lädt zu einem inter- und transdisziplinären Themenheft ein, in dem sich Kolleg:innen aus der Wissenschafts-, Philosophie- und Kunstgeschichte, aus den Literaturwissenschaften, den Theologien und der Religionswissenschaft sowie den historischen Fächern der Bewältigung meteorologischer Phänomene widmen. Gemeinsam soll gezeigt werden, wie in verschiedenen Kulturen und Zeiten des sogenannten Mittelalters – bzw. auch über diese hinweg – Phänomene des Himmels sowohl Ausgangs- als auch Zielpunkt der Theoriebildung wurden. Das Themenheft wird nicht nur die umfassende, existentielle Bedeutung der Meteorologie als wissenschaftliches Bemühen im Mittelalter aufzeigen, sondern auch die religiöse Dimension von Wetterphänomenen und ihren Beitrag zu jeweiligen Deutungszusammenhängen prüfen. Die aktuellen Wechselbeziehungen zwischen Klimawandel, Pandemie und Wissenschaftsskepsis zeigen zudem, wie wichtig es ist, die grundlegenden Mechanismen solcher Beziehungen in einer perioden- und kulturübergreifenden, interdisziplinären Perspektive zu betrachten.
Besonders willkommen sind etwa Analysen von Modellen der Verschränkung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt oder dem Verhältnis von Kosmologie und Beobachtung am Beispiel meteorologischer Phänomene; Darstellungen der interkulturellen Bedeutung von Wetterereignissen; Auswertungen von Beschreibungen meteorologischer Vorkommnisse in literarischen Texten oder illuminierten mit Blick auf die Meteorologie verhandeln; sowie Betrachtungen von Deutungspraktiken von Wetterphänomenen, zur Himmelsschau und Prophetie als Praxis, zum Verhältnis von Astronomie, Astrologie, Heilkunde und Religion. Weitere Themen und Schwerpunktsetzungen von Autor:innen aller mediävistischen Disziplinen sind darüber hinaus ebenso willkommen. Die Beiträge dürfen selbstverständlich auch interdisziplinär aufzeigen, dass und wie sich Reflexionen, Imaginationen und Praxisformen von mittelalterlicher Meteorologie in Schrift- und Bildquellen zu spezifischen Konfigurationen mit eigenem epistemischem Potenzial verbinden. Gerade hierin vermuten wir eine große Chance, die vormoderne Geschichte der
Meteorologie als Wissenschaft neu zu beleuchten.
Wir bitten um Abstracts von etwa 300–500 Wörtern auf Deutsch oder Englisch bis zum 15.11.2022. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an die beiden Herausgeber:innen:
• Prof. Dr. Beate Fricke Ältere Kunstgeschichte, Universität Bern beate.frickeunibe.ch
• Ass. Prof. Dr. Andreas Lammer Geschichte der Philosophie, Radboud Universiteit Nijmegen - andreas.lammerru.nl
Planung des weiteren Ablaufs:
• Ende Dezember 2022: Auswahl der Beiträge und Zusage an die Autor:innen
• Mitte Juni 2023: Einsendung der Beiträge; Weitergabe der Beiträge in die Begutachtung
• 06.–07. Oktober 2023: Heft-Workshop im Stil einer Autor:innenkonferenz zur
Diskussion der Beiträge
• 02. November 2023: Abgabe der auf Grundlage der Gutachten des Peer Reviews
und der Diskussion im Rahmen des Workshops überarbeiteten Beiträge
• Ende Februar 2024: Versand der lektorierten Beiträge zur letzten Prüfung an
die Autor:innen
• Ende April 2024: Versand der Druckfahnen an die Autor:innen
• Juni 2024: Erscheinungstermin online und im Buchhandel
Reference:
CFP: Das Mittelalter, Themenheft 2024/1. In: ArtHist.net, Nov 9, 2022 (accessed Jul 17, 2025), <https://arthist.net/archive/37882>.