Der Workshop rückt aus interdisziplinärer Perspektive Verschiebungen im Ortsverständnis und der Ortserfahrung in den letzten Jahrzehnten in den Blick. Angesichts der Globalisierung der ‚Weltgesellschaft‘ und ihrer zunehmend erkennbaren Interdependenz mit dem planetarischen Ökosystem wird das Verhältnis von Lokalität und Globalität seit den 1970er Jahren neu gedacht. Es steht nicht mehr wie in klassischen modernistischen wie modernismuskritischen Narrativen eine ‚universelle Rationalität‘ historisch gewachsenen und materiell bedingten ‚lokalen Kulturen‘ gegenüber. Dieses Schema, das noch in den Klagen aus Anthropologie und Phänomenologie über das Verschwinden ‚authentischer‘ Orte (und das Wuchern von ‚Nichtorten‘) wirksam bleibt, scheint obsolet geworden. So haben die post-colonial studies den Eurozentrismus der hier leitenden Konzeption einer zur abstrakten Macht der epistemischen und bürokratischen Rationalität sublimierten Moderne sichtbar gemacht. Vor allem aber hat die aus gewaltvollen globalen Verflechtungen bestehende konkrete Moderne, die Moderne der kolonialen und industriellen Ausbeutung, den Planeten Erde so umfassend in den Griff genommen, dass sie noch die ‚entlegendsten‘ Orte bis in ihre Materialität hinein maßgeblich affiziert und verändert.
Vor diesem (diskurs-)geschichtlichen Hintergrund, der in die aktuelle Debatte um die Epoche des Anthropozäns (oder des Capitalocene, Plantagocene oder Chtulucene) Eingang findet, wird die Spezifik von Orten neu gedacht. Sofern der Planet selbst als ein techno-ökologischer Systemzusammenhang begriffen wird, müssen spezifische terrestrische Orte als Knotenpunkte und Überlagerungszonen verschiedener global ausgreifender Netzwerke und planetarischer Wirkungszusammenhänge verstanden werden. Prozesse unterschiedlicher ‚Rhythmen‘ (Lefebvre) überlagern sich und erzeugen geschichtete, komplexe Gefüge, in die menschliche Praktiken eingelassen sind.
Architektur und Kunst zählen zu diesen Praktiken. Zugleich sind sie als ‚Raumkünste‘ dadurch ausgezeichnet, dass sie in spezifischer Weise in die materielle Struktur und Gestalt ihrer Orte (sites) intervenieren. Architektonische Verfahren gehen dabei – von frühen Bsp. der ‚Dekonstruktion‘ bis zum aktuellen ‚Landform‘-Building – oft auf eine analytisch-diagnostische Untersuchung ihrer Orte zurück und nehmen eine Auswahl ortskonstitutierender Momente in die Entwurfsprozesse auf. Andere architektonische Praktiken stellen ein respektvolles Verhältnis zu den materiellen Gegebenheiten und den Ansprüchen vielfältiger Akteure her (Bestandssicherung, nachhaltiges Bauen). Künstlerische Praktiken versuchen oft die materielle und symbolische Struktur ihrer Orte temporär zu rekonfigurieren, sie auf den Kopf zu stellen oder latente Spannungen eines Orts in ein lesbares ‚Ereignis‘ zu transformieren. Oder sie stellen ein ‚mapping‘ der verschiedenartigen (infrastrukturellen, ökonomischen) Abhängigkeiten ihrer Orte (und damit ihrer selbst als ortsgebundene künstlerische Praxis) her. Sie bilden also Knotenpunkte in einem Bezugsnetz, dass sie als solches sichtbar machen. Kunst, Architektur und Urbanistik sind daher Praxisfelder, in denen sich die Verschiebungen der Ortserfahrung in den letzten Jahrzehnten in besonderer Weise beobachten lassen.
Der Workshop rückte diese Verschiebungen aus interdisziplinärer Perspektive in den Blick. Neben Kunst und Architektur kann es auch um den Ortsbezug anderer menschlicher Praktiken gehen. Auch theoretisch-methodische Fragen können im Zentrum einzelner Beiträge stehen.
Beteiligte Disziplinen: Kunstgeschichte / Kunsttheorie, Architekturgeschichte / Architekturtheorie, Urbanistik, Urban Anthropology.
PROGRAMM
Freitag, 11. November
9.30 Einführung (Sebastian Egenhofer, Susanne Hauser, Stefan Neuner)
10.00 Stefan Neuner, UdK Berlin
Orte und Raster
11.00 Kaffeepause
11.30 Simone Bogner, Berlin/Weimar
Orts-Imaginationen im CIAM-Urbanismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
12.30 Gülşah Stapel, Stiftung Berliner Mauer
(Un)gewolltes Erbe – Zugriffe und Nichtzugriffe auf Vergangenes in der Hardenbergstraße
13.30 Mittagspause
14.30 Lisa Stuckey, München/Wien
Kasuistische und parajuristische Ortsspezifik: Tatort – Ausstellungsort – Erinnerungsort in der investigativen Praxis von Forensic Architecture
15.30 Kaffeepause
16.00 Simon Baier, Universität Basel
The Carrier Bag Theory of Sculpture
17.00 Sebastian Egenhofer, Universität Wien
Ortsspezifik und ästhetische Materialität
Samstag, 12. November
10.00 Mirja Busch / Ignacio Farías, Humboldt Universität Berlin
Pfützen als Kontaktzonen des Anthropozäns
11.00 Kaffeepause
11.30 Mechtild Widrich, School of the Art Institute of Chicago
Ortebezogenheit
12.30 Elke Krasny, Akademie der bildenden Künste, Wien
tba
13.30 Mittagessen
14.30 Susanne Hauser, UdK Berlin
Designing Places
15.30 Lisa Babette Diedrich, SLU Swedish University of Agricultural Sciences, Malmö
Radicant Design – rethinking site specificity from a landscape perspective in times of uncertainty
Reference:
CONF: Rethinking Site Specificity (Wien, 11-12 Nov 22). In: ArtHist.net, Nov 5, 2022 (accessed Jun 5, 2025), <https://arthist.net/archive/37854>.