CFP 19.09.2021

Figuren des Mangels (Essen, 18-19 Mar 22)

Hochschule der Bildenden Künste Essen, 18.–19.03.2022
Eingabeschluss : 31.10.2021

Luca Viglialoro, Accademia delle Belle Arti di Ravenna

Figuren des Mangels. Szenen der Gestaltung in Ästhetik, Design- und Kunstpraktiken

Das Konzept „Mängelwesen“ hat seine vielleicht bekannteste Formulierung auf dem Feld der Geisteswissenschaften durch die philosophische Reflexion von Arnold Gehlen gefunden. In seinem Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (2016 [1940]) entwirft er die in der Tat umstrittene These, dass der Mensch ein Mängelwesen sei, da er weder somatisch noch auf dem Feld der Instinkte eine adäquate Anpassung an die Welt aufweisen könne: Im Vergleich zu anderen Lebensformen und Spezies ist der Mensch arm an Mitteln zur Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse. Dies führe laut Gehlen dazu, dass der Mensch situativ stetig interagieren muss und somit seine Zwecksetzungen gestalterisch einholt, um die eigene perzeptive und instinktive Mangelhaftigkeit zu kompensieren und Erfahrungsmöglichkeiten zu modellieren bzw. ggf. erhöhen. Der grundlegend anthropologische Diskurs zur Mangelhaftigkeit hängt deshalb konstitutiv mit Formen – im Sinne von Konzepten, Praktiken und nicht zuletzt Kulturtechniken – des Gestaltens zusammen, die sich historisch konkretisieren. Unter dieser Perspektive lassen sich Formen u.a. der Supplementierung, (prothetischen) Verlängerung, Anpassung sowie Rückkopplung und (Selbst-)Performierung als Figuren einer Szene des Mangels ausmachen, deren Konturen auch auf der Basis einer „agentiell-realistische[n] Ontologie“ (Barad 2012, 34) erforscht werden können, die sich prozesshaft und im Modus der produktiven Interaktion in dynamischen Milieus darbietet. Die Gegenüberstellung von Menschen und Natur, die in der Selbsteinschätzung umweltenthoben zu sein gipfelt, führt im Anthropozän zunehmend zu krisenhaften Situationen. Ebenso weist die vom Menschen geschaffene zweite Natur der Technik (Blumenberg 2015 [1951], 29) uns auf einer neuen Ebene die Position eines Mängelwesens zu. So eröffnet dieses anthropologische Konzept möglicherweise einen bedenkenswerten Zugang für Entwurfs- und Gestaltungspraktiken und somit eine positive Modellierung auch auf dem Feld der Theorie.

Die Tagung Figuren des Mangels: Szenen der Gestaltung in Ästhetik, Design- und Kunstpraktiken geht der Erkundung von singulären Entwürfen und theoretisch-historischen Konstellationen nach, den Formen der Mangelhaftigkeit und des gestalterischen Umgangs mit ihren medialen und sinnlich-somatischen Ausformungen. Dabei werden nicht allein traditionelle philosophische Konzepte und Denkfiguren der Ästhetik, wie etwa jene des Supplements (Derrida 1967), der Prothese (Harrasser 2016) oder der Entlastung (Gehlen, s.o.) neu analysiert, sondern auch zeitgenössische Ansätze auf dem Feld der Disability, Animal und Technology Studies erforscht. In dieser Hinsicht werden gestalterische Erprobungen (auf dem Gebiet des Designs und der Kunst) sowie Körper- und Medienkonfigurationen, die sich durch spezifische Praktiken ereignen, als Problemfelder des Mangelwesens betrachtet. Aus designwissenschaftlicher Perspektive eröffnen wahrnehmungsbezogene Ansätze wie der Affordance-Begriff in Gibsons ökologischer Theorie der Wahrnehmung (Gibson 1982 [1979], 137f) Reflexionsebenen zu diesem Themenkreis, ebenso Ausprägungen einer Mensch-Objekt-Relation im Human-Centred-Design (Krippendorff 2012 [2006], Gros 2021 [1971]) oder, ganz grundlegend, die „eigene methodische disziplin, entwerfen, das entstehen dessen, was noch nicht ist, weder in der theorie noch in der praxis“ (Aicher 1991). Letztgenannter Zukunftsbezug verschränkt mit einem Verständnis von Mangelhaftigkeit hat im Design auch zu Utopien geführt, wie sie designhistorisch etwa im Schwingflügler Letatlin des russischen Konstruktivisten Tatlin gesehen werden können oder in der Vorstellung eines Neuen Menschen, der durch Gestaltung beispielsweise im Neuen Frankfurt hervorgebracht werden sollte.

Im Rahmen unserer Tagung wollen wir u.a. folgende Fragen problematisieren:
1) Ist das Mangelwesen eine anthropologische Denkfigur, die eine spezifische Relationalität konnotiert?
2) Welche Eigenschaften kommen den responsiv-performativen Strategien des Mängelwesens im Umgang mit Körpern und Medien zu? Welche Formen (z.B. materielle und/oder objektorientierte) von Agentialität können als Matrix des Mangelwesens verstanden werden.
3) Lassen sich aus dieser Denkfigur spezifische Zukunftsentwürfe bzw. neuartigen Mensch-Umwelt-Beziehungen ableiten?
4) Ergeben sich aus der wahrgenommenen Übermacht einer vom Menschen geschaffenen zweiten Natur, wie sie durch die Robotik oder künstliche Intelligenz zunehmend in unseren Alltag vordringt, neue Implikationen für Gestaltung?

Die Tagung wird von Prof. Dr. Viglialoro und Prof. Dr. Thilo Schwer vom Institut für Kunst- und Designwissenschaft der HBK Essen veranstaltet. Sie richtet sich vornehmlich an Wissenschaftler*Innen aus der Ästhetik, der Designtheorie, der Kultur- und Medienwissenschaft, die sich mit Fragen der Körperlichkeit, der Mensch-Umwelt-Beziehung oder dem Entwerfen auseinandersetzen.
Die Veranstaltung findet am 18. und 19. März 2022 statt. Schicken Sie bitte Ihre Exposés (max. 200 Wörter) mit biobibliographischen Angaben (max. 100 Wörter) sowie einem kurzen Lebenslauf bis zum 31. Oktober 2021 an folgende Adressen: thilo.schwerhbk-essen.de oder luca.viglialorohbk-essen.de

Bibliographie der zitierten Werke
Aicher, Otl, Die Welt als Entwurf. Berlin: Ernst 1991.
Barad, Karen, Agentieller Realismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012.
Blumenberg, Hans, Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem [1951]. In: Ders., Schriften zur Technik. Berlin: Suhrkamp 2015, 17-29.
Derrida, Jacques, Grammatologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983 [1967].
Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Hg. v. Karl-Siegbert. Rehberg. Frankfurt a.M.: Vittorio, Klostermann 2016 [1940].
Gibson, James J., Wahrnehmung und Umwelt: Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München, Wien, Baltimore: Urban und Schwarzenberg 1982 [1979].
Gros, Jochen, Dialektik der Gestaltung. Ulm: Institut für Umweltplanung der Universität Stuttgart 1971, neu veröffentlicht in: Schwer, Thilo und Kai Vöckler (Hg.): Der Offenbacher Ansatz. Zur Theorie der Produktsprache. Bielefeld: transcript 2021.
Harrasser, Karin, Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne. Berlin: Vorwerk 8 2016.
Krippendorff, Klaus, Die semantische Wende. Eine neue Grundlage für Design. Basel: Birkhäuser 2010 [2006].

Quellennachweis:
CFP: Figuren des Mangels (Essen, 18-19 Mar 22). In: ArtHist.net, 19.09.2021. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/archive/34831>.

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