TOC Jun 1, 2010

Marburger Jahrbuch, Bd. 36 (2009)

Christina Strunck

MARBURGER JAHRBUCH FÜR KUNSTWISSENSCHAFT, Bd. 36, 2009 (437 Seiten).

Herausgegeben von Ingo Herklotz und Hubert Locher

GIOVANNI FRENI
From Terrific Death to the Angels' Care. The Program of the Tomb of Antonio
d'Orso and Francesco da Barberini

REBECCA MÜLLER
Stil oder Modus? Zum Verhältnis von Wandmalerei und Altardekoration in San
Zaccaria: Andrea del Castagno und die Vivarini

In den 1440er Jahren ließen die Nonnen des altehrwürdigen und wohlhabenden
Benediktinerinnenklosters San Zaccaria in Venedig ihre Kirche mit einem
aufwendigen Dekorationsprogramm ausstatten, das in großen Teilen die
Äbtissin, die Priorin und weitere Nonnen selbst finanzierten. Die
Ausstattung mit Wandmalerei und Altarretabeln stellt ein außergewöhnlich gut
dokumentiertes Zusammentreffen venezianischer und florentinisch geschulter
Maler in engster räumlicher wie zeitlicher Nähe dar. Eine Analyse der
Bildkonzeptionen, der Materialität, der funktionalen Zusammenhänge und der
differenzierten Formen der Betrachteransprache läßt in dieser Konstellation
jenseits einer bloßen stilistischen Inhomogenität das wirkungsästhetische
Potential der Ausstattung sichtbar werden. So erweisen die Fresken von
Andrea del Castagno und Francesco da Faenza sich nicht als zufällig oder aus
einer politischen Motivation heraus importiertes Florentiner Idiom, sondern
als Bestandteil eines einheitlich konzipierten Ganzen, mit dem über den
Einsatz unterschiedlicher Stilmodi spezifische Bildstrategien zur
Inszenierung des Sakralen verfolgt werden.

DAMIAN DOMBROWSKI
Savonarola und die heiligen Bilder - ein Problem der Botticelli-Forschung

Die Auswirkungen von Savonarolas Wirken auf die Malerei Botticellis sind
umstritten. Selbst wenn der Maler ein Anhänger des Bußpredigers gewesen
wäre, dürfte dieser Umstand nur dann eine gewisse Relevanz beanspruchen,
wenn sich ein manifester Einfluß Savonarolas auf Stil und Ikonographie der
Werke Botticellis nachweisen ließe. Demgegenüber wird hier dargelegt, daß
beider Positionen in vielerlei Hinsicht kontrastierten. Entgegen der überaus
traditionellen Auffassung Savonarolas reagiert Botticelli mit innovativen
Konzepten auf die Frage nach dem Status der heiligen Bilder, die seit den
1480er Jahren in Florenz wieder diskutiert wurde. Die ästhetische
Eigenwirklichkeit seiner religiösen Gemälde ignoriert das Festhalten
Savonarolas am überlieferten Aufgabenkanon.

KLAUS NIEHR
Dürers Bild der 'Sieben Schmerzen Mariens' und die Bedeutung der
retrospektiven Form

Dürers Tafel für den Altar der Sieben Schmerzen Mariens in der Wittenberger
Schlosskirche nimmt eine Form auf, die seit Jahrhunderten etabliert war und
im Bereich der byzantinischen Kunst als biographische Ikone bekannt ist. Die
mit dieser Form verbundene politische Absicht lässt sich mit den Bemühungen
Kurfürst Friedrichs des Weisen zur Aufwertung seiner Residenzkirche zusammen
sehen. Auf diese Weise steht das Gemälde von 1496 nicht nur in engem Kontext
zu der in Wittenberg praktizierten Reliquienverehrung, es spiegelt auch
moderne Ausprägungen einer Marienfrömmigkeit, die in Flandern seit dem
ausgehenden 15. Jahrhundert existierten und Bedeutung für ganz Europa
zeitigten.

SEMJON ARON DREILING
Herzvereinung von König und Konnetabel - Das monument du c?ur des Anne de
Montmorency in der Pariser Cölestinerkirche als monumentaler
Loyalitätsbeweis

Das Herz des Konnetabels Anne de Montmorency (gest. 1567) wurde in einer
Gruft vor dem Hauptaltar der ehemaligen Pariser Cölestinerkirche beigesetzt,
in der bereits jenes Heinrichs II. von Frankreich (gest. 1549) ruhte. Später
errichtete die Witwe Madeleine de Savoie ihrem Gatten in der Chapelle
d'Orléans ein aufgrund seiner exzessiven Herzsymbolik singuläres monument du
c?ur. Im Kern der Grabmalskonzeption steht der seit karolingischer Zeit auf
das Verhältnis von König und Gefolgsmann übertragbare aristotelische
Freundschaftsbegriff. Der Aufsatz stellt die konzeptionelle Nähe der beiden
benachbarten Herzmonumente von König und Konnetabel anschaulich heraus und
untersucht die verschiedenen (freundschafts)ikonographischen,
grabmalstypologischen und historischen Kontexte.

ARWED ARNULF
Inszenierung, Inanspruchnahme und antiquarische Erklärung. Beispiele der
Rezeption mittelalterlicher Kunst in Deutschland vor 1700

CHRISTINA STRUNCK
Schuld und Sühne der Medici. Der Tod Großherzog Francescos I. und seine
Folgen für die Kunst (1587-1628)

Der Beitrag unterzieht das von der mediceischen Propaganda geprägte, noch
2009 in einer Florentiner Ausstellung perpetuierte Idealbild Großherzog
Ferdinandos I. de' Medici einer quellenbasierten kritischen Revision. Die
Dokumente lassen keinen Zweifel daran, dass er am Tod seines Bruders
Francesco, durch den er 1587 die Macht erlangte, zumindest Mitschuld trug.
Die intensive religiöse Medici-Kunstpatronage der folgenden Jahrzehnte lässt
sich insofern als Versuch der Wiedergutmachung verstehen. Der neue Typus des
'großherzoglichen' Altares, dessen Antependium das Bild des betenden
Thronfolgers bzw. Herrschers zierte, visualisierte das Bitten um Gnade. Der
paliotto d'oro, ein herausragender Kunstauftrag Cosimos II. de' Medici, kann
aufgrund neuer Dokumentenfunde als Sühnezeichen interpretiert werden: als
Schwur des Herrschers, die 'befleckte' Krone zu opfern - ein Versprechen,
das durch seinen Sohn Ferdinando II. erneuert und 1628 eingelöst wurde.

EVA-BETTINA KREMS
Das Drama des Sehens und der Musik. Zur Darstellung des Orpheus-Mythos in
bildender Kunst und Oper der Frühen Neuzeit

Die Idee von der magischen Kraft der Musik privilegierte den Orpheus-Mythos
im 17. und 18. Jahrhundert als Opernstoff par excellence. Für den bildenden
Künstler wird es daher eine besondere Herausforderung gewesen sein, das
stumme Bild mit der Macht der Töne in Konkurrenz treten zu lassen. Zudem
bietet der Orpheus-Mythos eine attraktive Ambivalenz in seinem
Protagonisten, die sowohl die Opernkomponisten und -librettisten als auch
die bildenden Künstler für ihre Ausdrucksmöglichkeiten genutzt haben. Der
Aufsatz geht der Frage nach, ob die große Präsenz des Orpheus auf der
Opernbühne (Peri, Monteverdi, Rossi, Gluck etc.) die bildkünstlerischen
Ausgestaltungen des Themas (Savery, Rubens, Poussin, Perrier, Tiepolo,
Canova etc.) mitgeprägt hat, ob es Wechselwirkungen, Analogien oder auch
Widersprüche gab.

JÖRG MARTIN MERZ
Marattis 'Taufe Christi' in Sankt Peter. Eine Kritik und ihre Replik

Publiziert werden zwei kaum beachtete Manuskripte aus der Vatikanischen
Bibliothek mit einer detaillierten anonymen Kritik an Carlo Marattis 'Taufe
Christi', die wohl aus dem Umkreis von Carlo Fontana stammt, und einer
Replik, die möglicherweise Maratti selbst verfasst hat. Den Hintergrund
bildet die Rivalität der beiden Künstler bei den Aufträgen für die
Taufkapelle. Es geht um die ungewöhnliche kompositionelle und farbliche
Gestaltung dieses Spätwerks Marattis. Die ausführliche künstlerische und
polemische Argumentation weist auf die französische Kunstkritik des 18.
Jahrhunderts voraus.

CHRISTIAN SCHOLL
Publikum und Kanon im 19. Jahrhundert. Von Peter Cornelius zu Caspar David
Friedrich

Der Beitrag verfolgt die gegenläufige Rezeptionsgeschichte von Caspar David
Friedrich und Peter Cornelius im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dabei liegt
der Schwerpunkt auf den verschiedenen Konzepten von Publikum, die von diesen
Künstlern vertreten und mit bildkompositorischen Mitteln konstituiert
wurden. Diese Konzepte wirkten sich in erheblichem Maße auf die
zeitgenössische Wahrnehmung der Künstler aus und spielten auch bei dem
rezeptionsgeschichtlichen Umbruch um 1900, der zur Aufwertung von Friedrich
auf Kosten von Cornelius und anderen Nazarenern führte, eine maßgebliche
Rolle. In ihnen manifestiert sich weniger ein historisches
Publikumsverhalten als vielmehr ein unterschiedliches Verständnis von der
Funktions- und Wirkungsweise von Kunst.

LILIAN LANDES
Literarische Vorlagen sozialthematischer Malerei im deutschen Vor- und
Nachmärz - am Beispiel Carl Wilhelm Hübners

Carl Wilhelm Hübner schuf mit den Schlesischen Webern das bekannteste
Beispiel tagesaktueller Genremalerei im deutschen Vormärz. Bisher unbekannt
ist, dass nahezu alle sozialthematischen Bilder Hübners auf 'literarischen'
(im Sinne von volkstümlich-tagesbelletristischen) Vorlagen beruhen, wobei
diese teils unsichtbar, durchaus aber spürbar, zwischen die scheinbar
direkte Wiedergabe der Wirklichkeit im Bild und die tatsächliche historische
Realität treten. Denkbar wäre für dieses auf der Düsseldorfer Bildtradition
fußende Phänomen die Einführung des Begriffs 'Literaturrealismus'. These:
Hübners im deutschen Vormärz einzigartiges sozialthematisches Werk bedeutete
weniger einen Schritt in Richtung "Realismus" in der Malerei. In allererster
Linie war es ein ins Bildmedium übertragenes Phänomen des zeitgenössischen
Literaturbetriebs.

JOHANNES RÖSSLER
Rhythmus, Symbol des Lebens. Die deutsche El-Greco-Rezeption von den
Anfängen bis zu Julius Meier-Graefes 'Spanischer Reise' (1910)

Julius Meier-Graefes 1910 erschienene 'Spanische Reise' gilt als
Schlüsseltext der modernen El-Greco-Rezeption. Die dort verfolgte Aufwertung
des Künstlers wäre jedoch ohne die Polemik gegen die Deutungen von Carl
Justi nicht möglich geworden. Unter Einbeziehung der Vorläufer seit 1830
geht die Abhandlung zunächst auf die erste systematische Erforschung El
Grecos in Deutschland ein, die 1874 durch Justis privaten Ankauf einer
Replik der 'Entkleidung Christi' ausgelöst wurde. Justis doppelbödige
Verwendung des Entartungsbegriffs im Sinne einer psychiatrischen und einer
kulturkritischen Dimension ermöglichte hierbei nicht nur die konservative
Distanznahme gegenüber einer befürchteten modernen El-Greco-Aneignung,
operativ angewendet führte der Entartungsbegriff auch zur systematischen
Einteilung nach Werkphasen und zur Vorwegnahme zentraler Fragestellungen der
El-Greco-Forschung des 20. Jahrhunderts. Meier-Graefes bewusst
überzeichneter Angriff auf Justi in der 'Spanischen Reise' überwindet
dagegen die pathologisierende Sicht zugunsten einer vitalisierenden
Aufwertung des Künstlers. Durch die argumentative Verknüpfung von El Greco
mit der Bildauffassung Cézannes und durch zahlreiche Bezugnahmen auf Muster
der literarischen Moderne stellt der Text zugleich das historistische
Forschungsparadigma in Frage. Die Interpretationen Justis und Meier-Graefes
können schlussendlich beide mit der Konjunktur des Erlebnisbegriffs um 1900
in Verbindung gebracht werden, wobei die jeweils andere Gewichtung der
Kategorie des Erlebnisses zu unterschiedlichen Textstrategien und
ästhetischen Wertungen führt.

SIGRID HOFER
Dürers Erbe in der DDR. Vom Kanon des sozialistischen Realismus, seinen
Unbestimmtheiten und historischen Transformationen

Forschungen zur Kunst in der DDR gehen von der Prämisse aus, dass dem
Sozialistischen Realismus ein festumrissener Kanon historischer
Bezugssysteme zu Grunde liegt, wobei gerade Dürer als Leitfigur eines neu zu
etablierenden Nationalstils der DDR fungierte. Entgegen dieser Prämisse
zeigt der Beitrag auf, dass es nur bedingt miteinander korrespondierende
Ebenen des ästhetischen Diskurses gab, und dass der Sozialistische Realismus
mehr behauptet und geradezu beschworen wurde, als dass er in seinen Konturen
fest umrissen gewesen wäre. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich so
widersprüchliche Phänomene wie die Dürerfeierlichkeiten 1971, welche die
Vorbildfunktion einer vermeintlich humanistischen und sozial-revolutionären
Kunst einforderten, und die gleichzeitig propagierte Liberalisierung der
Kunstdoktrin, die den vorgegebenen, engen Gestaltungsrahmen durch "Vielfalt
und Weite" ersetzte, verstehen.

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Reference:
TOC: Marburger Jahrbuch, Bd. 36 (2009). In: ArtHist.net, Jun 1, 2010 (accessed Jul 6, 2025), <https://arthist.net/archive/32744>.

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