IKKM Jahrestagung 2010: OFFENEN OBJEKTE
28. bis 30. April 2010
Seminargebäude des Congress Centrums Neue Weimarhalle,
UNESCO-Platz 1, 99423 Weimar
Die Medien- und Kulturwissenschaften ergänzen die tradierten
Geisteswissenschaften unter anderem dadurch, dass sie ein massives Interesse
an den Dingen hegen; nicht an ihrer Wahrnehmung und Bedeutung allein,
sondern an ihnen selbst. Beginnend mit technischen Objekten, untersuchen die
Medien- und Kulturwissenschaften heute historisch und systematisch die
verschiedensten Artefakte in all ihrer Materialität und Gegenständlichkeit,
ihrer Widersetzlichkeit und ihrem Eigensinn.
Das ist keineswegs selbstverständlich. Die Theorieansätze, denen sich die
neueren Medien- und Kulturwissenschaften zunächst verdankten, legten eher
das Gegenteil nahe. Strukturalismus und Poststrukturalismus, Systemtheorie,
Diskursanalyse und Simulationstheorie haben sich eher um die Umgehung,
Überwindung und Auflösung des Materiellen bemüht. Im System der Dinge
interessiert die Relation, nicht das Ding; die Dinge werden zu
Diskurseffekten aufgefächert, in Sinn aufgelöst oder kurzerhand zugunsten
des Immateriellen für überwunden erklärt.
Mit der Freilegung der MATERIALITÄT DER KOMMUNIKATION haben sich die
Medien- und Kulturwissenschaften davon jedoch gelöst. Dafür gibt es neben
binnentheoretischen Gründen durchaus realweltliche Anlässe, vor allem
technische und ökonomische. Das Vordringen INTELLIGENTER Objekte aus Laboren
und Waffenarsenalen in sämtliche Alltagszusammenhänge und die Durchsetzung
des Designs als grundlegender Kulturtechnik haben dazu angehalten, die
Genese und Funktion der Dinge – auch historisch - neu zu betrachten. Aus
diesem Interesse resultiert die große Bereicherung, die die Theorie der
Handlung erzeugenden Netzwerke Bruno Latours, Alfred Gells und anderer für
die Medien- und Kulturwissenschaften darstellt. Hier findet nämlich ein
konsequenter Verzicht auf die grundlegende Unterwerfung der Dinge unter
Sinn, Struktur und Diskurs statt. Personen, Dinge und Zeichen ordnen sich
stattdessen zu heterogenen und heterarchischen Ensembles an, in denen sie
einander bei- und gleichgestellt zusammenwirken. Dadurch wird der Anteil der
Dinge am Zustandekommen etwa des Wissens und anderer Kulturleistungen
sichtbar.
Damit tritt allerdings auch eine Reihe neuartiger Probleme auf. Neben Fragen
des Politischen und des Ethischen zählen dazu die Genese und die formale
Einheit solcher Agentennetzwerke. Wie entstehen und bestehen sie? Zwar kann
man annehmen, dass sie sich als Ensembles operativ und situativ stets und je
neu konstituieren. Dennoch bedürfen sie auch einer Gerinnungs-,
Materialisierungs- und Rekursionsform, um Wirkungsmacht zu entfalten, sich
zu reproduzieren, zu beobachten und zu wandeln. Das Labor etwa, aber auch
das Studio, das Atelier oder die Küche wären solche Materialisierungen. Ihre
Einheit wird in der Regel aus ihrer Kontur abgeleitet, aus
architektonischer, institutioneller und habitueller Rahmung.
Können handelnde Ensembles aber nicht auch anders als durch bloße äußere
Abgrenzung gesetzt werden, nämlich in einer internen Kopplung? Und können
sie die Reichweite, operative Beschaffenheit und Formierungskraft dieser
Kopplung selbst materiell, d.h. durch Dinge anlegen? Dies zu untersuchen,
schlägt die Tagung das Konzept des OFFENEN OBJEKTS zur Diskussion vor. Im
Unterschied etwa zur kompakten BLACK BOX speisen sich OFFENE OBJEKTE aus den
komplexen und jeweils variablen Übergängen zwischen Kontur und Kopplung,
Ding und Medium, Handeln und Reflexion.
OFFENE OBJEKTE sind begegnungsfähige Dinge, befinden sich aber im Zustand
des noch Unentschiedenen. Zunächst rätselhaft und ungreifbar, bilden sie
ihren Status erst allmählich heraus, indem sie Entscheidungen hervorrufen
und Positionierungen einfordern. Ihren Ausgangspunkt und ihre Grundfigur
finden sie in Paul Valérys objet ambigu, wie er es in seinem Dialog
Eupalinos entwickelt. Denn das objet ambigu ist DAS ZWEIDEUTIGSTE OBJEKT. Es
entsteht in einer Welt, die sich VON IHRER RÜCKSEITE darbietet. Es erscheint
an der Grenze zwischen Land und Meer, die ununterscheidbar mit ihm
zusammenfällt; es bewegt sich in einer Zone, deren Vielheit der Kräfte zur
Unüberwindlichkeit seiner eigenen Vielheit gerinnt. Das objet ambigu ist
reine Potentialität, es ist ein Gegenstand, der aus der platonischen Ordnung
herausfällt, während seine Bedeutung INS UNABSEHBARE reicht, denn: ES STELLT
ALLE FRAGEN UND LÄSST SIE OFFEN. (Hans Blumenberg)
Das OFFENE OBJEKT legt mögliche Handlungen in einem Agentennetzwerk an und
spannt dessen Einheit und Reichweite auf offene Weise auf, nicht immer schon
von seinen Grenzen her. OFFENE Objekte sind noch keiner Herkunft oder
Funktion zugeschrieben, weder Kunst-, noch Natur-, noch Technikding. Sie
lassen sich spontan auch keinem der Pole der Trias aus Person, Ding und
Zeichen eindeutig und einseitig zuordnen. Genau dadurch aber lösen sie die
Bildung eines heterogenen Ensembles aus: sie provozieren Entscheidung,
Handlung und ihre Stabilisierung in einem Netzwerk. Zugleich geben sie
Anlass zur Thematisierung des Netzwerks selbst, das sie (mit) aufspannen
und, eben in dem OFFENEN OBJEKT, zusammenziehen. Damit nehmen diese Objekte,
ohne an Dinghaftigkeit einzubüßen, dennoch zugleich die Eigenschaften von
Medien an.
Bei Valéry ist es das bloße Fundstück, das gerade in seiner Unverfügtheit in
einem Zusammenhang mit allen möglichen Handlungsweisen steht. So könnten
aber etwa auch Bilder sowohl als Zeichen wie als Dinge wie auch als
handelnde, quasi-menschliche Personen wirksam werden. Sie fordern dann zur
Herausbildung beispielsweiser ritueller oder ästhetischer Handlungsnetzwerke
auf. Mehr noch gilt dies für technische oder gar LEBENDE BILDER Bilder und
deren Produkte, man denke etwa an die Stars. Auch Automaten, besonders
solche, die Zeichen verarbeiten, können in diesem Sinne als OFFEN verstanden
werden und damit ganze Ensembles verkörpern.
Der Erfassung und Erforschung solcher OFFENEN OBJEKTE widmet sich die
Jahrestagung 2010 des IKKM, die vom 28. bis 30. April 2010 im Seminargebäude
des Congress Centrums Neue Weimarhalle, UNESCO-Platz 1, 99423 Weimar,
stattfinden wird.
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Programm:
Mittwoch, 28. April 2010
9 Uhr - Begrüßung
PANEL 1: "Offenheit anordnen", 9.30 Uhr bis 12.30 Uhr, mit Vorträgen von
Hildegard Kernmayer
Mit den stummen Dingen sprechen. Objekt-Institutionen in Rainer Maria Rilkes
"Dinggedichten".
Anke Hennig
Unvorhersehbare Dinge.
Friedrich Balke
Henkel und Vase. Die Teratologie der Dinge.
Kommentar: Christoph Asendorf
PANEL 2: "Offenheit bewegen", 14.30 Uhr bis 17.30 Uhr, mit Vorträgen von
Dennis Göttel
Metapher, materialiter. Zur Filmleinwand.
Margrit Tröhler
Analog/digital: das Bild als mediale Haut als objet ambigu.
Ute Holl
Zwischen Ding und Kreatur: Eselslaute. Ein Close-Hearing von R. Bressons Au
hasard Balthazar (1966).
Kommentar: Patricia Pisters
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Donnerstag, 29. April 2010
9 Uhr - Resümee 1
PANEL 3: "Offenheit handhaben", 9.30 Uhr bis 12.30 Uhr, mit Vorträgen von
Christoph Engemann
The Bundesdruckerei & The Signature of Things.
Stefan Höhne
Tokens, Suckers, and the "Great New York Token War".
Antoine Hennion
"What difference does it make?".
Kommentar: Erich Hörl
PANEL 4: "Offenheit entwerfen", 14.30 Uhr bis 17.30 Uhr, mit Vorträgen von
Marie-Luise Angerer
Dasein ist Design.
Ann-Sophie Lehmann
How to Take the Lid of the Utah Teapot - Making and Material of Digital
Images.
Adrian Mackenzie
The Promise of Openness in Synthetic Biology.
Kommentar: Hans-Jörg Rheinberger
19 Uhr - Keynote Lecture:
Bruno Latour
Where is the res extensa? An Anthropology of Object.
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Freitag, 30. April 2010
9 Uhr Resümee 2
PANEL 5: "Offenheit umschreiben", 9.30 Uhr bis 12.30 Uhr, mit Vorträgen von
Uwe Steiner
Actio und Narratio. Wie literarisch handeln offene Objekte?
Andrew Piper
"Das Buch ist nicht mehr vorhanden": Goethe and the Networked Codex.
Georg Stanitzek
Bücher, 1968.
Kommentar: Eva Geulen
PANEL 6: "Offenheit ansammeln", 14.30 Uhr bis 17.30 Uhr, mit Vorträgen von
Katrin Pahl
Doublings and Couplings: the Feeling Thing in Kleist.
Anke te Heesen
Objet sentimental.
Peter Geimer
Lampe, Vorhang, Sessel, Uhr. Auf der Suche nach den Dingen der Recherche.
Kommentar: Manfred Schneider
17.30 Uhr - Abschlussdiskussion
Die Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Deutsche Beiträge werden
ins Englische übersetzt.
Weitere Informationen zu Programm und Anreise:
www.ikkm-weimar.de/offeneobjekte
ikkmuni-weimar.de
Fon +49 (0) 3643 / 58 - 4000
Fax +49 (0) 3643 / 58 - 4001
For further information please contact
www.ikkm-weimar.de/offeneobjekte
ikkmuni-weimar.de
Fon +49 (0) 3643 / 58 - 4000
Fax +49 (0) 3643 / 58 - 4001
Quellennachweis:
CONF: "Offene Objekte" (Weimar, 28. - 30. April 10). In: ArtHist.net, 23.03.2010. Letzter Zugriff 16.07.2025. <https://arthist.net/archive/32448>.