CFP 06.01.2009

Amateure im Web 2.0 (Wien, 24-25 Apr 09)

Call for Paper:
Amateure im Web 2.0: Medien, Praktiken, Technologien
Eine transdisziplinäre Konferenz, 24./25. April 2009, Wien

Eine Kooperation von:
Kunstuniversität Linz, Institut für Medien, Abt. Medientheorie (Linz),
Synema - Gesellschaft für Film und Medien (Wien),
IBM Österreich Internationale Büromaschinen Gesellschaft m.b.H (Wien)

Deadline: 20. Februar 2009

Konzeption: Dr. phil. habil. Ramón Reichert, Kunstuniversität Linz/
Medientheorie
Tagungsort: IBM Forum Wien, Obere Donaustraße 95, 1020 Wien

Weblogs, Community-Seiten, Wikis, Pod- und Videocasts sind ein
Phänomen alltagskultureller Kommunikation. Die exponentielle
Verbreitung moderner Informationstechnologien und die neuen
Vernetzungsstrukturen im Internet erlauben kollektive Beziehungen, die
vorher unmöglich waren. Damit einhergehend ist eine spezifische
Medienkultur der Selbstpraktiken entstanden, die vielfach die Form von
Selbstführung und Bekenntnis, von Buchführung und akribischem
Leistungsvergleich, von experimentellem Selbstverhältnis und
Selbstinszenierung als ästhetische Praxis, annimmt. Die Diskurse der
Selbstaufmerksamkeit und Selbstbeobachtung sind tief in den Alltag
eingedrungen und haben dazu geführt, dass es heute alltäglich und
selbstverständlich ist, wenn die unterschiedlichsten Menschen in
Medienöffentlichkeiten bereitwillig über sich selbst Auskunft geben
und sich damit als Objekt der Betrachtung in Szene setzen.
Die neuen Ausdifferenzierungen der digitalen Kommunikation sind von
einem emphatischen Individualitätskonzept geprägt: Weblogs, Wikis und
soziale Netzwerkseiten fungieren als subjektzentrierte Praktiken und
Machtverhältnisse, die von den Internetnutzern die Bereitwilligkeit
abverlangen, immer mehr Informationen und Daten über ihre Person und
ihr Leben zu veröffentlichen, die jederzeit und weltweit mittels
Netzrechner abgerufen werden können. Der allgemeinen Gegenwartstendenz
zur Mediatisierung des Alltäglichen kommt die neue Praxis der
autobiografischen Selbstthematisierung auf den Aufmerksamkeitsmärkten
des Internet entgegen. Sie haben einen Trend gesteigerter
Visibilitätszwänge etabliert, der heute jenseits der klassischen
Bildungseliten alle Schichten erfasst. Der verzweigte Diskurs der
Selbstthematisierung verlangt von jedem einzelnen die Bereitschaft,
die neuen medialen Formen der Selbstdarstellung zu erlernen, zu
beherrschen und weiterzuentwickeln. Der Boom, sich selbst in
Bekenntnisformaten auszustellen, hat wesentlich zur Normalisierung von
Visibilitätszwängen beigetragen. Im beweglichen Feld rechnergestützter
Datengewinnung und -verarbeitung nehmen sowohl
Visualisierungstechniken zur Wissensproduktion und
Wahrnehmungskonstitution als auch Programme zur Auswertung und
Archivierung digitaler Nutzung einen zusehends größeren Raum ein (z.B.
die Retrieval-Modi sorting, counting, ranking, marking). In welchem
Verhältnis stehen diese computerbasierten Darstellungstechniken,
Wissensrepräsentationen und Normierungsverfahren von Aufmerksamkeit
mit der Ausprägung von Subjektkonstitutionsprozessen?

Die Vielfalt partieller und pluraler Selbstentwürfe im Netz entfaltet
eine Wirkkraft, die nicht nur die Bedingungen der konstruktiven
Bestimmung des Subjekts tangiert; sie erfordert auch die theoretische
Selbstreflexion eines entgrenzenden begrifflichen Denkens der neuen
Medien. Es wird damit eine Perspektive nahe gelegt, entlang derer
transdisziplinäre Thesen entwickelt werden können.
Im Frühjahr 2004 verkündeten Tim O'Reilly und Dale Dougherty mit ihrem
Branding-Konzept des Web 2.0 eine neue Ära der Amateurkultur. Die neu
belebte Debatte zur Interaktivität, Konnektivität und Kollaborativität
der Netzöffentlichkeit fällt in eine Zeit, in der die tägliche
Medienberichterstattung eine Krise der etablierten politischen
Repräsentation beschwört. Die Vision vom demokratischen Netz ist von
einer tief greifenden Kritik gegenüber der politischen Repräsentation
der Bürgerinnen und Bürger geprägt. Innerhalb einer
Aufmerksamkeitsökonomie, die auf Neuheit und Differenz basiert,
bedeutet die potenzielle Integration jedes einzelnen in die
Sichtbarkeit der Internetöffentlichkeit jedoch keine Ausweitung
politischer Repräsentation. Denn die Internetöffentlichkeit besteht
überwiegend aus kultureller und ästhetischer Repräsentation, deren
Verbindung zur politischen Repräsentation fragwürdig bleibt, wenn in
Betracht gezogen wird, das die vermeintlich souveräne
Selbstermächtigung des Subjekts in das Spiel opponierender
Bedeutungsfelder und in die Paradoxieanfälligkeit tendenziöser
Geschmacksurteile involviert ist.

Im Unterschied zur erhofften Radikaldemokratie und kritischen
Netzöffentlichkeit ist vielmehr ein unübersichtliches Gewirr von
Subgruppen und eine Kommunikationskultur der Selbstthematisierung
entstanden, in dessen Dunstkreis der Imperativ "Erzähle dich selbst"
neuen Aufschwung erhalten hat. Möglicherweise hat heute die
"Ausweitung der Bekenntniskultur" und die mit ihr einhergehenden
medialen Formen der Selbstthematisierung die Thematisierung der
politischen Repräsentation in den Hintergrund verdrängt. Die gängigen
Medienmanuale der Selbststeuerung dienen in einem hohen Ausmaß
normativen Bildungsanforderungen: ePortfolios, Kompetenzraster, Lern-
Journale, Dossiers, Credit-Point-Systeme und kollaborative
Kommunikationssysteme vermitteln zwischen den Anforderungen und
Zumutungen der Managementstile, Wissenstechniken, Ego-Taktiken und der
Kommerzialisierung der Netzdienste. Die Medienamateure von heute sind
multimedial versiert, erstellen ihr Profil in sozialen Netzwerken,
beteiligen sich aktiv an Forendiskussionen, nutzen das Web Content
Management zur Selbsterzählung und Selbstinszenierung, engagieren sich
als Netzwerker/innen in den Clubs der Gated Communities, checken den
Webtraffic ihres bei YouTube upgeloadeten Videos, verknüpfen Netzwerk-
Hyperlinks, posten ihre Artikel, Fotos, Musik, Grafiken, Animationen,
Hyperlinks, Slide Shows, Bücher-, CD- und Software-Rezensionen,
kommentieren den Relaunch ihrer Fansites, verschicken selbst
gestaltete E-Cards, updaten ihr Online-Diary, changieren zwischen
unterschiedlichen Rollenstereotypen in Online-Games, leisten
gemeinnützige Arbeit als Bürgerjournalisten, exponieren Privates und
Vertraulichkeiten und nutzen hierfür alle angebotenen synchronen als
auch asynchronen Formen der computervermittelten Kommunikation: E-
Mail, Foren, Chat, Instant-Messages.

Führt der im Netz forcierte Verdrängungswettbewerb von Virtuosen der
Biografie- und Identitätskonstruktion, individualistischen
Lebensformen und eine allgemeine "Kultivierung des Selbst" (Ehrenberg)
letztlich dazu, dass Freiheitsdiskurse vollständig von den
Rechtfertigungssystemen kapitalistischer Diskurse absorbiert werden?
In einer ersten Annäherung an diese vielschichtige Fragestellung kann
festgehalten werden, dass sich Begriffe wie etwa 'Selbstbestimmung',
'Selbständigkeit' und 'Gleichberechtigung' von ihrem emanzipatorischen
Kontext gelöst haben und heute als Versatzstücke kommerzieller
Freiheitstechnologien konsumiert werden.
Heute verleihen die emanzipatorischen Ideale der Neuen Linken und der
Revolutionäre der 1968er-Bewegung der kapitalistischen Werteordnung
ein selbstzufriedenes Image. Aber unter welchen Bedingungen konnte es
geschehen, dass die alternativen Begriffe der Kulturrevolution wie
etwa Autonomie, Kreativität und Authentizität, die sich einst gegen
die Leistungsgesellschaft richteten, heute zu Persönlichkeitsmerkmalen
der Leistungselite innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft
geworden sind? In ihrer Untersuchung über den "neuen Geist des
Kapitalismus" knüpfen Luc Boltanski und Ève Chiapello an die
Protestantismusthese Max Webers an und führen den Nachweis, dass sich
der projektbasierte Kapitalismus des 21. Jahrhunderts die anti-
kapitalistischen Ideen der Selbstverantwortung und Kreativität zunutze
gemacht hat, um Ansehen und Akzeptanz bei seinen ehemaligen Kritikern
zu gewinnen.

Bei der Erforschung der strukturellen Hintergründe und historischen
Markierungspunkte machen Ansätze der soziologischen Biografieforschung
die seit Mitte der 1960er Jahre entstehende Alternativ- und Subkultur
- Selbsterfahrungsgruppen, Wohnkollektive, politische Zirkel - geltend
und verweisen auf die sozialen Umbrüche der Bildungsexpansion, der
Frauenbewegung, der sexuellen Liberalisierung und der Anti-Pädagogik.
Der multiplen und multimedialen Aufgliederung der Selbstthematisierung
korrespondiert eine strukturelle Freisetzung der Individuen aus
traditionellen Vergesellschaftungsformen und festen Klassenstrukturen.
Diese Freisetzung erhöht zwar die individuelle Handlungsmöglichkeit im
Sinne gesteigerter Mobilität, Flexibilität und Entscheidung,
andererseits begünstigt sie Unterscheidungen, die heute direkt am
Individuum ansetzen: Individualität wird heute vorrangig in ihren
Distinktionsbestrebungen beurteilt und vermessen. Einen weiteren Schub
erhält die Selbstthematisierungskultur mit der Privatisierung des
Fernsehens in den 1980er Jahren. Mit dem neuen Fernsehformat der
Talkshow konkurrenziert das kommerzielle Fernsehen um Marktanteile in
einer boomenden Bekenntnis- und Geständniskultur. Das Fernsehen der
1980er Jahre kommuniziert weniger Formen der authentischen
Selbstdarstellung, sondern raffinierte Rollenspiele und
Selbstinszenierungen. Sein populärer Utilitarismus verankert die
expressiven Tendenzen der medialen Selbstdarstellung in der
Konsumästhetik. Selbstverwirklichung wird immer weniger in
alternativen Lebensformen bestehender Gegen- und Subkulturen, sondern
vielmehr im Konsumhedonismus gesucht. Im heutigen globalen
Konsumkapitalismus knüpft sich die Selbsterfüllung im Konsum an neue
Techniken der Normalisierung: die Thematisierung des Selbst verortet
sich verstärkt im Diskurs der Selbstvermarktung. Zu den
Charaktereigenschaften einer erfolgreichen Persönlichkeit zählt heute
die 'Marktfähigkeit' und eine 'unternehmerische' Einstellung: Diskurse
der Selbstbeherrschung und -kontrolle müssen sich folglich mit den
Techniken des Selbstmanagements vertraut machen.
Mit ihren alltäglichen und gewöhnlichen Praktiken verhalten sich die
im Netz agierenden Medienamateure jedoch keineswegs als passive
Konsumentinnen und Konsumenten. Ihr Storytelling modifiziert den
digitalen Raum und knüpft ein widerspenstiges Netz (bottom up), das
vermöge sozialer Gebrauchsweisen entsteht. Als Gegenstück zu dem von
Foucault beschriebenen systematisch-zweckrationalen Netz der
Disziplinierungsmacht sind Computernetze den Akteuren nicht auferlegt,
sie sind kein fertiges Produkt, sondern ein fortlaufender Prozess. Die
in das Alltagshandeln im Hier und Jetzt situierten Akteure können die
Regeln, Produktlogiken oder Systemzwänge mittels unbegrenzter
Praktiken unterlaufen und bilden für de Certeau ein Netz der
Antidisziplin, dass sich in der kreativen Nutzung von
Freiheitsspielräumen oder günstigen Gelegenheiten bewährt.

Vor dem Hintergrund dieses dynamischen Aggregats medialer
Technologien, Selbstpraktiken und sozialer Strategien soll die
Konferenz Antworten auf folgende Fragen bieten:

- Auf welche Weise verändern die neuen medialen Präsentationsformen
und -techniken im Netz die Möglichkeiten der Selbstthematisierung?
- Auf welche Art und Weise formen digitale Netzwerke die
Selbstthematisierungen der Subjekte und unter welchen Voraussetzungen
werden die Praktiken der Subjekte selbst zur Normalität
gesellschaftlicher Diskurse? In welchem Verhältnis stehen
normalisierende und widerständige Selbsttechniken im Netz?
- Auf welche Weise generieren Amateure eine neue visuelle Kultur?
Welchen Stellenwert haben die Verfahren der Dekontextualisierung und
der Resignifikation in der Medienpraxis der Amateure?
- In welchem Verhältnis stehen die Praktiken der Videoamateure bei
YouTube u.a. zu künstlerischen Praktiken? Welchen Einfluss haben
Produktionsweise und Ästhetik der Amateurkultur auf künstlerische
Produktionsprozesse?
- Heute zählt der 'Mixed Media'-Erzählstil zur alltäglichen Normalität
im hypermedialen Netzwerk des Internet. Als ein Speicher- und
Verarbeitungsmedium vielfältiger Zeichenordnungen verknüpft der
Computer als Medium der Medien sogenannte Hypertexte, die sich aus
schriftlichen, auditiven, visuell-dynamischen, fotografischen und
grafischen Dokumenten zusammensetzen. Welche Skripte, Kodes und
Erzählformen haben sich in den Videoblogs bei YouTube u.a. ausgebildet?
- Welche Konsequenzen hat die Auflösung der traditionellen Trennung
von Produzent/innen und Rezipient/innen für medienkulturelle Praktiken
und Diskurse?
- Wie können die künstlerisch-kreativen Praktiken der Umdeutung,
Verschiebung und Überlagerung hegemonialer Diskurse auf angemessene
Weise beschrieben werden?

Die Konferenz ist transdisziplinär und mediengeschichtlich
ausgerichtet und integriert in diesem Zusammenhang Bild und Text, alte
und neue Medienformate, Bezüge zu Foto- und Videoamateuren früherer
Epochen, die Alltagskultur kunst- und kulturhistorischer Bezüge, die
Grenzverschiebungen von öffentlicher und privater Sphäre, Arbeiten zur
genderbezogenen Repräsentationspolitik und nicht zuletzt Beispiele zum
Spannungsfeld von Normalisierung und widerspenstigen Praktiken.
Vortragsvorschläge (je 20 Minuten) sind in Form eines Abstracts (4.000
bis 5.000 Zeichen) bis zum 20. Februar 2009 einzureichen. Die
Abstracts sollen begutachtungsfähige Aussagen zu den oben angeführten
Fragestellungen enthalten. Die eingeladenen Teilnehmer/innen werden
umgehend - Ende Februar - kontaktiert. Das Organisationsteam wird das
Programm bis zum 6. März 2009 zusammenstellen. Eine Publikation der
Beiträge ist vorgesehen.

Schicken Sie bitte Ihr Abstract an beide Mitglieder des
Organisationsteams:

Univ. Doz. Dr. phil. habil. Ramón Reichert
Kunstuniversität Linz/Medientheorie
Reindlstraße 16-18
A-4020 Linz
Tel ++43-650-7898-581
E-Mail: ramon.reichertufg.ac.at

Dr. phil. Brigitte Mayr
SYNEMA - Gesellschaft für Film und Medien
Neubaugasse 36/1/1/1
A-1070 Wien
Tel ++43-1-523 37 97
E-Mail: officesynema.at

Quellennachweis:
CFP: Amateure im Web 2.0 (Wien, 24-25 Apr 09). In: ArtHist.net, 06.01.2009. Letzter Zugriff 09.05.2025. <https://arthist.net/archive/31226>.

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