"ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft"
Call for Papers
ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft ist eine neu
gegründete wissenschaftliche Zeitschrift, die jährlich in Form eines
Themenhefts im Verlag Philo Fine Arts erscheint. ilinx entspringt einer
Initiative von Doktoranden und Postdoktoranden aus dem erweiterten
Umfeld des Kulturwissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Universität
zu Berlin und verschreibt sich einer kritischen und gegenwartsrelevanten
Diskursstiftung.
ilinx – altgriechisch für Wasserwirbel und das Wirbeln – steht für eine
selbstreflexive Form interdisziplinären Denkens, in der das erforschte
Material und die verwendeten Theorien gleichberechtigt aufeinander
treffen. Wirbel entstehen für kurze Zeit an Orten, an denen mehrere
Strömungen zusammenlaufen. Sie sind lokal, temporär und vermengen
heterogene Elemente (Theorien, Material, Methoden, Disziplinen, Akteure,
Artefakte, Zeiten, Räume). Dabei werden bestehende Ordnungen und Codes
transformiert. Roger Caillois fasste unter dem Begriff ilinx all jene
Spiele zusammen, „die auf dem Begehren nach Rausch beruhen und deren
Reiz darin besteht, für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung
zu stören [...]“. Auch die Metaphoriken des Strudels legen dieses
rauschhaft-turbulente Moment nahe. Strudel wirbeln Staub auf, schlagen
Wellen, trüben ein; klären aber auch auf. Sie erzeugen turbulente
Kraftfelder – Sogwirkungen, Unterströmungen und Stromschnellen – in
denen Verhältnisse destabilisiert und neu geordnet werden. Sie reißen
mit, hin, fort und weg.
Mit dem inhaltlichen Schwerpunkt „Wirbel, Ströme, Turbulenzen“ werden in
der ersten Ausgabe von ilinx Konfigurationen der Destabilisierung, der
Unterbrechung, der Störung, des Rausches und des Schwindels als prägende
Momente von Kultur in den Blick genommen. Diesen Figuren wurde seit der
Antike ein Erkenntnispotential zugeschrieben. So steht der Schwindel
schon bei Platon für eine Verunsicherung über die Grundlagen des
Wissens, die den Ausgangspunkt jedes philosophischen Fragens bildet.
Auch das neuzeitliche Denken setzt mit der Erfahrung eines fundamentalen
Schwindels ein, dem bei Descartes nicht nur eine methodische, sondern
vor allem eine epistemologische Funktion zukommt. Allerdings zeigen
gerade der Taumel des radikalen Zweifels und der Sturz ins Bodenlose –
die bei Descartes der folgenreichen Errichtung eines methodisch
verfahrenden, geradlinigen Denkens vorausgehen – auch das Prekäre und
Bedrohliche auf, das mit der Auflösung von Ordnungsansichten einhergeht.
Vor diesem Hintergrund fragt die erste Ausgabe von ilinx nach den
epistemologischen, wissensgeschichtlichen, lebensweltlichen und
kulturtechnischen Dimensionen von Wirbeln, Strömen und Tur- bulenzen.
1. Epistemologische Fragen betreffen jene Momente der Produktion,
Generierung und Emergenz von Wissen, die ihren Ausgang von einem
temporären Aussetzen von Regeln, Ordnungen und Normen nehmen. Oft
entsteht das Neue gerade durch das Unregelmäßige, Unbeabsichtigte,
Nebensächliche und Zufällige, das eine geordnete Suche kurzzeitig
desorientiert. Zu diskutieren wäre hier die epistemologische Figur der
Turbulenz: Welche unscharfen, wirbelhaften Formen von Erkenntnis gibt
es? Welche Rolle spielen konstitutive Unfreiwilligkeiten und
Eigendynamiken innerhalb des Forschungsprozesses? Wie tragen diese zum
Entstehen unscharfer Objekte bzw. epistemischer Dinge (Rheinberger) bei?
Welche Funktion kommt dem Zufall bzw. der ‚Serendipity‘ innerhalb des
Erkenntnisprozesses zu? Inwiefern sind Zufälligkeiten und Turbulenzen
konstitutiv für die Selbstorganisation von Systemen und deren Dynamiken?
Lassen sich mit Figuren des Turbulenten Grundzustände von Welt
(Chaos/Ordnung) beschreiben? Und in welchem Maße bildet die
epistemologische Dimension von ilinx eine Schnittmenge von Denken und
Spiel?
2. Die zweite Fragestellung zielt auf die Wissensgeschichte von
physikalischen Wirbeln, Strömen und Turbulenzen. Damit sind diejenigen
Diskurse, Instrumente, Medien, Architekturen und experimentellen
Anordnungen verbunden, die deren Erforschung und Beherrschung dienen.
Mit der Beobachtung und Modellierung von Wirbeln werden neue
epistemische Dynamiken und Kontingenzen hervorgebracht, deren
performative Kraft in materiellen wie symbolischen Formen kulturell
wirksam wird. Mögliche Gegenstände der Untersuchung sind unter anderem
Wirbel und Turbulenzen im Bereich der Strömungslehre, Thermodynamik oder
der älteren Äthertheorie, inklusive deren Wissensarchitekturen und
Experimentalräume (Wind- und Wasserkanäle, meteorologische Messnetze).
Zudem stellt sich die Frage nach der spezifischen Poetologie und
Ästhetik des Wirbels, von Edgar Allan Poes Maelström-Erzählung bis hin
zur industriell in Autos, Schiffen und Flugzeugen verfertigten
Stromlinienform. Zentrale Fragen sind: Wo, wie und aus welchen
Strömungen entstehen Wirbel? Welche Momente der Wissens- und
Wissenschaftsgeschichte zielen auf die Erzeugung, Operationalisierung
oder Beherrschung von ilinx? Konstituiert das auf Wahrscheinlichkeiten
und Vorhersagen ausgerichtete Rechnen mit Unschärfen und Turbulenzen
eine „Meteorologisierung allen Wissens“ (Serres)? Lassen sich diese
physikalischen Entitäten auf eine Physik des Sozialen übertragen?
3. Der dritte Fokus liegt auf lebensweltlichen Phänomenen von ilinx und
den damit verbundenen Kulturtechniken. Zum einen sollen hier
(außer)alltägliche Erfahrungen untersucht werden, die sich in der Figur
des mitreißenden Wirbels fassen lassen – etwa die verwirrende Irritation
eines flüchtigen Flirts, die verführerische Begegnung mit einem Fetisch,
die Inspiration einer subkulturellen Anomalie, aber auch der Schock
eines traumatischen Unfalls oder der plötzliche Zusammenbruch eines
sozio-ökonomischen Systems. Zum anderen wird hier nach Praktiken im
Umgang mit dem Turbulenten und Rauschhaften gefragt. ilinx kann durch
vielfältige Techniken erzeugt werden – etwa durch diverse
Bewegungsformen, den Bruch mit etablierten Normen oder den Gebrauch von
Rauschmedien. Die Kultivierung ilinxhafter Erfahrungen reicht von
kindlichen Drehspielen über religiöse Rituale, sportliche
Massenereignisse und politischen Personenkult bis hin zum Nervenkitzel
an der Börse. Innerhalb dieses Schwerpunkts sind mögliche
Untersuchungsgegenstände: alltägliche Irritationen, soziale Turbulenzen
und Ausnahmezustände, soziale Experimente und ästhetische Selbstversuche
(Romantik, Vortizismus, Situationismus, Beatniks) und Kulturtechniken
des Rauschs (Tanz, Fest, Spiel, Massenmobilisierung). Wo und wann
entstehen Phänomene und Situationen, die verführen, dezentralisieren,
mitreißen und destabilisieren? Wie wird ilinx erzeugt und kultiviert,
aber auch problematisiert und gebannt? Auf welche Weise werden Wirbel,
Schwindel und Rausch in künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen
und populären Praktiken operationalisiert?
Die Beiträge sollten idealerweise diese Figuren des Turbulenten selbst
reflektieren, indem sie Material, Methode und Theorie nach den
Forderungen des Untersuchungsgegenstandes konfigurieren.
Die Problemgerechtigkeit ist im Zweifelsfall den disziplinären
Traditionen vorzuziehen.
Es gibt zwei Modi für Texte:
1. Aufsätze im Umfang von ca. 15 Druckseiten (30.000-35.000 Zeichen) zum
Thema des Hefts.
Diese Texte durchlaufen ein anonymisiertes Peer-Review-Verfahren und
werden einige Zeit nach dem Erscheinen des Heftes digital auf der
Internetseite von ilinx zugänglich sein.
2. „Short Cuts“ (kurze, essayistische Betrachtungen,
wissenskünstlerische Beiträge oder Darstellungen aktueller
Forschungsprojekte) mit nicht mehr als 15.000 Zeichen. Sie sind
thematisch frei und wir bitten hier explizit um experimentelle Formen in
Text und Bild.
Abstracts von höchstens einer Seite können bis zum 22. Februar 2009 an
redaktion.ilinxgooglemail.com gesendet werden. Die Frist für die
fertigen Beiträge ist der 15. April 2009.
Reference:
CFP: ilinx. Berliner Beitraege zur Kulturwissenschaft. In: ArtHist.net, Jan 31, 2009 (accessed Nov 19, 2025), <https://arthist.net/archive/31183>.