Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 34 (2007)
AUFSÄTZE
Hans-Rudolf Meier
"Summus in arte modernus". Begriff und Anschaulichkeit des 'Modernen'
in der mittelalterlichen Kunst (S. 7-18)
Die Westfassade des Doms von Spoleto ziert eine Mosaikdarstellung des
von Maria und dem Evangelisten Johannes flankierten Christus, die
durch eine Inschrift ins Jahr 1207 datiert wird. Die Inschrift enthält
außerdem die Künstlersignatur eines Solsternus, der sich als "summus
in arte modernus (der höchste Moderne in der Kunst)" bezeichnet. Diese
Inschrift bildet den Ausgangspunkt für die Untersuchung des Begriffs
"modernus" in der Kunst des Mittelalters. Als Neologismus an der
Schwelle von der Spätantike zum Frühmittelalter geprägt, wird der
Terminus alsbald im architektonischen Kontext verwendet. Erstmals in
einer Künstlerinschrift erscheint er an der Mitte des 12. Jahrhunderts
für den Pisaner Dom geschaffenen Kanzel. Wie in Spoleto wird der
Begriff dort komparativ verwendet, wenn auch in einer anderen
hierarchischen Stellung zum Gegenbegriff "antik", was Gelegenheit
gibt, die Ambivalenz hochmittelalterlicher Verlautbarungen zur Kunst
der eigenen Zeit im Vergleich zu jener der Antike und die Beurteilung
von künstlerischen Innovationen durch die Zeitgenossen zu diskutieren.
Weitet man den Blick dann von den konkreten Beispielen zum
begriffsgeschichtlichen Bezugsfeld, stellt man fest, daß Mittelalter
und Moderne, die sich als Begriffe in der Frühzeit der jeweils anderen
Epoche etablierten, in der ambivalenten Beurteilung der einen in der
anderen Epoche ein eigenartig chiastisch verknüpftes Paar bilden.
Erik Thunø
Looking at Letters. 'Living Writing' in S. Sabina in Rome (S. 19-41)
The author explores the new status of the written word in Early
Christianity and its impact on public inscriptions in Rome. Using the
early fifth-century mosaic inscription in the church of S. Sabina as a
case study, the author argues that the methods of conveying the sacred
status of the written word evolved around a variety of interrelated
factors including the inscription's interaction with the surrounding
imagery, its conceptual content, materiality and finally, the
manipulation of its own syntax. Through these combined visual and
textual efforts, the inscription did not merely record the basilica's
patronage for an audience of readers, but took on a new visual
significance aimed at all Christian viewers, including those who were
illiterate or partially so, but still able to visually contemplate the
words and letters.
Achim Todenhöfer
Apostolisches Ideal im sozialen Kontext. Zur Genese der
Bettelordensarchitektur im 13. Jahrhundert (S. 43-75)
Der massive Stadtausbau zwang die Bettelorden, ihre Architektur zu
reglementieren. Betroffen waren u. a. Gewölbe, Türme, Querhäuser,
Umgangschöre, Krypten und Glasmalereien. Überflüssiges, Erlesenes und
Überdimensioniertes wurde vermieden. Entgegen der bisherigen Forschung
waren die Regeln effektiv. Die Reduktion wurde zum Kennzeichen der
Bettelordensarchitektur. Regelabweichungen lassen sich auf historische
Besonderheiten zurückführen. Während bei den Franziskanern die lokale
Pfarrarchitektur als Maßstab dominiert, orientierten sich die
Dominikaner an regionalen Reformorden. Eine Mischung aus Selbst- und
Fremdreferenzen verband die Orden, führte aber auch zu wechselseitigen
Abgrenzungen. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts bauten sie zunehmend
aufwendiger. Jedoch erscheint das Verhältnis der gebauten Architektur
zu den verschriftlichten Konventionen nur oberflächlich gewandelt,
wenn man die gesellschaftlichen Entwicklungen berücksichtigt.
Jeanette Kohl
Gesichter machen. Büste und Maske im Florentiner Quattrocento (S. 77-99)
Der Beitrag knüpft an die Überlegungen von Georges Didi-Huberman zur
Rolle der Heuristik plastischer Formen im Florentiner Quattrocento an.
Er rückt dabei eine Gruppe von Objekten in den Blick, die vom
mechanisch erzeugten Bild des menschlichen Körpers, genauer: des
Gesichts, dominiert werden. Es zeigt sich, daß die "ressemblance
inanimée" neben der "ressemblance comme animation", daß die
indexikalische neben der freischöpferischen Generierung von
Ähnlichkeit eine offenbar weitere Verbreitung in der Bildproduktion
des 15. Jahrhunderts hatten, als generell vor dem Hintergrund des mit
Vasari kanonisch gewordenen Lebendigkeitspostulates angenommen wird.
Gerade die erhaltenen Tonbüsten und die ihnen vielfach
zugrundeliegenden Lebend- und Totenmasken vermögen es, das Bild vom
Renaissancekünstler als Schöpfer täuschender Lebendigkeit ex mente
zumindest für diesen Bildtypus weitgehend zu revidieren.
Jens Niebaum
Die spätantiken Rotunden an Alt-St.-Peter in Rom. Mit Anmerkungen zum
Erweiterungsprojekt Nikolaus' V. für die Peterskirche und zur
Aufstellung von Michelangelos römischer Pietà (S. 101-161)
Gegenstand des Beitrages sind die beiden spätantiken Rotunden, die
sich bis zum frühen 16. bzw. späten 18. Jahrhundert südlich von Quer-
und Langhaus der Peterskirche befanden. Anhand bisher übersehener bzw.
nicht ausreichend gewürdigter Quellen werden die Bauten neu
rekonstruiert und ihre topographische Relation zueinander sowie zu den
Präexistenzen im Bereich des Vatikans untersucht. Ergänzt wird der
Beitrag um neue Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis der
Petronilla-Rotunde zu den Planungen für eine Erweiterung der Basilika
unter Papst Nikolaus V. (1447-55) sowie zur Frage der Aufstellung von
Michelangelos römischer Pietà in dem bereits 1513/19 abgebrochenen
Rundbau.
Thomas Weigel
Ein Selbstbildnis Jacopo Tintorettos hoch zu Roß. Zur Identifikation
und Funktion einiger Kryptoporträts auf der 'Kreuzigung Christi' in
der Scuola Grande di San Rocco in Venedig (S. 163-198)
Jacopo Tintoretto unterscheidet auf seiner 'Kreuzigung Christi' (1565)
in der Scuola Grande di San Rocco in Venedig zwei Weisen der
Personendarstellung. Im einen Fall bleiben die Gesichter relativ
unspezifisch und abstrakt. Im anderen Fall kommt eine äußerst
sorgfältige und differenzierte Pinselarbeit zum Einsatz, die den
Figuren konkrete, porträthafte Züge verleiht. Diese Beobachtung legt
vor dem Hintergrund einer entsprechenden, teilweise besser
dokumentierten Bildnistradition bei Historiengemälden in anderen
venezianischen Bruderschaftshäusern die Vermutung nahe, daß der Maler
auch hier Porträts von Zeitgenossen integriert haben dürfte. Der
Verfasser unternimmt den Versuch, einige der mutmaßlichen
Kryptoporträts unter Berücksichtigung der Darstellungskonvention, der
Auftragsgeschichte und Komposition des Gemäldes sowie der Bedeutung
allgemeinverständlicher Bildsymbole zu identifizieren und in ihrer
Funktion zu interpretieren.
Jörg Martin Merz
Pozzo Plagiator? Sebastiano Ciprianis Polemik gegen Andrea Pozzos
Ignatius-Altar im römischen Gesù (S. 199-215)
Sebastiano Cipriani warf Andrea Pozzo vor, im Planungsprozeß des
Altars für den heiligen Ignatius im linken Querschiff der römischen
Jesuitenkirche SS. Nome di Gesù (1695) die grundlegende Konzeption
nach seinem Entwurf plagiiert zu haben. Dies kommt in der Widmung
eines Stiches nach seinem Entwurf zum Ausdruck und wird in einem
bisher unbekannten, anonymen Manuskript detailliert ausgeführt. Das im
Anhang des Aufsatzes vollständig transkribierte Manuskript wird genau
analysiert und mit Cipriani in Verbindung gebracht. Indizien in Pozzos
Oeuvre deuten darauf hin, daß er sich seines nicht ganz redlichen
Vorgehens bewußt war.
Niels Fleck
Die allegorisch-emblematischen Bildprogramme in Schloß und
Schloßkirche Saalfeld. Vorlagen, Genese und Auftraggeber (S. 217-249)
Die ca. 1690-1726 entstandenen Ausstattungsprogramme des thüringischen
Residenzschlosses Saalfeld wurden in der bisherigen Forschung wenig
beachtet und zu Unrecht als pietistisch klassifiziert. Der Beitrag
klärt zunächst die politischen und frömmigkeitsgeschichtlichen
Rahmenbedingungen der Ausstattung. Die weitgehend erhaltenen und im
übrigen archivalisch rekonstruierbaren, teils höchst originellen
Bildprogramme werden erörtert, präziser datiert und mit Hilfe der
erstmals ermittelten Vorlagen und Parallelen aus emblematischer
Literatur und Reproduktionsgraphik reflektiert. Der in der
bildkünstlerischen Ausstattung bekundete Anspruch auf Frömmigkeit und
Gelehrsamkeit erweist sich als Spiegelbild des politischen Anspruchs
des Auftraggebers Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld, des
jüngsten Sohnes Ernsts des Frommen, auf Zugehörigkeit zum
Reichsfürstenstand.
Antje Middeldorf Kosegarten
"... Sia dunque tua base principale la madre ignoranza ...". Zu den
'Capricci' und 'Scherzi di fantasia' von Giambattista Tiepolo (S.
251-308)
Die Anregung zu diesem Beitrag ging von Casanova aus, der in seinen
Memoiren die Zaubermanuale aufzählt, die ihm 1755 anläßlich seiner
Verhaftung durch die venezianische Staatsinquisition abgenommen
wurden: es waren u. a. die Clavicula Salomonis, der Zecor-ben, der
Picatrix und astrologische Texte. Wie die Forschung feststellte,
kannte er auch Agrippa von Nettesheim ("De Occulta Philosophia").
Tiepolo hat solche Zaubermanuale nicht illustriert, sondern anspielend
auf sie Bezug genommen, auch unter Einbeziehung der volkstümlichen
Magie in Venedig. Hinweise der älteren Forschung sowohl auf den hier
virulenten Okkultismus wie auch auf den von Gerolamo Tartarotti
ausgelösten "Hexenstreit" konnten durch Textstudium präzisiert werden.
Sigrid Hofer
Experimentelle Fotografie in der DDR. Edmund Kestings Porträtaufnahmen
(S. 309-336)
Ungeachtet der Forderungen nach einer sozialistischen Fotografie, die
- der Malerei vergleichbar - zur politischen Bewußtseinsbildung
beizutragen hatte, führte Edmund Kesting seine bereits in den
zwanziger Jahren entwickelte experimentelle Bildsprache fort. In
seinen ästhetisch wie kompositionell höchst artifiziellen
Mehrfachbelichtungen, die ihresgleichen in der DDR suchten,
kombinierte er unterschiedliche Perspektiven und erreichte Porträts
von derart großer Präsenz und Ausdruckskraft, daß nicht nur
Persönlichkeiten des kulturellen Lebens zu seinen Auftraggebern
zählten, sondern selbst offizielle Anfragen an ihn ergingen. Der
Rückgriff auf bildkünstlerische Topoi der Malereigeschichte und das
stete Überschreiten von Gattungsgrenzen - Aspekte, die hier im Fokus
stehen - spiegeln dabei sein medientheoretisches Interesse wider und
unterstreichen sein lebenslanges Postulat nach Anerkennung der
Fotografie als Kunst.
Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft. Marburg: Verlag des
Kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg. ISSN
0342-121X
Internetseite: http://www.uni-marburg.de/fb09/khi/forschung/zeitschriften1/jahrbuch/index_html
Redaktion Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft
Philipps-Universität Marburg
Kunstgeschichtliches Institut
Biegenstr. 11
35037 Marburg / Lahn
E-Mail: frickefotomarburg.de
Quellennachweis:
TOC: Marburger Jahrbuch 34 (2007). In: ArtHist.net, 04.04.2008. Letzter Zugriff 05.01.2025. <https://arthist.net/archive/30344>.