Wissenschaftsjahr 2007
Im Blickpunkt
Die Fremdheit der Geisteswissenschaften
Das Jahr der Geisteswissenschaften neigt sich seinem Ende zu. Zeit für
erste Rück- und Ausblicke. Der Tagesspiegel berichtet von einer
Veranstaltung in Berlin, die eine Bilanz des Jahres der
Geisteswissenschaften zog. Vorgestellt wurde dabei auch ein an der Uni
Potsdam erarbeiteter Atlas zu den sogenannten "Kleinen Fächern" an
deutschen Hochschulen: "Jetzt konnte Schavan die lange erwartete
Kartierung dieser Exoten vorlegen, deren Bestand an deutschen Unis
gefährdet ist. Zu den ganz Kleinen gehören die 'Translatologie', die
Wissenschaft vom Übersetzen, oder die 'Provinzialrömische Archäologie'.
Gefährdet sind auch die 'Sorabistik' und die 'Friesistik', die
gleichwohl für die kulturelle Vielfalt in Deutschland stehen. (...) Als
klein gilt ein Fach, das an höchstens acht staatlichen Hochschulen
vertreten ist und dort nur je zwei bis drei Professuren hat. Zurzeit
gibt es rund 120 Kleine Fächer."
Und in der Welt meint Berthold Seewald, dass die Initiative schon
deshalb genützt habe, weil die Ausgangslage katastrophal war: "Wenn
jetzt Kulturlobbyisten als wichtigste Leistung ihres Jahres
konstatieren, die Geisteswissenschaften hätten gezeigt, dass sie sich
mit konkreten gesellschaftlichen Fragen beschäftigten (was
offensichtlich überraschend ist), dann lässt das nur erahnen, wie fremd
Geschichte oder Philosophie Vielen geworden sind. Das gilt nicht zuletzt
für die Medien. Wenn ihre Vertreter in diesem Jahr endlich begriffen
haben sollten, dass es neue Namen und Forschungen nach den längst
emeritierten Mandarinen ihrer Studienjahre gibt, dann hätten die
Geisteswissenschaften wirklich viel gewonnen. "
Tagesspiegel, 28.11.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/;art304,2428918
Welt, 29.11.
http://www.welt.de/welt_print/article1411551/Triumph_des_Geistes.html
Themen der Woche
Blick in die Bibliothek
Die NZZ hat für ihre Wochenendbeilage Literatur und Kunst Autoren und
Künstler wie Alexander Kluge und Alfred Brendel (und eine Autorin:
Friederike Mayröcker) um Einblick in ihre Bibliotheken gebeten. Gefragt
wurden aber auch der Kunstphilosoph Arthur C. Danto und der Experte für
mittelalterliche Mystik Alois M. Haas. Haas hat gerade seine 40.000
Bände umfassende Bibliothek der Universitat Pompeu Fabra in Barcelona
vermacht. In seinem Text erinnert er zunächst aber an eine der
berühmtesten privaten Kunstbibliotheken des 20. Jahrhunderts: "Eine
wissenschaftliche Bibliothek von Rang muss von langer Hand vorbereitet
werden. Aby Warburg hat mit seinem frühen und lebenslangen Verzicht auf
den Beruf als Banker und gleichzeitigem familiärem Arrangement, alle zu
kaufenden Bücher von seinem Bruder bezahlen zu lassen, gezeigt, wie eine
kulturwissenschaftlich konzipierte Bibliothek mit Verstand aufgebaut
werden muss. Dass mir ein solcher Weg verschlossen blieb, war mir immer
klar; da fehlten alle ökonomischen Voraussetzungen."
Arthur C. Danto erklärt die Eigenart seiner eher idiosynkratisch
zusammengestellten Bibliothek: "Wenn ich es mir genauer überlege, dann
lassen sich meine Bücher als fortlaufende Spiegelung meiner persönlichen
Geistesgeschichte betrachten. Jedes Buch hat seine – schon fest
umrissene oder erst potenzielle – Bedeutung für etwas, das ich
geschrieben habe oder noch schreiben möchte; und obwohl ich immer sehr
viel gelesen habe, wohnt den Büchern, die ich behalte, stets die
besondere Verheißung inne, dass sie da sein werden, wenn ich sie
brauche. Es ist die Bibliothek eines Schriftstellers, obwohl ich –
zumindest bis vor zwanzig Jahren, als ich mich der Kunstkritik zuwandte
– primär philosophische Texte für Philosophen verfasste."
NZZ, 1.12.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/bibliotheca_mystica_et_philosophica_1.592281.html
(Alois M. Haas)
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/meine_bibliothek_und_mein_leben_1.592288.html
(Arthur C. Danto)
Mythologie als ethnologische Experimentalwissenschaft
Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ geht es um Oskar Goldberg,
der in den zwanziger Jahren mit seinem zwischen Okkultismus und
Wissenschaft changierenden Buch "Die Wirklichkeit der Hebräer" Aufsehen
erregte. Lorenz Jäger stellt ihn vor: "Oskar Goldberg gehörte zu jenen
Denkern, die, wie René Guenon, Julius Evola und noch Mircea Eliade, eine
verkannte Wahrheit des Mythos wieder ins Bewusstsein rufen wollten.
'Mythologie', schreibt er, 'ist somit keine Altertumswissenschaft,
sondern aktuelle transzendente Realitätsforschung - die Völker selbst
werden Gegenstand des wissenschaftlichen Versuchs: es ist eine
ethnologische Experimentalwissenschaft."
FAZ, 28.11.
Kommunikation mit Zettelkasten
Jürgen Kaube hat Einblick in den lange wegen Rechtsstreitigkeiten
weggeschlossenen Zettelkasten Niklas Luhmanns erhalten und nimmt in der
FAZ eine erste Kartierung vor: "Es ist keine Übertreibung, Niklas
Luhmann den bedeutendsten und produktivsten Soziologen des zwanzigsten
Jahrhunderts zu nennen. Als ein Geheimnis seiner Produktivität galt
stets sein besonderer Zettelkasten. Soeben war er, um den jahrelang
prozessiert wurde, in Bielefeld erstmals für einige wenige Stunden
zugänglich. (...) Mit Luhmanns äußerer Erscheinung teilt er die
Eigenschaft, in einem leeren Raum übersehen werden zu können. Er umfasst
sechs mal vier Karteikästen, von denen allerdings jeder bis zum Rand mit
Papierzetteln gefüllt ist, insgesamt werden es, über den Daumen
geschätzt, 20 000 Zettel sein. Da Luhmann im letzten Lebensjahrzehnt den
Kasten nicht mehr gefüttert hat, kommt man über mehr als dreißig Jahre
auf etwa zwei Einträge pro Tag."
FAZ, 5.12.
Fotografie und Geld
Für die taz hat Alexander Cammann die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift
Fotogeschichte zum Thema "Glänzende Geschäfte. Fotografie und Geld"
gelesen und referiert knapp einen Aufsatz des Kulturwissenschaftlers Tom
Holert: "In einer fein konturierten Momentaufnahme der Fünzigerjahre
analysiert Tom Holert zwischen Marilyn Monroe und deren Fotografen Cecil
Beaton, Pin-Up- und Werbefotos den damaligen Siegeszug der
Glamourfotografie: In dieser visuell inszenierten, meist weiblichen
Körperlichkeit verbanden sich stets ästhetische, sexuelle und
finanzielle Aspekte. Immer schon hat die Kapitalismuskritik auf den
Warencharakter der Fotografie hingewiesen, mit mehr oder minder
deutlichen kulturkritischen Untertönen."
taz, 28.11.
http://www.taz.de/nc/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2007%2F11%2F28%2Fa0138&src=GI&cHash=2022d162e8
Homepage der Zeitschrift Fotogeschichte: http://www.fotogeschichte.info
Bücher und Rezensionen
In der taz unterhalten sich Stefan Reinecke und Christian Semler mit dem
britischen Historiker Simon Sebag Montefiore über dessen neuestes Buch,
indem er die Jugend Stalins schildert - und auch der Frage nachgeht, wie
sich die Brutalität des späteren Sowjet-Diktators erklären lässt.
Montefiore meint: "Die 'Kultur der Gewalt' ist ein wichtiger
Erklärungsfaktor. Die Gegend, in der Stalin aufwuchs, war durchtränkt
von körperlicher Gewalttätigkeit, von der Allgegenwart unterschiedlicher
Formen von Terror. Ich würde allerdings nicht speziell von einer
georgischen, sondern von einer kaukasischen Kultur der Gewalttätigkeit
sprechen. Nicht nur deklassierte Gangster bedienten sich gewaltsamer
Mittel wie der Erpressung, des Raubes, der Banküberfälle und der
Entführung, sondern ebenso Angehörige der Oberschicht: der Typus des
Aristokraten als Outlaw."
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Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (28 Nov-4 Dec 07). In: ArtHist.net, 05.12.2007. Letzter Zugriff 12.05.2025. <https://arthist.net/archive/29920>.