Jahr der Geisteswissenschaften 2007
Im Blickpunkt
Qualitätsstandards in den Geisteswissenschaften
An der Berliner Humboldt-Universität wurde über einheitliche
Qualitätsstandards in den Geisteswissenschaften diskutiert - bei aller
Einigkeit in Grundsatzfragen offenbar durchaus kontrovers, wenn es um
Folgerungen ging.
In der Berliner Zeitung referiert Bert Hoppe einige Argumente: "Die Frage,
wie sich diese Qualitätsstandards in der Praxis auch gerecht und objektiv
messen lassen, wusste niemand so recht zu beantworten. Immer wieder kreiste
die Diskussion um die Zitationsindizes, mit denen gezählt wird, wie häufig
ein Autor von anderen Wissenschaftlern zitiert wird. Wer häufig zitiert
wird, so die Grundidee, muss wohl wichtig sein. Demgegenüber äußerte Hubert
Markl, der langjährige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und
von Hause aus Biologe, Zweifel an diesem Instrument, da es doch nur
gewissermaßen die 'Einschaltquote' einer Publikation registriere, ohne
wirklich deren Inhalt zu bewerten."
Am (selbst)kritischsten äußerte sich der Historiker Ulrich Herbert, wie
Joachim Güntner in der NZZ berichtet: "Der Historiker Ulrich Herbert gehört
zu jenen, für welche der Mangel an Qualität in den Geisteswissenschaften
nicht bloß Produkt übler Nachrede, sondern eine ausgemachte Sache ist.
Manche universitäre Abschlussprüfung erreiche nicht einmal das Niveau von
Abiturprüfungen, polemisierte er in Berlin. Den Geisteswissenschaften fehle
es überall an kanonischem Verständnis: Weder über ihre Leistungsmaßstäbe
noch über ihre Gegenstände seien sie sich klar. Die Diversifizierung der
Sujets und Methoden habe Subdisziplinen geschaffen, die bloß noch im eigenen
Saft kochten."
Im Tagesspiegel zitiert Eva Maria Götz einen, der es mit Entscheidungen über
Fördernswertes zu tun hat: "Manfred Niessen, Leiter der Fachgruppe Geistes-
und Sozialwissenschaften der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), meinte,
die Geisteswissenschaften hätten durchaus Qualitätskriterien, an denen sich
die DFG bei ihrer Drittmittelvergabe auch orientiere: Da gehe es um 'einen
methodisch soliden Ansatz, eingebettet in den relevanten Stand der
Literatur, belastbar in den Ideen und das nach einer Urteilsbildung der
Besten in den Fächern'".
Und in der SZ verweist Jens Bisky auf unterschiedliche Voraussetzungen
geisteswissenschaftlicher Arbeit: "Es gibt aber doch einen [Unterschied],
wenn er auch nicht 'science' von 'humanities' scheidet, sondern große von
kleinen Fächern. Der Rektor des Wissenschaftskollegs, Luca Giuliani,
behauptete, dass er, wenn es etwa um das Wunderwerk des Parthenon ginge,
nach etwa vier Monaten die gesamte einschlägige Literatur gelesen haben
könne. Wer dagegen das menschliche Immunsystem erforsche, müsse täglich mit
Dutzenden neuen Aufsätzen rechnen. Da braucht es Auswahlkriterien.
Bibliometrische Verfahren helfen, annähernd den Überblick zu behalten."
Berliner Zeitung, 24.11.
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/print/feuilleton/704493.html
Tagesspiegel, 27.11.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Hochschule;art304,2427490
NZZ, 27.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/fehlberufene_professoren_und_andere_pannen_1.590497.html
SZ, 24.11.
[Geisteswissenschaften]
Themen der Woche
Archäologische Sensation: Romulus-Höhle entdeckt
Eine Sensation wird aus Rom vermeldet: Archäologen haben mit großer
Wahrscheinlichkeit die mythische Höhle des Romulus, Gründungsstätte des
antiken Rom, entdeckt. In der FAZ informiert Dieter Bartetzko: "So spricht
vieles dafür, dass die Archäologen wirklich unterhalb dieser Hütten jene
Grotte gefunden haben könnten, der das antike Rom als seiner Keimzelle
huldigte. Ehe die Freilegung beginnt, soll nach dem einstigen Eingang der
'Lupercale' gesucht werden. Egal, ob er gefunden wird, gleichgültig, ob die
Grotte archaischen oder kaiserzeitlichen Ursprungs ist: Es steht ein Fest
der Sinne bevor."
In der Welt zitiert Berthold Seewald den von der Bedeutung des Fundes
überzeugten Forschungsleiter: "Der Archäologie-Professor Andrea Carandini
scheut sich nicht, seine wissenschaftliche Reputation mit der Deutung zu
verbinden: Es handele sich mit fast an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit um diese Höhle, sagte er. 'Das ist eine der großartigsten
Entdeckungen, die jemals gemacht wurden.'"
FAZ, 22.11.
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E89E288CF457E48E6B2701480F51572DA~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Welt,22.11.
http://www.welt.de/welt_print/article1384003/Die_Hoehle_des_Romulus.html
[Geschichte, Archäologie]
Philosophisch-politischer Dialog
Die SPD hat sich einen Philosophen ins Willy-Brandt-Haus geholt. Jürgen
Habermas diskutiert mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier über
Europapolitik, Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin moderiert. Jens
Bisky, der in der Süddeutschen Zeitung berichtet, hat nicht unbedingt einen
Dialog erlebt: "Der Philosoph, analytisch und klar, äußerte sich in einem
universalistischen Rigorismus, wie er zum Besten der europäischen Aufklärung
gehört. So strahlend und ehern, nüchtern in der Darstellung, pathetisch im
Anspruch, wie Habermas es tat, wird diese selten verteidigt. Die
universalistischen Normen sind ein Kind der französischen Revolution ebenso
wie ein Erbe Kants, der im Pariser Umsturz ein 'Geschichtszeichen' sah, das
auf eine fortschreitende Moralisierung des Menschengeschlechts deute. (...)
Steinmeier antwortete diplomatisch ausweichend und mit einer spürbaren
Neigung zum Weiterwursteln: 'Schneller geht's eben nicht.'"
In der Welt kommentiert Eckhard Fuhr: "Gegen Habermas' nachtschwarzen
Pessimismus bemühte Steinmeier das Prinzip Hoffnung. Die Politik leiht sich
Flügel, die Philosophie geht zu Fuß."
Recht schlau geworden aus der Veranstaltung ist auch Ronald Düker in der taz
nicht: "Das also ist das Lernziel des SPD-Seminars: Der Philosoph bekennt
sich zu Amerika. Und wirft damit die ungeklärte Frage auf, worin denn
überhaupt der Unterschied zwischen intellektueller Vision und
tagespolitischem Pragmatismus bestehen soll."
Für die FR war Harry Nutt bei der Diskussion zugegen.
SZ, 26.11.
Welt, 26.11.
http://www.welt.de/welt_print/article1400187/Habermas_und_Steinmeier.html
taz, 26.11.
FR, 24.11.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1247875
[Philosophie]
Buddhistische Bibliothek in der Höhle
Vor hundert Jahren entdeckte der Archäologe Marc Aurel Stein im chinesischen
Dunhuang in einer Höhle Manuskripte aus einer buddhistischen
Klosterbibliothek - und begann sogleich mit dem Abtransport. In der NZZ
erläutert der Sinologe Roland Altenburger die Bedeutung des Funds: "Zwar
machen Abschriften bestimmter buddhistischer Sutras in Hunderten von
Exemplaren etwa drei Viertel des Gesamtbestandes aus. Daneben fanden sich
aber auch einzigartige Dokumente der untergegangenen Religionen des
Nestorianismus und des Manichäismus. Viele Handschriften stammten von
Mönchen, Klosterschülern und Laienbuddhisten. Weil darin mitunter auch von
Administrativem und anderem Profanem die Rede ist, lässt sich der Alltag in
den zahlreichen Klöstern Dunhuangs ansatzweise daraus rekonstruieren. Pikant
sind die mehreren hundert Liebeslieder, die keineswegs nur zufällig auf
Manuskripträndern, sondern durchaus auch um ihrer selbst willen
aufgeschrieben wurden."
NZZ, 26.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/der_raub_der_eine_rettung_war_1.589820.html
[Sinologie, Archäologie]
Osterweiterung des Literaturkanons
Ein engagiertes Plädoyer für die Horizonterweiterung der westlichen
Literaturwissenschaften hält in der NZZ der Komparatist Michael Ostheimer:
"Es gibt inzwischen hinreichend Gründe für eine nachhaltige Osterweiterung
des immer noch westlich dominierten Begriffs und Kanons der Weltliteratur.
Einer dieser Gründe heißt Lu Xun. Der 1881 unter dem bürgerlichen Namen Zhou
Shuren geborene Lu Xun ist der Türhüter der modernen chinesischen Literatur.
Mit ihm sollte sich auseinandersetzen, wer mehr als nur schlaglichtartige
Einblicke in Chinas kulturelle Entwicklung des 20. Jahrhunderts nehmen
möchte."
NZZ, 24.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/der_konfuzianismus_als_kannibalismus_1.588808.html
[Literaturwissenschaft]
Lest William Blake
Der emeritierte Anglist Werner von Koppenfels hat einen entschiedenen Rat an
die NZZ-Leser: Vergesst nicht William Blake, den Literaten: "Die 'Hochzeit'
ist in ihrer Mischung aus phantastischer Erzählung und provokanter
Aphoristik ein hierzulande noch kaum entdeckter Schlüsseltext der
europäischen Romantik. Die kürzeren Prophetischen Bücher wie 'Die Töchter
Albions', 'Die Französische Revolution' oder 'Das Buch Urizen' führen tiefer
hinein in Blakes visionären Kosmos, dessen Gipfel - oder auch, für
ermüdungsanfällige Leser: Abgrund - die großartig ausufernden, bis dato
unübersetzten Langepen 'Milton' und 'Jerusalem' bilden."
NZZ, 24.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/gegen_die_ketten_des_geistes_1.588817.html
[Literaturwissenschaft]
Lehrsklavenhaltergesellschaft
In der FAZ warnt Jürgen Kaube vor dem Entstehen einer universitären
"Lehrsklavenhaltergesellschaft" in Folge der Bachelor-Reform: Immer mehr
Stellen werden vorwiegend oder ausschließlich für die Lehre ausgeschrieben -
und miserabel bezahlt. Ein öffentlicher Briefwechsel unter Soziologen nimmt
die Entwicklung kritisch in den Blick: "Für [den Soziologen Armin Nassehi]
liegt der gegenwärtigen Wissenschaftspolitik das Bestreben zugrunde, der
Bildung den Garaus zu machen. An die Stelle der Forderung nach
'Selbstsozialisation' der Studierenden trete ihre Behandlung als
Leistungsempfänger. Der Lehrprofessor sei insofern der Sozialarbeiter des
reformierten Universitätssystems. Die Leistungen, die er abgibt, sind
vorwegdefiniert und bedürfen eben darum auch keiner fortlaufenden
Forschung."
FAZ, 27.11.
Bücher und Rezensionen
Heftige Kritik bekam der Kunsthistoriker George Didi-Huberman zu hören, als
er Fotografien aus dem Vernichtungslager Auschwitz fotografiehistorisch
analysierte. Der "Shoah"-Regisseur Claude Lanzman und der Psychoanalytiker
Gérard Wajcman argumentierten, dass sich die Shoah nicht im Bild darstellen
lasse - und dass deshalb dokumentarische Bilder wie die von Didi-Huberman
analysierten nichts zu ihrer Darstellung beitragen könnten. Im nun
übersetzten Band "Bilder trotz allem" setzt sich Didi-Huberman mit seinen
Kritikern auseinander: "Im Bilderverbot der Gegenseite sieht Didi-Huberman
die Vorstellung von einem absoluten Bild am Werk. (...) Man spreche lieber
ein generelles Bilderverbot aus, als sich der Wirkung eines unzureichenden,
notwendig fragmentarischen Bildes auszusetzen und es in den Grenzen seiner
Möglichkeiten anzuerkennen. Didi-Huberman hingegen sieht im Bild, mit Walter
Benjamin, einen Funken und nicht eine Substanz - einen Riss in der
Wirklichkeit, der den Abgrund, vor dem man schaudert, bezeichnen kann."
NZZ, 22.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/sich_ein_bild_machen_1.587805.html
[Kunstgeschichte]
[Bild]
Viel Shakespeare-Forschung in der NZZ. Thomas Leuchtenmüller stellt Stephen
Greenblatts Adorno-Vorlesungen aus dem Jahr 2006 vor: "Ins Zentrum rückt er
drei Begriffe: Autonomie, Individuation und Negation. Deutlich wird primär,
dass Shakespeares Zeilen häufig künstlerische Unabhängigkeit propagieren.
Dem Artefakt spricht der 'Barde' eigenes Leben zu, unabhängig von den
Ansprüchen der natürlichen Ordnung der Dinge; die ästhetische Erfahrung ist
für ihn losgelöst von banalem Alltag und utilitaristischen Erwägungen; die
Kunst betrachtet er als einen Bereich radikaler Freiheit."
Und Stefana Sabin gibt einen Überblick über neueste wissenschaftliche und
populärwissenschaftliche Shakespeare-Sekundärliteratur: "Zum Beispiel das
neue Buch des amerikanischen Kulturjournalisten Ron Rosenbaum, 'The
Shakespeare Wars': ein sechshundert Seiten langer Wälzer - nicht über
Shakespeare, sondern, so der Untertitel, über 'streitende Gelehrte,
öffentliche Desaster, Machtgefechte'; also über den professionellen Umgang
mit Shakespeare und die öffentliche Wahrnehmung der Shakespeare-Studien."
NZZ, 22.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/freiheit_fuer_die_kunst_1.587809.html
NZZ, 24.11.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/silberne_schalen_1.588812.html
Konferenzen und Tagungen
Sechzig Jahre Zentralinstitut für Kunstgeschichte
Zum sechzigsten Gründungstag richtete das Münchner "Zentralinstitut für
Kunstgeschichte" eine Tagung aus, in der es auch um die eigenen Anfänge
ging. In der SZ informiert Harald Eggebrecht: "Die Anfänge des ZI
schließlich führen, wie Iris Lauterbach vortrug, in den November 1946
zurück. Der erste Direktor des 'Collecting Point', der amerikanische
Kunstschutzoffizier Craig Hugh Smyth, ausgebildet in Princeton, dort unter
anderem Hörer von Erwin Panofsky und mit der deutschen kunsthistorischen
Tradition vertraut, regte an, hier eine universitätsunabhängige,
international orientierte kunsthistorische Forschungstätte zu installieren."
SZ, 26.11.
[Kunstgeschichte]
Das Projekt Moderne am Beispiel "Bauhaus"
In Bielefeld wurde am Beispiel "Bauhaus" über das Projekt Moderne und seine
Voraussetzungen diskutiert. In der FAZ referiert Alexander Grau: "Anknüpfend
an die Anthropologie Helmuth Plessners, interpretierte [Helmut] Lethen die
Kälte des Bauhausdesigns als Versuch, den modernen Menschen schockartig zu
sich selber kommen zu lassen. Dieses heroische Projekt hätte allerdings
sogar seine Urheber überfordert. Es verfehle daher sein eigentliches Ziel
und verkomme zum Fetisch."
FAZ, 21.11.
[Kunstgeschichte]
Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (21-27 Nov 07). In: ArtHist.net, 28.11.2007. Letzter Zugriff 09.05.2025. <https://arthist.net/archive/29795>.