Wissenschaftsjahr 2007
"Die Geisteswissenschaften in den deutschsprachigen Feuilletons" ist
eine wöchentliche Presseschau, die der Perlentaucher in Kooperation mit
dem Wissenschaftsjahr 2007 "Die Geisteswissenschaften. ABC der
Menscheit" herausgibt. H-ArtHist veröffentlicht als Medienpartner der
Initiative eine Auswahl der Beiträge.
Aus den Feuilletons vom 15.-21.8.2007
Keine feuilletonübergreifenden Schwerpunkte gab es in der vergangenen Woche,
dafür aber große Themenvielfalt. So staunt der Komparatist Hans Ulrich
Gumbrecht in der Welt über die beinahe literaturwissenschaftlichen Standards
genügende Qualität von Editionen deutscher Neuübersetzungen von Klassikern
der Weltliteratur. Der Theologe Christian Link erläutert in der FAZ, was die
Theologie von der Evolutionstheorie lernen kann - und warum sie nicht auf
kreationistische Thesen verfallen muss. Und der Kulturwissenschaftler Thomas
Macho erzählt in der NZZ die Geschichte der Polarexpeditionen und der sie
umlagernden Imaginationen.
Im Blickpunkt
Beispielhafte Neu-Übersetzungen der Weltliteratur
In der Welt freut sich der in Stanford lehrende Komparatist Hans Ulrich
Gumbrecht über den Trend zu Neuübersetzungen der Weltliteratur - und zwar in
anspruchsvoll edierten Ausgaben: "Zum Typus dieser Bände gehören
ausführliche Kommentare, Glossarien und editorische Notizen. Oft geraten die
Erläuterungen über einzelne Wörter und Referenzen zu dichten
kulturhistorischen Vignetten, wie etwa in der erwähnten
Dostojewskij-Ausgabe, wo sich die Etymologie des russischen Wortes für
'Bahnhof' ('woksal' nach dem englischen 'Vauxhall') zu einer kleinen
Geschichte der europäischen Vergnügungsindustrie entwickelt... Manchmal
frage ich mich zwar, wie nicht-professionellen Lesern mit der ausführlichen
Darlegung vertrackter philologischer Probleme in Bezug auf die
Original-Texte gedient ist - aber solche Zugaben gehören heute jedenfalls
zum Standard der anspruchsvollen Verlage. Das gilt auch für die opulenten
'Nachworte' als drittem Element in der Rahmung von Klassiker-Texten. Sie
befinden sich ganz selbstverständlich auf dem neuesten Stand der
literarhistorischen Forschung und überbieten in ihrer stilistischen Eleganz
und Leserfreundlichkeit - fast möchte man sagen 'spielend' - die
literaturwissenschaftliche Konkurrenz."
Welt, 18.8.
http://www.welt.de/welt_print/article1115801/Das_Echo_des_Originals.html
Terror im Irak gegen Glaubensgemeinschaft der Yezidi
Die koordinierten Anschläge gegen die Glaubensgemeinschaft der Yezidi waren
mit mehr als 400 Toten das größte Blutbad seit der Besetzung des Landes. In
der NZZ erklärt der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, warum sich
der Hass der extremistischen Sunniten so sehr gegen eine der kleinsten
religiösen Minderheiten im Irak richtet: "Soweit heute rekonstruierbar,
gründet die Religion auf einer Islamisierung alter lokaler Kulte, die mit
der Symbolisierung Gottes in der Gestalt des Pfaus verknüpft war. (...) Für
muslimische Orthodoxe stellte die Tradition der Yezidi, Malak Ta'us als Pfau
abzubilden und in Form einer Statue zu verehren, die Sünde der
'Beigesellung' - einer Abweichung vom strikt monotheistischen Gottesbild -
und damit das größte Vergehen gegenüber Gott dar. Zudem wurde die
Religionsgemeinschaft vor allem wegen ihrer Anschauungen über die
Seelenwanderung und die Reinkarnation mit extremen schiitischen Denkschulen
identifiziert, die aus der Sicht fundamentalistischer Sunniten eine
'geschlossene Gemeinschaft des Unglaubens' bilden. Diese Herleitung der
Yezidi aus der Schia ist jedoch unzutreffend und gehört zu den großen
sunnitischen Mythen im Irak."
NZZ, 18.8.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/weh_dem_der_nicht_ans_hoellenfeuer_glaubt_1.542578.html
Themen der Woche
René Girard und der Sündenbock
In der FAZ-Kolumne "Blick in deutsche Zeitschriften" referiert Ingeborg
Harms ein Gespräch in "Sinn und Form" zwischen dem Innsbrucker Professor
für Christliche Gesellschaftslehre Wolfgang Palaver und dem
Religionstheoretiker René Girard, in dem letzterer noch einmal seine Theorie
des "Sündenbocks" erläutert: "Für den in Stanford lehrenden Franzosen sind
Religionen 'Siege über die Gewalttätigkeit', schon das heidnische
Opferritual ist eine aggressionsableitende Technik. Doch erst der
jüdisch-christliche Monotheismus habe das 'Rätsel' des Sündenbocks und damit
das der menschlichen Grausamkeit gelöst, indem er von der Perspektive der
Täter auf die des Opfers umschaltete: Der vom mordlustigen Mob umstellte
Erzähler der alttestamentarischen Psalmen darf als Sündenbock zum ersten Mal
in der Geschichte 'gegen sein Schicksal toben'."
FAZ, 18.8.
Vereinbarkeit von Bibel und Evolutionstheorie
In der FAZ erläutert der Theologe Christian Link, wie sich die Bibel mit der
Evolutionstheorie vereinbaren und deshalb der Kreationismus vermeiden lässt:
"Dass die Annahme einer schrittweisen Entwicklung der Welt, insbesondere der
Gattungen und Arten alles Lebendigen, dem Freien Handeln Gottes nicht
widerspricht, ihn als Schöpfer des Universums nicht in Frage stellt, wird
heute nahezu von allen Theologen mühelos zugestanden. Man lernt die
Evolutionstheorie als das Konzept einer Welt zu verstehen, die allezeit im
Werden begriffen ist, das heißt als das Angebot einer 'Theorie der
Geschichtlichkeit der Natur' (Günter Altner), die deterministische
('deistische') Erklärungsmodelle grundsätzlich hinter sich lässt. Damit
ändert sich zwangsläufig die Richtung der Frage nach Gott."
FAZ, 18.8.
Bildstrategien des Terrorismus
Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ referiert Wolfgang Krischke
einen Aufsatz der Historikerin Petra Terhoeven mit dem Titel "Opferbilder -
Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer
Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der siebziger Jahre",
in dem diese die Bildstrategien der Roten Brigaden und der RAF analysiert:
"Die RAF hatte zunächst auf Bilder verzichtet und sich auf die verbale
Kommunikation beschränkt - eine heute 'restlos antiquiert' wirkende
Strategie, wie Astrid Proll rückblickend meinte. Doch im Zuge der
Schleyer-Entführung setzten die RAF-Leute nicht nur den Fotoapparat, sondern
auch - erstmals in der Geschichte des europäischen Linksterrorismus - eine
Videokamera ein, die zudem über eine Tonspur verfügte. Die Bilder, die sie
machten, brannten sich zwar in das visuelle Gedächtnis der Zeitgenossen ein,
doch den gewünschten Erfolg erzielten sie nicht. Der gebrochen wirkende
Schleyer, im Unterhemd, mit dem Plakat 'Gefangener der R.A.F.' vor sich,
stärkte bei deutschen Politikern die Entschlossenheit, den Forderungen der
Entführer nicht nachzugeben."
FAZ, 15.8.
Kunsthistoriker Thomas Gaethgens wird neuer Direktor des Getty Research
Institute
Der deutsche Kunsthistoriker Thomas Gaethgens wird neuer Leiter des Getty
Research Institute in Los Angeles, einer der angesehensten und reichsten
Forschungseinrichtungen für Kunst. In der FAZ porträtiert Henning Ritter
zunächst den neuen Direktor und erklärt, wie er sich für den Posten
qualifiziert hat: "Gaehtgens, der sechsundzwanzig Jahre an der Berliner
Freien Universität gelehrt hat, wäre sicherlich nicht in das Visier des
Getty-Präsidenten Jim Wood geraten, der ihn vor vier Wochen mit dem Angebot
überraschte, wenn er nicht seit 1997 mit der Gründung und Etablierung des
Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris eine Bravourleistung
vollbracht hätte. In Paris ein deutsch-französisches Institut für
Kunstgeschichte zu etablieren, dessen Umrisse sich nicht einmal in den
Kaminträumereien deutsch-französischer Vermittler abgezeichnet hatten, ist
schon als Leistung institutioneller Phantasie bemerkenswert." In der FAZ vom
17.8. folgt dann noch ein Interview mit Gaethgens.
FAZ, 15.8. (Porträt) & 17.8. (Interview)
Historiker debattieren über die Geschichte der Sklaverei
In der SZ berichtet der Afrika-Historiker Andreas Eckert über heftigen
Streit in der Geschichtswissenschaft um das Thema Sklaverei: "Voll entbrannt
ist die Debatte über Sklavenhandel und Erinnerung in Afrika unter den
akademischen Historikern. Die intensivste Auseinandersetzung entspann sich
um die vor der Küste Senegals gelegene Insel Gorée, den ersten offiziellen
Gedenkort des Sklavenhandels in Afrika. Von der Unesco bereits 1978 zum
Weltkulturerbe erklärt, wurde die Insel von zahllosen Prominenten wie Bill
Clinton oder Papst Johannes Paul II. besucht, die damit an die
Zwangsverschleppung von Afrikanern in die 'Neue Welt' erinnerten. Doch vor
rund zehn Jahren stellten einige amerikanische und französische Historiker
die durchaus gut fundierte These auf, dass Gorée zumindest quantitativ
niemals eine bedeutende Rolle für den transatlantischen Sklavenhandel
gespielt habe. Daraufhin wurden diese Historiker von der senegalesischen
Presse mit Holocaust-Leugnern verglichen."
SZ, 20.8.
Zum Tod des Philosophen Michael Frede
In der FAZ schreibt Thomas Poiss einen Nachruf auf den bedeutenden
Antike-Philosophen Michael Frede: "Den Ruhm, einer der luzidesten
Interpreten antiker Philosophie zu sein, erwarb sich der 1940 in Berlin
geborene Michael Frede schon früh. 1967 erschien seine in Göttingen bei
Günther Patzig geschriebene Dissertation 'Prädikation und Existenzaussage',
hundert Seiten über Platons Dialog 'Sophistes', die zu den meistkopierten
aller Institutsbibliotheken gehören: ein Wunder ebenso kluger wie nicht
gewaltsamer Rekonstruktion."
FAZ, 18.8.
Zur Geschichte der Polarreisen
In der NZZ findet sich ein Aufsatz des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho
über die Geschichte der Polarexpeditionen, die, wie er herausarbeitet,
vielfältigen Zwecken und Interessen gehorchten: "Gute Gründe motivierten
also den Aufbruch zum Pol: die Demonstration von Macht und Prestige, die
Suche nach neuen Seewegen, Ressourcen und Bodenschätzen, das militärische
Interesse am Training der Truppen, das wissenschaftliche Bedürfnis nach
einer Komplettierung der Weltkarten ohne weisse Flecken, ganz abgesehen von
den inspirierenden Fragen meteorologischer, ethnologischer, psychologischer
oder medizinischer Forschung. Alle diese konkreten Motive wurden jedoch
stets überlagert von den Imaginationen der Literatur, von kollektiven
Phantasien, Ängsten und Wünschen."
NZZ, 21.8.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/fahnen_am_nordpol__vergraben_abgeworfen_versenkt_1.543759.html
Bücher und Rezensionen
Gleich zwei neue Bücher des Kunsthistorikers Nils Büttner über Peter Paul
Rubens hat Konrad Renger in der SZ mit großen Gewinn gelesen. Zum einen
Büttners Habilitation, die den Weg des Künstlers zu Ruhm und Reichtum
entwirft: "'Ruhm entsteht durch Zuschreibung' ist die verblüffende These des
originellen Buches von Nils Büttner, in dem er das 'Bild von Rubens'
ökonomischer und sozialer Existenz' entwirft und sich dafür auf zahlreiche
bisher unbekannte Archivalien sowie neue Interpretationen bekannter
Dokumente stützt, die ein neues Licht auf Peter Paul Rubens' Person werfen."
Und zum anderen eine knappe Monografie, die kaum Wünsche offen lasse: "Auf
nicht einmal 100 gut lesbaren Seiten Text spricht Büttner überschaubar alle
Facetten von Rubens' Persönlichkeit und Kunst an. Bei der oft gestellten
Frage nach 'dem' Rubens-Buch musste man bislang passen - dies wäre wieder
eins."
SZ, 20.8.
Hellauf begeistert zeigt sich Helmut Mayer in der FAZ von einer drei Bände
umfassenden Reihe des Meiner Verlags. Es werden darin in
wissenschaftshistorischer Perspektive jeweils eine der großen
Wissenschaftsdebatten des 19. Jahrhunderts dargestellt, nämlich die
"Darwinismus"-Debatte, die "Materialismus"-Debatte und die sogenannte
"Ignorabimus"-Debatte, in der es um die Frage grundsätzlicher Grenzen
unseres Wissens ging. Mayer resümiert: "Der Rückblick auf diese Debatten,
mit denen unsere naturwissenschaftlich geprägte Moderne begann, ersetzt
keine Argumente. Aber zur Vorsicht kann er mahnen. Denn es könnte ja sein,
dass man über den großen Fronten jene kleinen, aber kontinuierlichen
Verschiebungen vernachlässigt, mit denen die Konturen unseres Menschenbildes
sich im Zeitalter der neuen biowissenschaftlichen Verfügbarkeiten auf viel
unspektakulärere, doch stetige Weise verändern. Um 'den' freien Willen
brauchen wir uns wohl nicht zu sorgen, um seine zukünftigen
Entscheidungsspielräume aber schon."
FAZ, 20.8.
Tagungen und Konferenzen
Intellektuelle Salbung von Katharina Wagner durch die Wissenschaft
In der Welt fasst Alexander Cammann eine die Festspiele begleitende
Konferenz in Bayreuth wie folgt zusammen: "An zwei Tagen diskutierte die
hochkarätig besetzte Runde aus Theater- und Musikwissenschaftlern,
Politologen, Historikern und Literaturwissenschaftlern über das Werk Richard
Wagners im Wandel der Zeiten, vor allem am Beispiel seiner 'Meistersinger'.
Zwar schreckte der sperrige Titel 'Angst vor der Zerstörung. Der Meister
Künste zwischen Archiv und Erneuerung' und die Aussicht auf noch mehr
venengefährdendes Dauersitzen den gewöhnlichen Festspielbesucher ab. Doch er
verpasste weniger die Zerstörung als vielmehr die Erneuerung der Bayreuther
Substanz in anspruchsvollen Debatten - und vor allem die intellektuelle
Salbung der abwesenden Katharina Wagner durch die Wissenschaft."
Welt, 20.8.
http://www.welt.de/welt_print/article1119233/Heil_Dir_Katharina.html
Reference:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (15-21 Aug 07). In: ArtHist.net, Aug 22, 2007 (accessed May 12, 2025), <https://arthist.net/archive/29485>.