WWW Jun 28, 2007

Geisteswissenschaften in dt. Feuilletons. Perlentaucher

Hans Selge

Wissenschaftsjahr 2007

"Die Geisteswissenschaften in den deutschen Feuilletons" ist eine
wöchentliche Presseschau, die der Perlentaucher in Kooperation mit dem
Wissenschaftsjahr 2007 "Die Geisteswissenschaften. ABC der Menscheit"
herausgibt. H-ArtHist veröffentlicht als Medienpartner der Initiative
eine Auswahl der Beiträge für den Bereich der Kunst- und
Kulturwissenschaften.

Im Blickpunkt

Die Lage der Universität in Zeiten der Bologna-Reform

In einer fast schon erstaunlichen Parallelaktion veröffentlichten die FAZ
und die SZ in dieser Woche große, vorwiegend skeptische Berichte zum Stand
der Bildungspolitik - und zwar insbesondere bei den Geisteswissenschaften.
Für mehr als bedenklich hält Jürgen Kaube in der FAZ die jüngsten
Forderungen nach einer größeren Studienquote in Deutschland. Die
Universitäten seien heute schon mit Studierenden überschwemmt, die nicht
wüssten, was sie da eigentlich zu suchen haben. "Das Ergebnis wird sein,
dass man die Zertifikate inflationiert. Der Wissenschaftsrat hat gerade
ausgerechnet, dass es in Deutschland außerhalb des juristischen
Staatsexamens so gut wie keine Abschlussprüfungen gibt, in denen die
Durchschnittsnote schlechter als Zwei ist; die 'Vier' ist als Note praktisch
ausgestorben. Der durchschnittliche Philosoph schließt hierzulande, wie
seine Kommilitonen aus der Geschichte, der Ethnologie und der
Kunstgeschichte, mit 1,7 ab. Die Psychologen sind noch besser, die
Germanisten, Pädagogen und Soziologen nur um eine Zehnteldurchschnittsnote
schlechter. Fast neunzig Prozent aller geisteswissenschaftlichen Absolventen
werden von ihren Professoren mit 'sehr gut' oder 'gut' beurteilt."
In der SZ bilanziert Gustav Seibt die Folgen des Bologna-Prozesses und lässt
es dabei an dramatischen Worten nicht fehlen. Er konstatiert nicht weniger
als den größten bildungsgeschichtlichen Umbruch seit der Humboldt-Reform:
"Das System von Modulen, Leistungspunkten, Studienzeiten, Prüfungen und
praktischen Studienfächern, die Hierarchisierung und Bürokratisierung der
Abläufe, das Zielgerichtete und Arbeitsmarktorientierte der neuen
Studienmuster - all das bricht hier so radikal wie nirgendwo sonst mit den
bisherigen Formen des Studiums. Dies gilt am meisten für die
Geisteswissenschaften, also das, was man noch vor einer Generation als
zweckfreie Bildungsfächer aufgefasst hätte, Philosophie, Philologien, Kunst-
und Literaturwissenschaften, Geschichte."
Interessanterweise äußert sich auch Burkhard Schwenker, Chef der
Unternehmensberatung Roland Berger, im Wirtschaftsteil der Frankfurter
Allgemeinen Sonntagszeitung alles andere als enthusiastisch über den
Bologna-Prozess. Auf die Frage nach den "Grundkompetenzen" in Deutschland
antwortet er: "Zum Beispiel die exzellente Ingenieurausbildung oder auch die
in Natur- und Geisteswissenschaften. Weswegen ich übrigens wenig halte von
der Umstellung der Diplomausbildung auf Bachelor und Master. Denn damit
verzichten wir auf Breite in der Ausbildung, die Grenzüberschreitung in
andere Disziplinen."

FAZ, 22.6.
http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc%7EE55D66DF2CD2449B78D0719BA49E3AC1A%7EATpl%7EEcommon%7EScontent.html
SZ, 21.6.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.6.

Das ABC der Altertumskunde

Im Tagesspiegel weist Claudia Schmölders auf eine Leistungsschau der
deutschen Altertumsforschung hin: "Die am Mittwochabend im Pergamonmuseum
eröffnete Ausstellung über 'Sprache, Schrift und Bild' ebnet 'Wege zu
unserem kulturellen Gedächtnis' - und ist eine Leistungsschau der acht
deutschen Akademien der Wissenschaften. Im Jahr der Geisteswissenschaften,
das im Zeichen der Sprache steht, zeigen die Akademien, womit sich ihre
Altertumsforscher in ihren groß angelegten Langzeitprojekten beschäftigen.
In Zusammenarbeit mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vermitteln sie
auch eine Ahnung von den Reichtümern der Berliner Museen."

Tagesspiegel, 22.6.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Ausstellung-Antike-Geisteswissenschaften-Kultur;art304,2326116

Themen der Woche

Sechzigster Geburtstag des Philosophen Peter Sloterdijk

Der innerhalb wie außerhalb seiner Disziplin nicht unumstrittene Philosoph
Peter Sloterdijk feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Es gratulieren die
konservativen Blätter.
In der FAZ betont Lorenz Jäger Sloterdijks Emanzipation von der Autorität
der Frankfurter Schule: "Man erkennt den Griff dieses Autors: Kein
anthropologischer Befund bleibt ohne aktuellste Ausdeutung, kein
innerpsychisches Ereignis gibt es, das nicht die Würde des Politischen
annehmen könnte. So nahe Sloterdijk Adorno einmal gestanden haben mag -
unausweichlich für seine Generation -, so sehr musste er sich später von der
'Kritischen Theorie' absetzen."
Sloterdijks Kollege und Freund Rüdiger Safranski lobt in der Welt: "Peter
Sloterdijk ist ein großer Anfänger, ausgestattet mit existenziellem
Eigensinn, einem Überschuss an gedanklicher Spielfreude und der glücklichen
Bereitschaft, sich von der Sprache zu Einsichten führen und verführen zu
lassen."

FAZ, 26.6.
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EB628FF274BA84CE8B89BDA692F11EC1A~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Welt, 26.6.
http://www.welt.de/welt_print/article975284/Meister_der_froehlichen_Wissenschaft.html

Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte muss schließen

Der Historiker Hans Medick hat in der FAZ einen Nachruf auf das renommierte
Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte verfasst: "Allein schon
angesichts dieser weltweiten Austauschbeziehungen ist es ein Verlust, dass
sich eine Neuorientierung der Arbeit des Instituts auf Probleme einer
vergleichenden transnationalen Geschichte nicht verwirklichen ließ und das
Max-Planck-Institut für Geschichte als ein 'Laboratorium deutscher
Möglichkeiten' der Geschichtsforschung (Theodor Heuss) in diesen Monaten
seine Arbeit einstellen muss."

FAZ, 20.6.

Porträt des Historikers Niall Ferguson

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ porträtiert Susanne Klingenstein
den produktiven, erfolgreichen und umstrittenen Historiker Niall Ferguson,
der vor allem mit seinen Thesen zur Notwendigkeit von Imperien für Unruhe
sorgt: "Befragt, wie er es schaffe, so viele Bücher zu schreiben, sagt er,
dass er nicht verstehe, dass manche Professoren nur alle zehn Jahre ein Buch
schrieben. Dynamisch, charmant, witzig und immer gesprächsbereit, verwickelt
er sein Gegenüber sogleich in eine Diskussion über die politische Struktur
der Welt. Dass wir Imperien brauchen, um die Welt zu ordnen, und dass
Amerika sich verantwortungslos weigert, die Imperialfunktion des
untergegangenen britischen Weltreichs zu übernehmen, gehört zu den
umstrittenen Thesen Fergusons. Er fand zu dieser Ansicht über das Studium
der Finanzgeschichte Europas."

FAZ, 20.6.

Akademiepreis für Martin Haspelmath

Amory Burchard stellt im Tagesspiegel den diesjährigen Akademiepreisträger
Martin Haspelmath vor, der als Linguist Brücken zwischen den
Wissenschaftskulturen schlägt: "Haspelmath ist der Glücksfall eines
interdisziplinär forschenden Geisteswissenschaftlers: Er arbeitet mit
quantitativen naturwissenschaftlichen Methoden - und wird von
Naturwissenschaftlern ernst genommen. Mit modernster Computertechnik
übertrug Haspelmaths Team Datenbanken zu 2500 Sprachen auf digitale
Kartierungsprogramme. Der 2005 erschienene 'World Atlas of Language
Structures' ist ein Großprojekt zur weltweiten vergleichenden Erforschung
sprachlicher Strukturen und ihrer geografischen Verteilung; Haspelmath
koordinierte die 40 Autoren, verfasste selber sechs Artikel."

Tagesspiegel, 23.6.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Martin-Haspelmath;art304,2326128

Bücher und Rezensionen

In der NZZ zeigt sich Michael Hampe begeistert vom jüngsten Band des
Philosophen Ernst Tugendhat, der sich mit Fragen der Anthropologie und der
Mystik auseinandersetzt: "Tugendhats in diesem Band versammelte und sich
dicht aufeinander beziehende Untersuchungen sind von einer Klarheit und
selbstkritischen Reflektiertheit geprägt, die seine Arbeiten schon immer
ausgezeichnet hat. Doch ist der frühere Ton der Polemik fast ganz
verschwunden und an seine Stelle tiefsinnige Weisheit getreten."
NZZ, 23.6.

Fasziniert hat sich Willibald Sauerländer für die SZ durch einen 1371 Seiten
starken Band mit der Korrespondenz des Kunsthistorikers Erwin Panofsky
gelesen. Er hat dabei eine Wissenschaftskultur kennengelernt, von der man
heute nur noch träumen kann: "Die Briefe atmen die einzigartige Atmosphäre
des Princetoner Instituts, das damals eine Art gelehrter Zauberberg war. Ein
erlesener Kreis vorzüglicher Wissenschaftler, die meisten Flüchtlinge aus
Europa, entwurzelt also, und allen akademischen Tagesgeschäften entrückt,
gab sich hier intellektuellen Spielen von höchster Subtilität hin."
SZ, 23.6.

Konferenzen und Tagungen

Die Zukunft der Überwachung

Aus aktuellem Anlass - nämlich Wolfgang Schäubles Planungen zu einschlägigen
Gesetzesänderungen - wurde ein Römerberggespräch zum Thema "Überwachung"
anberaumt, bei dem auch Technik- und Rechtshistoriker zu Wort kamen. Auch
wenn sie sich nicht durchweg einig waren, so konstatierten sie doch, wie
Martin Otto in der FAZ berichtet, einen erstaunlichen Wandel im öffentlichen
Bewusstsein: "Dem Technikhistoriker Hans-Liudger Dienel zufolge hat die
Akzeptanz der technischen Überwachung bei der jungen Generation in den
letzten Jahren noch zugenommen. Von der Staatsskepsis des
Volkszählungsurteils 1983 sei die mit Handy und E-Mail sozialisierte
Generation weit entfernt, vielmehr setze sie auf den Staat als Moderator."

FAZ, 25.6.2007

Reference:
WWW: Geisteswissenschaften in dt. Feuilletons. Perlentaucher. In: ArtHist.net, Jun 28, 2007 (accessed Dec 22, 2024), <https://arthist.net/archive/29412>.

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