WWW May 5, 2007

Perlentaucher-Presseschau (25-30 Apr 07)

Christof Biggeleben

Jahr der Geisteswissenschaften 2007

Aus den Feuilletons vom 25.-30.4.2007. Für einige Aufregung sorgte in der
letzten Woche das vom Komparatisten Hans-Ulrich Gumbrecht ausgelöste Gerücht
um den Einstieg der Universität Stanford beim Suhrkamp Verlag. Als
Vermittler zwischen den zwei Wissenschaftskulturen wurde der im Alter von 94
Jahren verstorbene Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker
gewürdigt.

Im Blickpunkt

Posse um Stanford und Suhrkamp

Für einige Aufregung in den Feuilletons - und wohl auch in der Verlagswelt -
sorgte die Meldung der FAZ, dass die Universität Stanford über eine
Beteiligung am Suhrkamp-Verlag nachdenke. Der Informant war offenkundig
Hans-Ulrich Gumbrecht, Komparatist in Stanford. FAZ-Literaturchef Hubert
Spiegel zeigt sich sogleich begeistert: "Für die deutsche Verlagslandschaft
wäre der Einstieg der amerikanischen Elite-Universität bei Suhrkamp ein
Novum, für Suhrkamp wäre es endlich ein Befreiungsschlag." Noch am selben
Tag hatte die SZ aber schon das Dementi. In der Druckausgabe vom Montag
zitiert sie den an diesem "Coup" vermeintlich beteiligten Steve Hinton,
Dekan der School of Humanities: "Er vermutet, dass es zuging wie bei der
'Stillen Post': 'Jeder, der die Nachricht weitergibt, verschönert sie ein
bisschen, bis sie am Ende fast nichts mehr mit der Realität zu tun hat.'" In
Wahrheit, so die SZ, geht es nur um keineswegs ausgereifte Pläne zur
Veröffentlichung einer Reihe mit Stanford-Publikationen bei Suhrkamp.
Auch das aber hält Uwe Wittstock in der Welt für keine besonders gute Idee:
"Ein Verlag, der seinen Lesern die wichtigsten neuen und zukunftsträchtigen
Forschungsergebnisse anbieten will, kann sich nicht nur auf
Veröffentlichungen einer einzelnen Forschungsinstitution konzentrieren. Er
muss die ganze Wissenschaftslandschaft unbeeinflusst von den nicht selten
sehr eitlen Publikationswünschen einzelner Professoren und Hochschulen
prüfen können."
Nüchtern vermeldet auch die NZZ, dass die Spekulation um den Einstieg keinen
wahren Kern enthält.
Die FAZ freilich beharrt, weiter gestützt auf ihren Gewährsmann, den in
Stanford lehrenden Komparatisten Hans-Ulrich Gumbrecht, darauf, dass es sehr
wohl Überlegungen der gemeldeten Art gebe. Gumbrecht selbst sieht sich von
der SZ falsch zitiert und insistiert: "Natürlich drehten sich die
Gedankenspiele um eine finanzielle Beteiligung, über die übrigens auch gar
nicht Hinton und die School for Humanities and Sciences entscheiden würden."
FAZ, 28.4.2007
http://www.faz.net/s/RubF7538E273FAA4006925CC36BB8AFE338/Doc~E2E4BD608F9CC4D
90B585FE24B0A5079A~ATpl~Ecommon~Scontent.html
SZ, 30.4.2007
http://www.sueddeutsche.de/,tt2m2/kultur/artikel/1/111889/
NZZ, 30.4.2007
http://www.nzz.ch/2007/04/30/fe/articleF54WO.html
Welt, 30.4.2007
FAZ, 30.4.2007
http://www.faz.net/p/Rub013457531D514A289550C982F21BCDBF/Dx1~E254A0EC2409057
B1F5177919680738B1~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Zum Tod des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker

Im Alter von 94 Jahren ist Carl Friedrich von Weizsäcker gestorben, der als
Physiker wichtige Beiträge zur Entwicklung der Atombombe leistete - und
später zum Philosophen wurde. Die Nachrufe würdigen von Weizsäcker als
Denker, der die sonst so streng getrennten Welten und Kulturen der Natur-
und der Geisteswissenschaft in einer Person und einem Werk zusammenbrachte.
In der FR beschreibt Arno Widmann seinen Werdegang: "Von Weizsäcker gab die
Wissenschaft auf. Er wurde Philosoph. Er studierte die frühe griechische
Philosophie, in der Welt- und Menschenkunde noch eins waren. Er suchte nach
den Anfängen des abendländischen Irrweges wie so viele es damals taten. Aber
er tat es nicht in dem Glauben an ein Zurück. Er tat es, weil er sehnsüchtig
nach der Einheit suchte. Nach dem Grund, aus dem er herausgefallen war."
Sein ehemaliger Assistent, der Physiker Thomas Görnitz, fasst die Leistung
des "Jahrhundertmanns" von Weizsäcker in der FAZ so zusammen: "Ein Philosoph
unter Physikern, ein Physiker unter Philosophen - Carl Friedrich von
Weizsäcker war die Wissenschaft ebenso vertraut wie die Politik, die Kunst,
die Metaphysik, die christliche Heilslehre und die fernöstlichen
Lebensweisheiten."
In der NZZ weist Michael Hampe auf eine bedeutende Gründung des
Wissenschaftspolitikers von Weizsäcker hin: "Dass die Folgelasten der
modernen Wissenschaft enorm sind, es jedoch unmöglich ist, der Forschung aus
Furcht vor gefährlichen Konsequenzen präventiv Erkenntnisgrenzen zu setzen,
war Weizsäcker wie wenigen anderen bewusst. Die Frage, wie mit dem Problem
umzugehen sei, dass Erkenntnisfortschritt nicht notwendigerweise von
moralischer Reife und politischer Klugheit begleitet wird, bewog Weizsäcker
zur Gründung des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen
der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, das er zusammen mit
Jürgen Habermas von 1970 bis 1980 leitete."
Klaus Podak hält es in der SZ nach einer ausführlichen Darstellung des
Lebenslaufs des Physikers und Philosophen für gerechtfertigt, "Carl
Friedrich von Weizsäcker als einen der großen, aber als einen der durch
Wissenschaft aufgeklärten Mystiker der europäischen Geistesgeschichte zu
bezeichnen."
FR, 30.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1125609
FAZ, 30.4.2007
http://www.faz.net/p/Rub013457531D514A289550C982F21BCDBF/Dx1~EED85D583D9D446
1A1599BE6D5E846D1C~ATpl~Ecommon~Scontent.html
NZZ, 30.4.2007
http://www.nzz.ch/2007/04/30/fe/article8S8FK.html
SZ, 30.4.2007

Themen der Woche

Karl-Heinz Bohrers Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises

In der SZ findet sich die Dankesrede des Literaturwissenschaftlers
Karl-Heinz Bohrer zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises abgedruckt. Er
spricht darin über Heinrich Manns Renaissance-Roman über "Henri IV" - und
sieht Mann in einer Reihe mit den von der Renaissance faszinierten Autoren
und Denkern Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche. In seinem
Geschichtsroman habe er bewusst eine Gegenwelt zu den vorangehenden,
satirischen Romanen wie "Der Untertan" entworfen: " Der freie Geist, den
Heinrich Mann seinem Henri IV. zumaß, war ganz Natürlichkeit, Freimütigkeit,
Unbekümmertheit, war Mut in jeder Hinsicht, moralisch und physisch. Er war
das ganz Andere gegenüber der kleinbürgerlichen Existenz, die Heinrich Mann
vorher in Satiren beschrieben hatte und die nicht verschwunden war, wie man
meint, sondern besonders im akademischen Milieu unserer Epoche wieder
auftauchte."
SZ, 30.4.2007

Historiker Arno Borst gestorben

Zwei Nachrufe würdigen den verstorbenen Mittelalter-Historiker Arno Borst.
In der FAZ schreibt Patrick Bahners: "Auch unter den Mediävisten, die
einander an einem hohen Standard handwerklicher Grundlagenarbeit messen, war
Borst nicht erst durch sein Ingenium, sondern schon durch seinen Fleiß eine
Ausnahmeerscheinung."
Mit großen Worten verabschiedet ihn in der SZ Gustav Seibt: "Er war
überragend als Forscher, hinreißend als Schriftsteller. Beides zusammen wird
ihm ein unabsehbares Nachleben sichern, im Fach, aber auch bei gebildeten
Lesern. Was Zeit, was Geschichte ist, im Allgemeinen und im Besonderen,
lernt man bei keinem Historiker unserer Epoche tiefgründiger als bei Arno
Borst."
FAZ, 28.4.2007
SZ, 28.4.2007

Tagung in Bulgarien nach massiven Drohungen abgesagt

Der bulgarische Philosoph Ivaylo Ditchev berichtet in der taz von großem
Wirbel um eine abgesagte Konferenz zur bulgarischen Geschichte. Unter
Federführung des Osteuropa-Instituts der FU-Berlin sollte in Sofia am
Beispiel des Ortes Batak, in dem im 19. Jahrhundert 30.000 Bulgaren von den
Ottomanen ermordet wurden, die Entstehung eines Nationalmythos und damit
einhergehender antiislamischer Tendenzen diskutiert werden. Diese Idee stieß
in Bulgarien auf so heftigen, nationalistisch motivierten Widerstand, dass
die Tagung abgesagt werden musste. "Fernsehen und Zeitung (...),
nationalistische Historiker und hohe Offizielle von staatlicher Seite haben
sich zusammengetan und behauptet, das Projekt verleugne die Opfer. Der
Akademie der Wissenschaften wurde untersagt, die Konferenz zu beherbergen.
Militante Mitglieder der Nationalistischen Partei und Einwohner von Batak
drohten öffentlich, die Besucher der Konferenz zusammenzuschlagen, sollte
sie denn stattfinden."
taz, 30.4.2007
http://www.taz.de/dx/2007/04/30/a0173.1/text

Vilém-Flusser-Archiv in Berlin

Im Tagesspiegel informiert Gregor Dotzauer über die Eröffnung des
Nachlass-Archivs des Medienphilosophen Vilém Flusser, das nun an der
Berliner Universität der Künste öffentlich zugänglich ist. "Zum Bestand
(und Eröffnungsprogramm) gehören auch Videoaufnahmen, die Flusser als den
philosophischen Showman zeigen, der er bei aller Ernsthaftigkeit auch war:
Erst im Gespräch und vor Studenten lief er zu Höchstform auf."

Tagesspiegel, 25.4.2007
http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/25.04.2007/3221960.asp

Die Zukunft der Archive

Aus Anlass einer Konferenz europäischer Archivare spricht der Präsident des
Bundesarchivs Hartmut Weber im Tagesspiegel über die Zukunft digitaler
Speicherung und stellt fest: "Nach dem Buchdruck mit beweglichen Lettern
markiert die Digitalisierung eine technische Revolution, die weitaus
radikaler wirkt als Gutenbergs Erfindung. Die Information hat sich vom
Informationsträger gelöst. Sie kann beliebig vervielfältigt und über das
Internet verbreitet werden. Andererseits sind digitale Informationen
flüchtig, sozusagen brüchiger als das brüchigste saure Papier und anfällig
für Veränderungen, auch Verfälschungen."
In einem Artikel in der Welt zum selben Thema warnt Hendrik Werner, "dass
papierne Bibliotheken eines Tages den Datenbestand für ihre digitalen
Nachfahren sichern müssen, obwohl die Bücher doch zuvor zu verzichtbaren
Scan-Gang-Bauernopfern erklärt wurden. Diese Ironie der
Überlieferungsgeschichte wird Google, der kalifornische Vorreiter der
Digitalisierungsoffensive, noch leidvoll zu spüren bekommen."
Tagesspiegel, 25.4.2007
http://www.welt.de/welt_print/article832557/Archive_ohne_Mauern.html
Welt, 27.4.2007

Die Fackel im Netz

Für die FR hat sich Judith von Sternburg in der vollständigen
Internet-Ausgabe von Karl Kraus' legendärer Zeitschrift "Die Fackel"
umgesehen und stellt fest: "Hier ging Karl Kraus scharf gegen das allgemeine
Barbarentum an, welches sich von der 'Ausmerzung des h aus einem Worte wie
Thau' bis in und durch den Ersten Weltkrieg und schließlich in die NS-Zeit
zog."
FR, 26.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1
122773
"Die Fackel" im Netz: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/

Rezensionen

In der NZZ macht Peter Cornelius Mayer-Tasch nachdrücklich auf die nun
abgeschlossene Übersetzung von "Ordnung und Geschichte", des zehnbändigen
Hauptwerks des Geschichtsphilosophen und Politikwissenschaftlers Eric
Voeglin aufmerksam: "So lapidar sich der Titel dieses Bandes gibt, so
aussagekräftig ist er für das Oeuvre des kulturwissenschaftlichen
Universalgelehrten, den man - wenn auch mit anderer Akzentuierung - getrost
neben Denker vom Range Oswald Spenglers und Arnold Toynbees stellen kann."
NZZ, 28.4.2007
http://www.nzz.ch/2007/04/28/li/articleDODK1.html

Tagungen und Konferenzen

Wikipedia in der Wissenschaft

An der Universität Basel fand eine Tagung zur Online-Enzyklopädie
"Wikipedia" und der Wissenschaft statt. Es überwogen, wie Dominik Landwehr
in der NZZ referiert, die warnenden Worte. So hält die Hamburger
Historikerin Maren Lorenz das Lexikon für nicht zitierbar, "da eine
Informationsseite schon beim nächsten Mausklick verändert sein kann. Ihre
wichtigste Kritik: Es gibt bei Wikipedia keine einheitlichen
Qualitätskriterien. Standards einzuhalten, ist auch aus quantitativen
Gründen bei über 500 neuen Einträgen pro Tag in der deutschen Ausgabe nicht
möglich."
NZZ, 27.4.2007
http://www.nzz.ch/2007/04/27/em/articleF4Q53.html
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Tagung zu Verschwörungstheorien

Im Tagesspiegel berichtet Elke Kimmel von einer interdisziplinären Tagung,
auf der sich Historiker, Psychologen und Vertreter anderer Disziplinen über
die Virulenz von Verschwörungstheorien austauschten: "'Im Zentrum solcher
Verschwörungstheorien steht meist Satan, das Böse schlechthin. Da hat sich
wenig geändert', sagt Wolfgang Wippermann, Professor für Neuere Geschichte
an der Freien Universität Berlin. Der Erzbösewicht verbünde sich, je nach
Jahrhundert und persönlichem Standpunkt, mal mit den Protestanten oder
'Ketzern', mal mit den Katholiken oder 'Papisten; wahlweise auch mit Hexen,
Freimaurern, Illuminaten, Kommunisten oder Kapitalisten."
Tagesspiegel, 27.4.2007
http://www.tagesspiegel.de/wissen-forschen/archiv/27.04.2007/3227482.asp

Mehmet II. als Patron der Künste

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ informiert Christine Tauber über
eine Berliner Tagung zu Sultan Mehmet II.: "Sultan Mehmet II., dem sein
überwältigender militärischer Erfolg bei der Einnahme von Konstantinopel im
Jahre 1453 den klangvollen Beinamen Fatih, 'der Eroberer', bescherte, war
nicht nur ein erfolgreicher Politiker mit Weltherrschaftsansprüchen, er war
auch ein großer Förderer der Künste und Wissenschaften und damit eine
Schlüsselfigur im kulturellen Austausch zwischen Ost und West im fünfzehnten
Jahrhundert."
FAZ, 25.4.2007

Symposion und Filmreihe zum Stummfilmstar Asta Nielsen

Für die FR hat Daniel Kothenschulte ein Frankfurter Symposion zum
Schauspielstar des Stummfilms Asta Nielsen besucht, das eine Filmreihe
eröffnete, und fasst zusammen: "Erst spät entdeckten Forscher wie die
Frankfurter Filmhistorikerin Heide Schlüpmann, mit Karola Gramann jetzt eine
der Initiatorinnen der Filmreihe, wie genau die Filmproduzenten des frühen
Kinos auf die Bedürfnisse des weiblichen Zielpublikums eingingen. Auch in
leidenden Rollen strahlt Asta Nielsen Aktivität, Würde und Selbstbewusstsein
aus."

FR, 27.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1123605

Reference:
WWW: Perlentaucher-Presseschau (25-30 Apr 07). In: ArtHist.net, May 5, 2007 (accessed Jan 30, 2025), <https://arthist.net/archive/29275>.

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