WWW 25.04.2007

Perlentaucher-Presseschau (24 Apr 07)

Christof Biggeleben

Jahr der Geisteswissenschaften 2007

Aus den Feuilletons vom 18.-24.4.

Zum Semesterbeginn kam es an mehreren Akademien und Universitäten zur
Begegnung von Theoretikern und Praktikern der Literatur. Eine große
interdisziplinäre Konferenz an der Universität Stanford beschäftigte sich
mit dem Thema "Konvergenz" und seinen Paradoxien.

In Mainz diskutierten Schriftsteller über Avantgarde und Religion, in
Berlin fordert der Autor Ilija Trojanow als Heiner-Müller-Gastprofessor
seine Kollegen dazu auf, von ihrem "Ich" abzusehen, und in Göttingen ist
ein Promotionskolleg um die Vermittlung seiner Absolventen an den
Literaturbetrieb bemüht: Annäherungen zwischen literarischer Theorie und
Praxis allerorten. In der FAZ berichtet Hans-Ulrich Gumbrecht von einer
Konferenz in Stanford, die sich aus interdisziplinärer Perspektive mit dem
Thema "Konvergenz" befasste – und dabei auf das Phänomen der "paradoxalen
Konvergenz" stieß.

Im Blickpunkt

Schriftsteller an der Uni – Wissenschaftler im Literaturbetrieb

Viel Beachtung in den Feuilletons finden zu Semesterbeginn Vorlesungen und
Diskussionen, bei denen Schrifstellerinnen und Schriftsteller an
Universitäten und Akademien zwischen wissenschaftlicher Theorie und
literarischer Praxis vermittelten. Von zwei Poetikrunden in Mainz
berichtet in der FAZ Richard Kämmerlings. Im Gespräch zwischen den Autoren
Reinhard Jirgl und Karl-Heinz Ott und der Autorin Katharina Hacker wurde
er dabei Zeuge eines "recht verstiegenen, mit philosophiehistorischen
Exkursen gespickten Schlagabtauschs um die fortdauernde Gültigkeit des
avantgardistischen Dogmas". Die zweite Runde befasste sich mit dem Thema
"Religiöse Dichtung im 21. Jahrhundert?".
Auf großes Interesse stieß auch die Antrittsvorlesung für die
Heiner-Müller-Gastprofessur der FU Berlin, die in diesem Semester der
Schriftsteller Ilija Trojanow innehat. Für die Welt berichtet Wieland
Freund: "Trojanow trug auch dazu bei, dass der frisch renovierte, in
hellem Glanz erstrahlende Henry-Ford-Bau der FU einem an diesem
Frühlingsabend ganz besonders historisch vorkam. Von 'Adornos asketisch
weltabgewandtem Kunstideal', von einem 'ich-bezogenen Ästhetizismus'
jedenfalls wollte Trojanow nichts mehr wissen: 'Ich kann mir keinen
langweiligeren Stoff als das eigene Empfinden vorstellen.'"
Für die FAZ hat Andreas Kilb zugehört: "Trojanow, den Gert Mattenklott in
seiner Einführung in eine Reihe mit Malraux, Koestler, Neruda und Erika
Mann stellte, hatte seinem Vortrag nicht ohne Ironie eine echte
Germanisten-Überschrift verpasst: 'Recherche als poetologische Kategorie'.
In Wahrheit sprach sein Auftritt eine Einladung aus, den Hörsaal zu
verlassen und sich auf das weite Feld des Lebendigen hinauszuwagen."
Anders herum laufen soll es im in Göttingen ins Leben gerufenen
Promotionskolleg "Wertung und Kanon", das Literaturwissenschaftler durch
Praktika mit dem literarischen Leben in Kontakt bringen will. Tilmann
Lahme meint in der FAZ: "Wenn dieses Kolleg nicht als schräges,
folgenloses Experiment endet, sondern mit einer Hinwendung zur Praxis in
den Geisteswissenschaften Schule – Hochschule – machte, wäre einiges
gewonnen."

FAZ, 21.4.2007 (Mainzer Poetikrunde)
Welt, 22.4.2007
http://www.welt.de/welt_print/article824915/Raus_in_die_Welt_Ilija_Trojanow_an_der_FU_Berlin.html
FAZ, 23.4.2007 (Trojanow)
FAZ, 24.4.2007 (Promotionskolleg)
Website des Promotionskollegs "Wertung und Kanon":
http://www.uni-goettingen.de/de/sh/41347.html

Themen der Woche

200 Jahre Phänomenologie des Geistes

In einer sehr umfangreichen Würdigung zum 200. Jahrestag ihres Erscheinens
erinnert der Philosoph Volker Gerhardt in der Welt an Georg Wilhelm
Friedrich Hegels "Phänomenologie des Geistes", die er als Begründung der
Lebenswissenschaften der Moderne begreift: "Nur das Leben bringt
'Gestalten' hervor; nur das Lebendige kann aus der Zerstörung seiner
eigenen Organisationen, neue erzeugen. Also muss auch das Leben als die
bewegende Kraft der Geschichte angesehen werden, der Aufklärung und
Wissenschaft, Religion und Kunst und natürlich auch die Geschichte der
Freiheit zugehören. Das ist Hegels grundlegende Einsicht. Mit ihr stellt
er das Denken noch entschiedener als Kant unter den Anspruch der modernen
Welt."
Welt, 21.4.2007
http://www.welt.de/welt_print/article824987/Geist_der_Freiheit.html

Kritik an geisteswissenschaftlichen Max-Planck-Instituten

Eigentlich geht es in Jürgen Kaubes Artikel in der FAZ zunächst nur um die
sich verzögernde Neubesetzung der Direktorenstelle am Frankfurter
Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte. Die Kritik weitet sich aber
unversehens ins Grundsätzliche. Zwar gebe es einzelne, hervorragend
funktionierende Institute - "und doch ist die Frage nicht von der Hand zu
weisen, ob die Max-Planck-Gesellschaft wirklich genau weiß, was sie mit
den Geisteswissenschaften will. Und ob nicht der Mangel an Klarheit wie
Phantasie bei ihrer Beantwortung mit dazu führt, dass sie so lange
braucht, um sich im Einzelfall zu entscheiden."
FAZ, 18.4.2007

Historiker diskutieren deutsch-polnischen Dialog

Im brandenburgischen Schloss Neuhardenberg diskutierten deutsche und
polnische Intellektuelle unter dem Titel "Passion Europa" über das
Verhältnis Deutschlands und Polens und beider Nationen zu Europa. Für den
Deutschlandfunk dokumentiert Martin Sander die Begegnung, an der unter
anderem der Zeithistoriker Arnulf Baring und der Historiker Krysztof
Pomian teilnahmen.
Deutschlandfunk, 22.4.2007
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/617769/

Mangelnde Qualitätssicherung bei Nachrichtenmedien

Zwei kommunikationswissenschaftliche Studien zum Qualitätsmanagement in
Nachrichtenmedien stellt Stephan Russ-Mohl in der NZZ vor – sie kommen
nicht unbedingt zu beruhigenden Ergebnissen: "Nur in 5 Prozent der
Redaktionen bemüht man sich um ein ganzheitliches Qualitätsmanagement
(Total Quality Management, TQM), in 95 Prozent aller Redaktionen ist
'jeder in seinem Bereich für Qualität zuständig'."
NZZ, 20.4.2007

Tod des Historikers René Remond

In der FAZ schreibt Jürg Altwegg einen Nachruf auf den Historiker René
Remond: "Er war schon praktizierender Katholik, als das Gegenteil Mode
war, blieb im Ton stets moderat und den Argumenten der Vernunft
verpflichtet. Als Professor hat er zwei Generationen von Politologen und
Journalisten geprägt. Sein Einfluss war so groß, dass er mit dem weiten
geographischen Begriff einer 'Rémondie' zusammengefasst wurde."
FAZ, 21.4.2007

Kritiken und Rezensionen

Mit leichter Verspätung – dafür aber gleich doppelt und umso kritischer -
setzt sich die taz mit Joseph Ratzingers "Jesus von Nazareth"-Buch
auseinander. Bert Rebhandl vermisst an dem Buch jeden Versuch, sich auf
eine andere Logik und Sichtweise, als die der christlichen Exegese
einzulassen: "Hier geht es nicht um eine Rede über das Christentum an die
Gebildeten unter dessen Verächtern, sondern um privilegierte Teilnahme an
der geistlichen Schriftlesung eines Mannes, der im Inneren des Vatikans
über den großen Geheimnissen brütet: der Ratzinger-Code."
Robert Misik hält den Übergang von theologischen zu
gesellschaftskritischen Argumenten für nicht besonders überzeugend: "Im
Grunde fragt man sich, ob dieses Buch nicht ein einziges Dementi der
behaupteten Sinn-Ressource Religion ist. Die Papstposition erweist sich
jedenfalls nicht als besonders sinnstiftend. Eher frappiert die Diskrepanz
zwischen der exegetischen Intellektualität von Ratzingers Bibellektüre und
seiner appellativen Kapitalismuskritik."
taz, 19.4.2007 (Rebhandl)
http://www.taz.de/dx/2007/04/19/a0263.1/text
taz, 23.4.2007 (Misik)
http://www.taz.de/dx/2007/04/23/a0179.1/

Eine ganze Reihe von Neuerscheinungen zur von Hirnforschern ausgelösten
Debatte um Willensfreiheit und Determinismus stellt in der FAZ Helmut
Meyer vor. Zunächst hält er aber noch einmal fest: "Zuletzt war die
altehrwürdige Determinismusthese von einigen Hirnforschern
neurowissenschaftlich formuliert worden. Viel Aufwand brauchte es dazu
nicht, oft nur das Missverständnis, dass man dem 'Geist' der
philosophischen Tradition seine metaphysischen Mucken ausgetrieben habe,
wenn man ihn gut materialistisch mit dem Gehirn identifiziert. Dann schien
es manchen nur noch ein kleiner Schritt zur Widerlegung der
Willensfreiheit im Laborversuch. Dass von einer solchen empirischen
Widerlegung keine Rede sein könne, dürfte eines der klarsten Ergebnisse
der jüngsten Debatten sein."
Im Deutschlandradio bespricht Susanne Mack Michael Pauens Buch zum selben
Thema - Titel "Was ist der Mensch" – und resümiert: "Hier schärft ein
Philosoph seine Begriffe an den Herausforderungen der modernen
Hirnforschung. Die gute Nachricht für die bürgerliche Ethik: Kants Begriff
der Freiheit ist nicht in Gefahr."
FAZ, 23.4.2007
Deutschlandradio Kultur, 19.4.2007
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/616444/

In der FR bespricht Rudolf Walther Ernst Klees "Kulturlexikon zum Dritten
Reich". Zwar versteht er nicht, warum der Autor auch Sportler oder
Generäle aufgenommen hat, lobt aber: "Es ist ein Verdienst von Klees
Lexikon, dass es sich bei der Bewertung solcher Lebensläufe nicht hinter
vermeintlich wissenschaftlicher Objektivität und Neutralität versteckt,
sondern mit pointierten Zitaten und scharfen Charakterisierungen
('Frontdichter') seine Position deutlich macht."
FR, 18.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1116979

Trotz leiser Kritik sehr angetan zeigt sich in der NZZ Caroline Schnyder
von Lyndal Ropers Studie "Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung":
"Eindrucksvoll ist auch die imaginäre Welt der Kunst und Literatur, die
die Autorin durchstreift, von Hans Baldung Griens Hexendarstellungen - im
Buch zusammen mit vielen anderen abgedruckt - über Goethes 'Faust' bis zu
den Aufzeichnungen von 'Hänsel und Gretel' der Brüder Grimm. Auf diesem
reichen Materialteppich entfaltet die Darstellung eine große, manchmal zu
suggestive Kraft."
NZZ, 18.4.2007
http://www.nzz.ch/2007/04/18/fe/articleF1QJJ.html

So verblüffend wie überzeugend findet Martin Krumbholz in der NZZ Wolfgang
Matz' Essay "1857", der Gustave Flaubert, Adalbert Stifter und Charles
Baudelaire als alles andere denn zufällige Zeitgenossen nebeneinander
stellt – Krumbholz resümiert: Matz "hält sich nicht mit der heroischen
Askese einer werkimmanenten Auslegung auf, sondern stürzt sich hinein in
die raren Freuden und zahlreichen Aporien jener Lebensläufe, deren
jeweiliger ästhetischer Ertrag in den zur Debatte stehenden Meisterwerken
kulminiert."
NZZ, 24.4.2007
http://www.nzz.ch/2007/04/24/fe/articleF2PT9.html

Konferenzen und Tagungen

Das Phänomen paradoxaler Konvergenz

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ fasst der in Stanford lehrende
Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht eine Tagung zusammen, die
in Stanford stattfand und sich in interdisziplinärer Perspektive dem Thema
"Konvergenz" widmete. Als hoch interessant erwies sich dabei das Phänomen
"paradoxaler Konvergenz": "Paradox ist sie, weil sie inkompatible
Phänomene oder inkompatible Wahrnehmungen gleichzeitig zur Erscheinung
bringt. Dabei treten Kräfte auf, welche der primären Dynamik ihrer
Bewegung entgegenwirken, und zwar umso intensiver, je mehr sich diese
Phänomene dem Punkt ihrer potentiellen Begegnung nähern." Solche
Gegenwirkungen lassen sich, wie Gumbrecht berichtet, sowohl im
Nebeneinander von "Staatstotalitarismus" und "Kapitalismus" in China wie
im Fundamentalismus beobachten: "Die heute am deutlichsten sichtbare
Situation paradoxaler Konvergenz ergibt sich aus dem religiösen
Fundamentalismus im Nahen Osten. In ihrem Glauben an die Aufklärung war
die westliche Kultur bis vor kurzem davon überzeugt, dass die Spannung
zwischen Juden und Muslimen bald in wechselseitiges Wohlwollen übergehen
würde. Nicht nur ist diese Hoffnung heute längst geschwunden, selbst
innerhalb des Christentums breitet sich ein Neu-Fundamentalismus aus,
dessen Wirkungen durch unflexible Reaktionen mancher der liberalen
Beobachter nur noch verstärkt werden."
FAZ, 18.4.2007

Thomas Mann und die Politik

In der FAZ fasst Edo Reents eine Tutzinger Tagung zum Thema "Thomas Mann,
die Deutschen und die Politik" zusammen – und erlebte die Rehabilitierung
des Autors als "Vordenker der Nation": "Thomas Mann tritt, nach dem
Wegfall der ideologischen Lager und mit vertrauter Verzögerung in eine
neue Phase seines Wirkens ein. Politisch dürfen wir ihn nun nicht mehr für
unzurechnungsfähig oder minderbemittelt erklären, noch auch mit
nachträglichen Ansprüchen überfrachten."
FAZ, 24.4.2007

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Quellennachweis:
WWW: Perlentaucher-Presseschau (24 Apr 07). In: ArtHist.net, 25.04.2007. Letzter Zugriff 27.04.2024. <https://arthist.net/archive/29246>.

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