Forum:
Schrumpfung – Niedergang oder Neuschöpfung des Städtischen?
Plädoyer für eine Erweiterung des Stadtbegriffs
Von Anne Pfeifer, Institut für Städtebau, ETH Zürich
E-Mail: <Pfeifernsl.ethz.ch>
"Häuser zu Steinmehl"[1], eine Millionen leer stehender Wohnungen, die
perforierte Stadt, rückläufige Einwohnerzahlen, Abriss, "Luxus der
Leere"[2], "Die schwindende Stadt"[3], Entschleunigung, Zwischennutzung,
Stadtumbau, die temporäre Stadt – die nicht nur in Ostdeutschland zu
beobachtenden Stadtentwicklungsprozesse scheinen alle bisherigen
Grundüberzeugungen von Stadttheoretikern und -planern auf den Kopf zu
stellen. Es wird nicht auf-, sondern zurückgebaut; Brachen entstehen
nicht durch Stilllegung von Industriearealen, sondern durch Abriss; es
wird nicht der zehntausendste neue Einwohner begrüßt, sondern das
Dableiben des Neuntausendsten umworben.
Schrumpfung ist in kürzester Zeit zum selbstverständlichen Thema in der
wissenschaftlichen Diskussion über Fragen der Stadtentwicklung
geworden.[4] Dabei umfasst Schrumpfung "die folgenden, in gegenseitiger
Wechselbeziehung zueinander stehenden Merkmale: Einwohnerrückgang,
krisenhafte sozioökonomische Entwicklungen sowie damit verbundene
baulich-räumliche Folgen wie z.B. baulicher Leerstand und Verfall. Die
Probleme des Einwohnerrückgangs sind dabei vor allem geprägt durch die
interregionale Ab- und die selektiven intraregionalen Stadt- und
Stadt-Umland-Wanderungen. Die Probleme der krisenhaften ökonomischen
Entwicklung sind vornehmlich charakterisiert durch selektive
Wohlstandsentwicklungen mit baulich-räumlichem Niederschlag und/oder
Entwicklungen der lokalen bzw. regionalen Wirtschaft, die sich aufgrund
von Deindustrialisierungs- oder Rationalisierungsprozessen in
Arbeitsmarktstrukturen krisenhaft ausprägen." [5] Das Tempo und die
Intensität der Schrumpfungsprozesse und ihrer Folgewirkungen verlangen
in Ostdeutschland ein schnelles Handeln von Planung und Politik. Das
Machbare und nicht das Wünschenswerte bestimmt den
stadtentwicklungspolitischen Alltag. Aus mehreren Gründen bedarf es
dringend einer Positionierung seitens der Stadttheorie.
Was bedeuten die Schrumpfungsprozesse für das disziplinäre Verständnis
von Stadt?
Es fehlt bisher an einer kritischen Auseinandersetzung innerhalb der
Stadt- und Planungstheorie über die eigenen Wertvorstellungen. Da es
bisher keine Theorie der Schrumpfung gibt, wirken die tradierten
planungs- und stadttheoretischen Denkmuster normativ auf die
Schrumpfungsprozesse, sodass diese nur als Krise und Niedergang des
Städtischen gedeutet werden können.[6] So basieren bestehende
Stadtkonzepte auf Wachstumsannahmen. Beispielsweise verbinden
verschiedene Stadtmodelle Bevölkerungszahl, Siedlungsdichte und
Heterogenitätsgrad einer Bevölkerung mit dem Begriff des Städtischen [7]
– also mit genau jenen Merkmalen, die bei Schrumpfung abnehmen. Eine
stadttheoretische Reflexion darüber, welche Konzepte einen
vorurteilsfreien Blick auf die Schrumpfungsprozesse verhindern und
welche konstruktiv für eine Theorie der Schrumpfung genutzt werden
können, steht noch aus. Weiterhin dominiert in Theorie und Praxis die
Vorstellung von Stadt als gebautem Objekt. Diese einseitige Fokussierung
auf den baulichen Aspekt ist jedoch deshalb fatal, weil innerhalb der
Schrumpfungsprozesse in einem überaus plakativen Prozess ein
wesentlicher Wert des Städtischen umgekehrt wird: das Gebaute ist nicht
mehr Ausdruck der Repräsentation, das Gebaute wird als Leerstand
symbolträchtig zum Ausdruck von Schrumpfung.
Was kann Stadt jenseits von Wachstum und Gebautem bedeuten?
Es fehlt den derzeitigen planungspolitischen Maßnahmen eine
sinnstiftende und motivierende Zukunftsperspektive von Stadt, auf die
alles Handeln ausgerichtet werden kann. Es fehlt in der Stadttheorie an
Konzepten, die die in Wachstumszeiten entwickelten Stadtbegriffe
revidieren oder um andere Qualitäten erweitern. Die Schrumpfungsprozesse
erfordern die Entwicklung neuer Begrifflichkeiten, Merkmale und
Wertvorstellungen. Welche Merkmale und Qualitäten sollen das Städtische
einer schrumpfenden Stadt kennzeichnen? Welche Werte sollen mit ihr
verbunden werden können? Wie kann eine Stadttheorie der Schrumpfung
aussehen? Und inwiefern kann diese Theorie das allgemeine Verständnis
von Stadt bereichern?
Tradierte Denkmuster – Niedergang des Städtischen
Das Wachstumsdenken und das Verständnis von Stadt als gebautem Objekt
stellen zwei Denkmuster dar, die normativ auf die Schrumpfungsprozesse
wirken, sodass diese nur als Verfallserscheinung und als ein Verlust
gegenüber dem tradierten Stadtverständnis wahrgenommen werden können.
Durch das Fehlen eines veränderten Stadtbegriffs, der Bezug auf die
Schrumpfungsprozesse nimmt, können nur die bisherigen Vorstellungen als
Maßstab herangezogen werden. In diesem Sinne lassen sich
Einwohnerverluste und ein damit verbundener Rückgang der
Einwohnerdichte, Überalterung oder durch Abrisse bedingte räumliche
Entdichtung nur als Verlust und Krise deuten.
Aus Schrumpfung einen Niedergang des Städtischen zu schlussfolgern ist
jedoch einseitig. Bisher lässt sich nur festhalten, dass ein
quantitatives Verständnis und eine auf baulicher Kompaktheit beruhende
Stadtvorstellung zu hinterfragen sind. Es gilt, die normative
Verknüpfung von Stadtentwicklung und Wachstum sowie die Dominanz der mit
einem objekthaften Stadtverständnis implizierten Normen aufzuheben und
nach Ansätzen für ein verändertes Verständnis des Städtischen zu suchen.
Wachstum = Fortschritt
Das Wachstumsparadigma hat innerhalb der Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften seit den 1959er Jahren zu einem Denken geführt, das
die Nachkriegsprosperität als normale Phase eines kontinuierlichen
Entwicklungsprozesses begreift. Über einen längeren Zeitraum betrachtet,
handelt es sich jedoch um eine historisch einmalige Situation. Der
Wirtschaftssoziologe Burkhart Lutz hat dies bereits 1984 nachgewiesen
und prägnant mit "Der kurze Traum immerwährender Prosperität"
betitelt.[8] Dennoch dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung eine
Mentalität, für die Fortschritt und Wohlstand mit Wachstum
gleichbedeutend sind. Innerhalb dieser Grundhaltung wurde und wird auch
Stadtentwicklung mit Wachstum normativ gleichgesetzt, und Stadtplanung
versteht sich als eine Disziplin, die dieses Wachstum steuert und
gestaltet.
Ein anschauliches Beispiel für die quantitative Ausrichtung der
Stadtplanung und ihre Mühen diesbezüglich umzudenken, hat Benedikt Huber
bereits vor 30 Jahren gegeben.[9] Anhand der Richtwerte für die
Wohnfläche pro Einwohner bemerkte er, dass 35 Quadratmeter den Bewohner
nicht zwangsläufig glücklicher machen als zehn Quadratmeter Wohnfläche
weniger, solange die Qualität beider Flächen nicht berücksichtigt wird.
Verfolgt man derzeit die planungspolitischen Verlautbarungen im Zuge des
für die ostdeutsche Stadtentwicklung maßgeblichen Förderprogramms
"Stadtumbau Ost", bekommt man manchmal den Eindruck, dass es auch heute
nur um die Erreichung von quantitativen Richtwerten geht: Nach drei
Jahren "Stadtumbau Ost" gibt es 100.000 Wohnungen weniger, verkündete
der damalige Bundesbauminister Manfred Stolpe in einer
Regierungserklärung vom 28.12.2004. Und das Planziel für die nächsten
vier Jahre sollen weitere 360.000 Wohnungen sein. Also doch wieder
Wachstum – wenn auch nur das der Abrisszahlen?
Stadt = gebautes Objekt
Das Verständnis, zweckgerichtet eine gegenständliche, vom Menschen
relativ unabhängige, am Gebrauch orientierte Umwelt herstellen zu
wollen, dominiert innerhalb der Disziplinen Stadtplanung und Städtebau.
Diese Verdinglichung von Stadt resultiert aus einem materiellen,
gegenständlichen Raumbegriff der Stadtforschung. "Raum wird verstanden
als Territorium, welches bestimmt wird durch Größe und Dichte. […] Mit
dem Begriff Raum wird ein begrenztes Gebiet bezeichnet, in dem etwas
stattfindet (wie in einem Behälter), das folglich dem Handeln gegenüber
gestellt wird."[10]
Die objekthafte Vorstellung von Stadt kulminiert in der physischen
Gestalt der Europäischen Stadt. Walter Siebel definiert diese mit den
Merkmalen Stadt-Land-Gegensatz, Zentralität, Größe, Dichte und
Mischung.[11] Nun ist die Auflösung der Gestalt der Europäischen Stadt
ein Phänomen, das nicht erst seit dem Auftreten von Schrumpfung
existiert. Die mit diesem spezifischen Stadtverständnis verbundenen
Wertvorstellungen erweisen sich dennoch als sehr wirkmächtig. Für den
Umgang mit Schrumpfung lässt sich derzeit resümieren, dass bauliche
Aspekte die öffentliche und stadttheoretische Wahrnehmung und die
planungspraktischen Handlungsweisen dominieren.
In Reaktion auf die Auswirkungen der Schrumpfungsprozesse ist durch Bund
und Länder das Förderprogramm "Stadtumbau Ost" mit einem Volumen von 2,5
Milliarden Euro und einer Laufzeit von 2002 bis 2009 initiiert worden.
Es ist ein vorwiegend wohnungswirtschaftlich und städtebaulich
orientiertes Handlungsinstrumentarium, das vor allem zum Ziel hat, "den
städtebaulichen Funktionsverlusten der Städte umfassend zu
begegnen."[12] Durch die Dominanz der wohnungswirtschaftlichen und
städtebaulichen Aspekte wird in der Öffentlichkeit Schrumpfung oft
synonym mit Gebäudeleerstand und Stadtumbau synonym mit Gebäudeabriss
wahrgenommen. Die Problemlage ist jedoch weit komplexer und lässt sich
keineswegs auf diese beiden Aspekte beschränken.
In Zusammenhang mit den Schrumpfungsprozessen ist das Leitbild der
"Perforierten Stadt" entwickelt worden.[13] Dabei geht es darum,
Stadtstrukturen in erhaltbare Kerne und entdichtetes "Plasma" zu
unterteilen. Während die "urbanen Kerne" das Grundgerüst der
Europäischen Stadt in Funktion und Gestalt sichern sollen, umfasse das
Plasma Räume, in denen langfristig Nutzungen und Bebauungen zugunsten
von Begrünung aufgegeben würden. Das Bild der kompakten Stadt
verfolgend, wird idealtypisch der Rückbau vom Rand her favorisiert. Mit
Perforation ist nicht gemeint, dass zum Beispiel soziale Netzwerke der
Bewohner aufgrund von Wegzug und Abriss zerstört werden.
Die Verhaftung in tradierten Denkstrukturen wird auch auf theoretischer
Ebene deutlich. Alle bisherigen Definitionen von Schrumpfung
thematisieren die Wechselwirkungen demografischer und sozioökonomischer
Merkmale und ihre baulich-räumlichen Folgen. Aber die Auswirkungen auf
die städtische Öffentlichkeit [14], auf Identifikationsprozesse, auf die
Kommunikations- und Interaktionsdichte einer Stadt, auf die Intensität
an visuellen, haptischen oder auditiven Eindrücken sind bisher nicht
Bestandteil einer Schrumpfungsdefinition.
Die Dominanz der bau- und wohnungswirtschaftlichen Perspektive im Umgang
mit den Schrumpfungsprozessen birgt nicht nur die Gefahr der
Vernachlässigung anderer Aspekte und Interessensgruppen, sondern sie
suggeriert auch der Öffentlichkeit, dass das Problem lediglich bei dem
Gebauten einer Stadt zu suchen ist, und durch die Bereinigung des
Wohnungsmarktes Schrumpfung bereits bewältigt werden kann. Schrumpfung
ist jedoch keineswegs nur ein quantitativer Vorgang, auch wenn Zahlen
wie eine Million leer stehender Wohnungen oder ein Verlust von einem
Drittel der Einwohner in einer Stadt eindrucksvoll sind. Die eigentliche
Herausforderung für Theorie und Praxis liegt im Qualitativen: bei der
"Schrumpfung in den Köpfen" [15], bei dem Rückzug in die Privatsphäre,
den Segregationstendenzen, dem zivilgesellschaftlichen Engagement, dem
Sinn- und Identitätsverlust für die Bewohner.
Für eine Erweiterung des Stadtbegriffs
Die Schrumpfungsprozesse offenbaren den Bedarf einer stadttheoretischen
Reflexion. Doch nicht der Niedergang des Städtischen ist zu
konstatieren, sondern es gilt, sich von den tradierten Denkmustern zu
verabschieden und nach einer Neukonstitution des Städtischen zu suchen.
Was kann Stadt jenseits quantitativer Merkmale und jenseits der
physischen Gegebenheiten bedeuten? Dabei geht es nicht darum, die
Qualitäten baulich-räumlicher Aspekte zur Disposition zu stellen,
sondern den Stadtbegriff zu erweitern. Wenn das Gebaute angesichts von
Leerstand und Abriss keine Identifikationsmöglichkeiten mehr bietet, ist
das Städtische bzw. die Werte, die mit dem Städtischen verbunden werden
können, in anderen Bereichen zu eruieren. Werte, verstanden als
"emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte"[16],
sind in diesem argumentierten Sinn notwendige Voraussetzung, um ein
positives Zukunftsbild von Stadt jenseits von Wachstum und ergänzend zum
Gebauten entwickeln zu können.
Denkanstöße für eine Befreiung aus der normativen Logik von Wachstum und
Gebautem und für eine Weiterentwicklung des Stadtbegriffs könnten dabei
handlungsorientierte Konzepte geben. Die physischen Strukturen können
allein nicht zur Entwicklung eines positiven Verständnisses von Stadt
beitragen, sie sind sogar selbst Ursache für die Identifikation einer
Krise. Insofern ist zu fragen, wo bei der Erweiterung des
Stadtverständnisses anzusetzen ist, wenn nicht beim Gebauten. Das
Potenzial, dass eine schrumpfende Stadt bei allem Leerstand immer hat,
sind ihre Bewohner und deren Wünsche, kreatives Potenzial etc. Im
Kontext abnehmender Steuerungsfähigkeit von Staat und Kommunen wird
Stadtentwicklung zukünftig verstärkt durch ein Mitwirken der Bewohner
gestaltet werden müssen. Die transdisziplinäre Einbeziehung der Bewohner
bewirkt jedoch ein pluralistisches Vorgehen, dass in seinem Ausgang
nicht immer absehbar ist.
Bei der Erweiterung des Stadtbegriffs kann die Stadttheorie an aktuellen
Forschungsansätzen anderer Disziplinen partizipieren, wo
handlungstheoretische Überlegungen an Bedeutung gewonnen haben. So
entwickelte die Soziologin Martina Löw einen Raumbegriff, nach dem Raum
einerseits im Handeln entsteht und andererseits räumliche Strukturen das
Handeln beeinflussen.[17] Jürgen Hasse hat aus Sicht der Stadtgeografie
in zahlreichen Beiträgen aufgezeigt, dass eine Einbeziehung menschlicher
Gefühle zu einer Gegenstandsdifferenzierung führen würde. "Stadt wäre in
diesem Sinne auch (neben anderen Formen ihrer Präsenz) als ein im
Erleben sich konstituierender Raum zu begreifen".[18] Doch die
Stadtforschung kann bei der Suche nach einem erweiterten Stadtbegriff
durchaus auch an eigene, historische Ansätze anknüpfen. Eduard Führ hat
darauf hingewiesen, dass sich für die 1960er Jahre einige Konzepte
finden lassen, die angesichts rationaler Planungseuphorie und
wachstumsbedingter, funktionalistischer Siedlungsvorhaben nach einem
alternativen Stadtverständnis suchten bzw. in der "Kulturalisierung des
Alltags"[19] die eigentliche Aufgabe für Städtebau und Stadtplanung
sahen.
Kultureller Reichtum
Angesichts der Ausbreitung moderner Transport- und Kommunikationssysteme
und der damit verbundenen Verringerung der Raumdistanzen argumentierte
Melvin M. Webber in einem 1964 veröffentlichten Aufsatz, dass Urbanität
und Stadt nicht länger identisch sind. Auch wenn Webbers Überlegungen im
Kontext der amerikanischen Suburbanisierungsprozesse zu lesen sind,
bieten sie interessante Anhaltspunkte. Bei der Suche nach Möglichkeiten,
die einseitige Fokussierung der Planungsdisziplin auf das
Baulich-Räumliche aufzuheben, skizzierte er einen Index des kulturellen
Reichtums. Dieser bemisst sich nicht durch herkömmliche Indikatoren wie
beispielsweise das Pro-Kopf-Einkommen, sondern wird durch Komponenten
gebildet, die sich nicht in Wirtschaftlichkeit festhalten lassen - ein
Beispiel ist die Vielfalt an sozialen Interaktionen. Urbanität lässt
sich für Webber unter anderem auf Basis des Indexes als Fähigkeit
quantitativ und qualitativ am kulturellen Leben teilhaben zu können bzw.
als quantitative und qualitative Zugänglichkeit zu Informationen
definieren. "Most important of all, it might encourage us to see
urbanity – the essence of urbanness – not as buildings, not as land use
patterns, not as large, dense, and heterogeneous population
aggregations, but as a quality and as a diversity of life that is
distinct from and in some measure independent of these other
characteristics. Urbanity is more profitably conceived as a property of
the amount and the variety of one´s participation in the cultural life
of a world of creative specialists, of the amount and the variety of the
information received".[20] Webbers Schlussfolgerung besteht darin, den
tradierten Fokus auf die physische Form der Stadt und auf ein statisches
Artefakt-Verständnis zugunsten der Kategorien Zugänglichkeit,
Kommunikation und Interaktion zu revidieren.
Situationsdichte
1963 formulierte die Londoner Architektengruppe Archigram mit "Living
City" ein Konzept, das dem Situativen, Spontanen und Flüchtigen eine
Gleichberechtigung gegenüber dem Gebauten einräumt.[21] Die Situationen
können in Abhängigkeit vom subjektiven Wahrnehmungsvermögen eines
Individuums, von seiner Fähigkeit zur Kreativität, seiner momentanen
Stimmung, seinen Erfahrungen und persönlichen Handlungszielen erzeugt
werden. Damit verweisen Archigram auf handlungsorientierte Aspekte für
das Städtische. Mit dem Konzept "Instant City" (1969) erstellten
Archigram ein Programm, wie diese städtische Lebendigkeit in peripheren
Kleinstädten erzeugt werden kann. Veranstaltungen, Ausstellungen oder
Bildungsprogramme sollen eine städtische Dynamik erzeugen und vorhandene
Aktivitäten miteinander vernetzen. Ziel ist die Verwandlung der Stadt
durch Infiltration und die Initiierung von Urbanität. Archigram knüpfte
mit diesen Stadtkonzepten an die Gedanken der Situationisten an. Deren
"unitärer Urbanismus" basiert auf der Konstruktion von Situationen.[22]
Diese sollen Stimmungen und Handlungsmöglichkeiten erzeugen, die in
Wechselwirkung mit dem gebauten Raum stehen. Um diese Beziehungen
zwischen dem gebauten Raum und den individuellen Empfindungen
untersuchen zu können, entwickelten die Situationisten die Methode der
Psychogeografie. Neben dem Verfahren des Umherschweifens (dérive), mit
dem die psychischen Zonen einer Stadt erfasst werden sollten, war die
Zweckentfremdung (détournement) von Vorgefundenem ein Mittel, kreativ
Situationen zu konstruieren und Räume umzufunktionieren.
Bei der Erweiterung des Stadtbegriffs kann die Stadtforschung ganz
aktuell auch auf verschiedene, vor allem kulturelle Projekte im Umgang
mit den Schrumpfungsprozessen zurückgreifen. In der alltagspraktischen
Auseinandersetzung mit den stadtregionalen Entwicklungen lässt sich
jenes prozessuale und vielschichtige Stadtverständnis finden, dass die
Forschung noch nicht theoretisch abstrahiert hat. Projekte, wie das
Hallenser "Hotel Neustadt" sind Beispiele für temporäre, kulturelle
Interventionen, die bewusst oder unbewusst an die Konzepte der 1960er
Jahre anknüpfen und Anregungen für die Findung neuer Werte und
Bedeutungen des Städtischen bieten.
So fand in Halle an der Saale im September 2003 in einem 18-geschossigen
Scheibenhochhaus ein internationales Theaterfestival statt. Das leer
stehende Gebäude war Bühne, Ort künstlerischer Inspiration und Hotel
zugleich. In Zusammenarbeit mit Neustädter Jugendlichen, internationalen
Künstlern und dem Ensemble des Thalia-Theaters wurde das Leben in
Großwohnsiedlungen, der Leerstand und seine Auswirkungen auf die
Alltagswahrnehmung der Hallenser in Aktionen, die weit über den
schauspielerischen Aspekt des Theaters hinaus gingen, thematisiert:
Bestandteile des Hochhauses wurden zu einer Minigolf-Anlage
umfunktioniert, Stadtführungen vermittelten den Anwohnern neue bzw.
längst vergessene Perspektiven auf ihr Quartier, Erinnerungen der
Bewohner wurden dokumentiert, die Zimmer des temporären Hotels von
Jugendlichen des Stadtteils in Eigeninitiative gestaltet.[23]
Das Planungsbüro complizen entwickelte im Rahmen des Projektes "Hotel
Neustadt"[24] das Konzept sportification. Hier wird die gesellschaftlich
zunehmende Freizeitorientierung mit dem Gebäudeleerstand kreativ
verbunden. Dem Büro complizen "geht es um die Frage, wie viel Spaß,
Sport und Eigeninitiative Stadtplanung zulässt und vor allem darum, wie
Stadt oder Architektur in neue Sportarten integriert werden können."[25]
Sportification entwickelt aus der gegebenen Situation heraus neue
Sportarten, die auch nur in leer stehenden Gebäuden verwirklicht werden
können. Leerstand wird so zu einer gesuchten Qualität. In organisierten
Events wird Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, die städtebaulichen
Ressourcen sportlich zu nutzen und den Stadtraum auf neue Weise
wahrzunehmen und sich anzueignen. So wurde in Halle an der Saale die
Sportart "Hochhausfrisbee" erfunden. Dabei stehen die Mitspieler auf den
Dächern von Hochhäusern und werfen sich die Frisbeescheibe von Dach zu
Dach zu. Durch Sportarten wie Hochhausfrisbee können die Jugendlichen
die Stadt spielerisch erkunden und auch neue sportliche Aneignungsformen
entwickeln. Indem Handlungsweisen den gegebenen Bedingungen spontan
angepasst werden, entsteht aus der Situation heraus eine kreative
Handlung, die so im Vorfeld vielleicht gar nicht beabsichtigt war. Im
Ergebnis ist jedoch eine Sportart entstanden, die die Funktion des
Hochhauses vom Wohngebäude in ein sportliches Betätigungsfeld abändert
und auf diese Weise die negative Konnotation des Leerstandes in eine
gesuchte Qualität transformiert.
Schrumpfung – Neuschöpfung des Städtischen
Die Schrumpfungsprozesse und ihre Folgen offenbaren die
Bedeutungsverschiebung von baulich-räumlichen und quantitativen hin zu
soziokulturellen, qualitativen und handlungsorientierten Aspekten einer
Stadt. Die Stadtkonzepte der 1960er Jahre wie auch aktuelle kulturelle
Projekte in Ostdeutschland zeigen die Schwierigkeiten der Machbarkeit
und nachhaltigen Verfestigung kultureller Interventionen im Alltag auf.
Die Diskussion, ob das Städtische sich lediglich im Temporären, von
"externen" Künstlern Initiierten manifestiert, oder langfristig auf den
Wunschbildern und dem Engagement der Bewohner basiert, steht noch am
Anfang. Doch dies ist schon der zweite Schritt. Vorerst gilt es, eine
grundsätzliche Diskussion über das Städtische und die damit verbundenen
Auffassungen in Theorie und Praxis zu führen. Die Erweiterung um
handlungsorientierte Aspekte würde zu einem prozesshaften und
vielschichtigen Stadtbegriff führen, der auf theoretischer Ebene schwer
zu fassen ist. Nach diesem Verständnis entsteht Stadt durch
Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren im städtischen Raum oder
durch das Wechselspiel von Bewohnern und gebauter Umwelt.
Unsere disziplinären Vorstellungen, was Stadt ist, stehen auf dem
Prüfstand. Die Schrumpfungsprozesse bieten der Stadtforschung die
Chance, den Stadtbegriff aus der normativen Logik von Wachstum und
Gebautem zu befreien und um neue Qualitäten zu erweitern. In diesem
Sinne kann Schrumpfung durchaus auch eine Neuschöpfung des Städtischen
darstellen. Dazu bedarf es jedoch eines veränderten Blickwinkels und der
Suche nach neuen Werten. Dies ist keine alleinige Aufgabe von
Stadttheorie und Stadtplanung, sondern stellt eine
gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Die Entlehnung eines (auf
die Welt bezogenen) Ausspruches von Merleau-Ponty mag aufzeigen, wo der
Weg hinführen kann: "Die [Stadt] ist nicht, was ich denke, sondern das,
was ich lebe […]."[26]
Anne Pfeifer, Dipl.-Ing. Stadt- und Regionalplanung, ist
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ETH Zürich und tätig im
Forschungsprojekt "Städtebauliche Entwurfsstrategien für suburbane
Räume" am Institut für Städtebau. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und
Planungstheorie im Kontext von Schrumpfungsprozessen, Mitherausgeberin
des wissenschaftlichen Online-Magazins "Städte im Umbruch",
<http://www.schrumpfende-stadt.de>, E-Mail: Pfeifernsl.ethz.ch
Literaturempfehlungen:
Zum Thema "Schrumpfung"
Brandstetter, Benno; Lang, Thilo; Pfeifer, Anne, Umgang mit der
schrumpfenden Stadt - ein Debattenüberblick, in: Berliner Debatte 16
(2005), 6, S. 55-68
Bundestransferstelle Stadtumbau Ost, Statusbericht. Stadtumbau Ost -
Stand und Perspektiven, Berlin, Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (BMVBS), Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
2006
Hager, Frithjof; Schenkel, Werner (Hgg.), Schrumpfungen. Chancen für ein
anderes Wachstum. Berlin u.a. 2000
Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter, Die schrumpfende Stadt und die
Stadtsoziologie, in: Friedrichs, Jürgen (Hg.), Stadtsoziologie, Opladen
1988, S. 78-94
Kaufmann, Franz-Xaver, Schrumpfende Gesellschaft, Frankfurt am Main
2005
Kil, Wolfgang, Luxus der Leere, Wuppertal 2004
Nagler, Heinz; Rambow, Riklef; Sturm, Ulrike (Hgg.), Der öffentliche
Raum in Zeiten der Schrumpfung, (edition stadt und region 8) Berlin
2004
Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Internationale Untersuchung,
Bd. 1, Ostfildern-Ruit 2004
Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Handlungskonzepte, Bd. 2,
Ostfildern-Ruit 2005
Zum Thema "handlungsorientierte und lebensweltliche Konzepte"
Cook, Peter (Hg.), Archigram, Basel 1991
Hasse, Jürgen, Das Vergessen der menschlichen Gefühle in der
Anthropogeographie, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), S. 63-83
Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1996
Levin, Thomas Y., Geopolitik des Winterschlafs: Zum Urbanismus der
Situationisten, in: Wolkenkuckucksheim 2 (1997),
<http://www.tu-cottbus.de/BTU/Fak2/TheoArch/Wolke/X-positionen/Levin/levin.html>
(23.08.2006)
Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001
Webber, Melvin M., The Urban Place and the Nonplace Urban Realm, in:
Ders. u.a. (Hgg.), Explorations into Urban Structure, London u.a. 1964,
S. 79-153
Zum Thema "Wachstum"
Lutz, Burkart, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am
Main 1984
Anmerkungen:
[1] Uchatius, Wolfgang, Häuser zu Steinmehl, in: Die Zeit 18 (2001).
[2] Kil, Wolfgang, Luxus der Leere, Wuppertal 2004.
[3] Dieckmann, Christoph, Die schwindende Stadt, in: Die Zeit 27
(2001).
[4] Brandstetter, Benno u.a., Umgang mit der schrumpfenden Stadt - ein
Debattenüberblick, in: Berliner Debatte, 16 (2005), 6, S. 55-68.
[5] Bürkner, Hans-Joachim u.a., Regenerierung schrumpfender Städte.
Working Paper des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung
(IRS), Erkner 2005, S. 12.
[6] Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter, Die schrumpfende Stadt und die
Stadtsoziologie, in: Friedrichs, Jürgen (Hg.), Stadtsoziologie, Opladen
1988, S. 78-94.
[7] Vgl. Wirth, Louis, Urbanität als Lebensform, in: Herlyn, Ulfert
(Hg.), Stadt- und Sozialstruktur, Nymphenburger Verlagshandlung 1974
(Original 1938), S. 42-66.
[8] Lutz, Burkart, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt
am Main 1984.
[9] Huber, Benedikt, Stadtplanung ohne Wachstum, in: DISP 41 (1976), S.
31-36.
[10] Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 48.
[11] Siebel, Walter, Die europäische Stadt, in: Ders. (Hg.), Die
europäische Stadt, Frankfurt am Main 2004, S. 11-50, bes. S. 16.
[12] Bundestransferstelle Stadtumbau Ost, Statusbericht. Stadtumbau Ost
- Stand und Perspektiven, Berlin, Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (BMVBS), Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
2006, S. 11.
[13] Lütke Daldrup, Engelbert, Die "perforierte Stadt" - neue Räume im
Leipziger Osten, in: Informationen zur Raumentwicklung (2003), 1/2, S.
55-67.
[14] Dürrschmidt, Jörg, Über die Krise städtischer Öffentlichkeit, in:
Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Handlungskonzepte, Bd. 2,
Ostfildern-Ruit 2005, S. 676-682.
[15] Dürrschmidt, Jörg, Schrumpfung in den Köpfen, in: Oswalt, Philipp
(Hg.), Schrumpfende Städte. Internationale Untersuchung, Bd. 1,
Ostfildern-Ruit 2004, S. 274-279, bes. S. 275.
[16] Joas, Hans; Wiegand, Klaus, Die kulturellen Werte Europas,
Frankfurt am Main 2005, S. 15.
[17] Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 10).
[18] Hasse, Jürgen, Das Vergessen der menschlichen Gefühle in der
Anthropogeographie, in: Geographische Zeitschrift 87 (1999), 2, S.
63-83, bes. S. 80.
[19] Führ, Eduard, Wir bauen wieder – "Rückbau" der Städte oder Umbau
der Disziplin, in: Nagler, Heinz u.a. (Hgg.), Der öffentliche Raum in
Zeiten der Schrumpfung (edition stadt und region 8), Berlin 2004, S.
129-146, bes. S. 141.
[20] Webber, Melvin M., The Urban Place and the Nonplace Urban Realm,
in: Ders. u.a., Explorations into Urban Structure, London 1964, S.
79-153, bes. S. 88.
[21] Cook, Peter (Hg.), Archigram, Basel 1991.
[22] Levin, Thomas Y., Geopolitik des Winterschlafs. Zum Urbanismus der
Situationisten, in: Wolkenkuckucksheim 2 (1997), 2,
<http://www.tu-cottbus.de/BTU/Fak2/TheoArch/Wolke/X-positionen/Levin/levin.html>
(23.08.2006).
[23] Hilliger, Andreas, Theater als urbane Intervention, in: Oswalt,
Schrumpfende Städte (wie Anm. 14), S. 366-371.
[24] <http://www.hotel-neustadt.de>.
[25] <http://www.sportification.net>.
[26] Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin
1966, S. 14.
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Quellennachweis:
FORUM: A. Pfeifer: Schrumpfung – Niedergang oder Neuschoepfung. In: ArtHist.net, 12.09.2006. Letzter Zugriff 15.01.2025. <https://arthist.net/archive/28547>.