Forum:
Grenzen und urbane Modernität. Überlegungen zu einer
Gesellschaftsgeschichte städtischer Interaktionsräume
Von Moritz Föllmer, Institut für Geschichtswissenschaften,
Humboldt-Universität zu Berlin und Habbo Knoch, Seminar für Mittlere und
Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen
E-Mail: <moritz.foellmergmx.de> / <hknoch01019freenet.de>
Seit einigen Jahren erlebt die stadtgeschichtliche Forschung im
deutschsprachigen Raum einen Boom, der mit wichtigen konzeptionellen
Erweiterungen einhergeht. Ansätze der Alltags-, Diskurs- oder
Repräsentationsgeschichte werden aufgegriffen und konkretisiert, Städte
in anderen europäischen Ländern und außerhalb Europas finden vermehrt
Interesse. Und neben der Hochphase des Städtewachstums in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts werden mehr als bisher auch die Perioden
davor und danach behandelt.
Die Stadtgeschichtsschreibung der Neuzeit löst sich damit aus dem Bann
der industriellen Urbanisierung, mit der die "Großstadt" sowie ihre
Wahrnehmung als Motor und Leitbild der Moderne entstanden. Statt weiter
mit der "Verstädterung" vor allem infrastrukturelle und
sozialgeografische Prozesse zu betonen, haben die schon bei Georg Simmel
konzeptionell angelegte "innere Urbanisierung"[1] und damit auch die
vielfältigen kommunikativen Beziehungen innerhalb des urbanen Raums
zunehmend Aufmerksamkeit erfahren. Stadtplanung, Monumentalarchitektur
und Wohnungsbaupolitik verlieren als forschungstragende Gegenstände an
Dominanz, "Häuserleben" und "Bahnhofstraßen" rücken in den
Vordergrund.[2]
Das wirft die Frage auf, wie Vergesellschaftungsprozesse in der
besonderen, selbst variablen räumlichen Gebundenheit des Städtischen und
damit das Verhältnis von urbanen Räumen und sozialer Praxis gefasst
werden können. Im Folgenden soll angedeutet werden, inwieweit das
Konzept der "Grenze" dazu beitragen kann, das gegenwärtig rasch
anwachsende stadtgeschichtliche Wissen zu integrieren und weitere
Forschungen anzuregen. Die folgende Skizze möchte Anstöße in der
jüngsten Forschung aufnehmen und verstärken, die Transformation der
Stadt und der Gesellschaft durch die Stadt als raumgebundenes
Handlungsfeld von Milieubildungen und Konventionalisierungen einerseits,
von situativer Performanz, spontaner Vergemeinschaftung und fragiler
Individualisierung andererseits wahrzunehmen.
Das Konzept der "Grenze"
Urbanisierung und die Herausbildung von Urbanität als Lebensform über
den städtischen Raum hinaus sind andauernde Prozesse der Setzung und
Erosion von sozialen, moralischen und räumlichen Grenzen. Bereits die
frühe Stadtsoziologie der Chicago School und ihre Vorläufer in der
zeitgenössischen Erkundungsliteratur um 1900 haben sich diesem Phänomen
zugewandt. Als Beobachter vollzogen sie die entgrenzenden und
entdifferenzierenden Wirkungen der Urbanisierung nach, hatten aber auch
die mit ihr verbundenen neuen Formen von Distanznahme,
Abstandskonstruktion und Verortung im Blick. In späteren Studien zur
Stadtteil- und Milieuforschung sind vor allem sozialräumliche
Grenzziehungen untersucht worden; die Entgrenzung des Städtischen in der
Suburbanisierung hat als Pendant zur funktionellen Differenzierung des
innerstädtischen Raums Aufmerksamkeit gefunden.
Zwar hat Simmels Bild der modernen Stadtbewohner, die sich durch
Blasiertheit und Reserviertheit primär als formierte Individuen und
nicht als soziale Kollektive voneinander abgrenzen, einen zentralen
Aspekt des modernen Stadtlebens erfasst.[3] Aber Urbanisierung und
Urbanität umfassen über Nivellierung und Angleichung hinaus zahlreiche,
parallele Formen der Differenzierung und Distinktion. Wesentliches
Merkmal städtischen Lebens ist das Wechselspiel von Sicherheiten durch
Zuordnung und Verwerfungen durch Auflösung und Zerstörung. Diese
Veränderungen bilden sich im Raum in unterschiedlicher Weise und
Intensität aus. Zusammen mit den sozialen Anpassungsleistungen und
Widerständen bietet sich die Gemengelage von Grenzen in ihren
verschiedenen Aggregatzuständen im städtischen Raum damit als Prisma der
Moderne an.
Mit dem Konzept der Grenze verschiebt sich die Perspektive von der
bislang dominierenden Makroebene "der Stadt" als Akteur oder Imagination
hin zur Mikro- und Mesoebene von Interaktionsräumen. Sie sind
untereinander und – zunehmend – auch über den politisch oder rechtlich
definierten Raum der "Stadt" verbunden und mit variierender Intensität
vernetzt. Grenzen konstituieren Handlungsfelder, Handlungsfelder
wiederum Grenzen, die vom privaten Raum über die Nachbarschaft, den
städtischen Konsum-, Kultur- und Wirtschaftsaustausch bis hin zur
Vorstadtsiedlung und zu außer- und transstädtischen Bezugsräumen prägend
sind.
Anhand der Untersuchung von Grenzen und ihrer Generierung, Verschiebung
oder Auflösung werden Schnittstellen in den Blick genommen, an denen
sich die Spezifik der modernen Stadt konkretisieren lässt. Mit ihr sind
Transformationsdynamiken und Beharrungspraktiken verbunden, die das, was
als "moderne Vergesellschaftung" oft unabhängig von räumlichen Bezügen
verstanden wird, in Feldern sozialen Handelns untersuchen lassen. Damit
wird auch einer Forderung Pierre Bourdieus Rechnung getragen, das
Verhältnis von physischem Raum und sozialer Strukturierung ernst zu
nehmen.[4] Stärker als in Bourdieus deterministischer Konzeption sollten
jedoch das Wechselverhältnis zwischen beiden Ebenen analysiert und die
Dynamik räumlich bedingter Verhaltensmuster einbezogen werden. Eine
raumbezogene Gesellschaftsgeschichte dieses Zuschnitts untersucht anhand
der Abfolgen von Grenzsetzungen und Grenzerosionen, welche Bedeutung
urbane Räume und Urbanität für die moderne Vergesellschaftung hatten.
In diese Richtung gehen verschiedene, zum Teil wenig bekannte und noch
kaum systematisch miteinander verbundene amerikanische und deutsche
Studien der letzten Jahre. Ihre Leistung liegt darin, Entwicklungen und
Konflikte, die auf einer allgemeinen Ebene gut bekannt sind, in ihrer
stadträumlichen Ausprägung zu untersuchen. Damit erhält die moderne Welt
ein konkreteres Gesicht, und ihre soziale wie kommunikative
Konstruiertheit vor Ort wird deutlich. Wenn sich seit dem späten 18.
Jahrhundert bürgerliche Leitbilder umfassend durchsetzten und die
europäische Gesellschaft veränderten, dann konkretisierte sich dies in
der Öffnung frühneuzeitlicher Grenzen, aber auch in neuen
Grenzziehungen, die erst markiert werden mussten, immer umstritten waren
und schon bald überschritten und angefochten wurden. Dieses
Spannungsverhältnis soll im Folgenden anhand der räumlichen
Differenzierung zwischen sozialen Schichten, Geschlechtern und
ethnischen Gruppen, die mit umfassenden obrigkeitlichen
Kontrollansprüchen einherging, skizziert werden.
Soziale Differenzierungen
Seit es Städte gibt, werden in ihnen Grenzen gezogen. Spezifisch moderne
Formen nahm dieser Zusammenhang erst an, als grundlegende
Organisationsprinzipien der frühneuzeitlichen Stadt in Frage gestellt
wurden. Mit der Schleifung der Stadtmauern im 18. und 19. Jahrhundert
begann zum einen eine Entgrenzung des Städtischen als Lebensform, die in
einer intensivierten Erschließung, Einbindung und Durchdringung des
Umlandes mündete. Zum anderen boten Städte nun Räume für soziale
Mobilität, aufklärerische Kultur und die Überwindung ständischer
Unterschiede. So konnten im Zuge der Emanzipationspolitik Juden sich
freier in der Öffentlichkeit bewegen, in Würzburg Läden betreiben, in
Frankfurt am Main Spazierwege nutzen oder in Hamburg Cafés betreten.[5]
Zugleich blieben gerade die Grenzen der mittelalterlichen Judenviertel
sichtbar und Handlungsfeld für Prozesse der Enttraditionalisierung wie
für spätere "inventions of tradition".
Parallel zu dieser Öffnung von Grenzen kam ein Anspruch auf räumliche
Privatheit auf, der in neue Grenzziehungen mündete und die
Stadtgeschichte bis in die Gegenwart prägen sollte. Bereits im Paris des
18. Jahrhunderts versuchten manche wohlhabendere Bewohner, sich dem
konfliktträchtigen Sozialleben in engen Gassen zu entziehen, und zogen
teilweise in Außenviertel. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wanderten
Ehepaare, deren Eltern noch in sozial gemischten Innenstadtgassen
gewohnt und ihr Haus als lebensweltliches und ökonomisches Ensemble
verstanden hatten, zunehmend in bürgerliche Quartiere ab, in denen sie
unter ihresgleichen sein und familiäre Intimität kultivieren konnten.[6]
Dies war ein Faktor, der bald mit der Bildung funktional differenzierter
städtischer Räume wie der City einherging.
Der Anspruch auf Privatheit setzte jedoch ausreichende räumliche
Abgeschlossenheit voraus. Während dies in England, wo Einfamilienhäuser
dominierten, kein Problem war, gestaltete es sich zum Beispiel in Paris
schwieriger. Hier konnte die Außenwelt bis in das Treppenhaus reichen,
in dem die Concierge spionierte und die anderen Hausbewohner zu viel zu
hören oder sehen drohten. Daher wurde der Kontakt zu den Nachbarn meist
aufs Grüßen beschränkt und der private Charakter der Wohnung betont.
Innerhalb der eigenen vier Wände trennte man klar zwischen Wohnräumen,
zu denen Besucher Zugang hatten, und der Intimität der Schlafzimmer.
Dieses Modell setzte sich auch im Manhattan des späten 19. Jahrhunderts
durch, wo sich Mittelschichtfamilien keine Häuser mehr leisten konnten.
Statt dessen zogen sie in neu gebaute, anfänglich french flats genannte
Appartementhäuser, in denen doorman, Lobby und Fahrstuhl die Grenze zu
anderen sozialen Gruppen absicherten.[7]
Die räumliche Konkretisierung von Privatheitsansprüchen stellte sich in
Arbeitervierteln anders dar. Hier waren die Grenzen zwischen Familie und
Öffentlichkeit durchlässiger. Durch Schlafgänger, Gemeinschaftstoiletten
und Straßen- wie Kneipengeselligkeit waren Zugehörigkeit und
Respektabilität weniger räumlich fixiert und wurden vielmehr in
Interaktionen auf engem Raum ausgehandelt. Obrigkeitliche Baumaßnahmen
suchten vor allem im 20. Jahrhundert durch den Rückbau von überdachten
Hauseingängen, die als gefährliche Treffpunkte wahrgenommen wurden, oder
Gemeinschaftsküchen ein Ideal bürgerlicher Familiarität zur Sicherung
der public order zu verankern.[8]
Raumverhalten und kontrollierte Öffentlichkeit
Bewegungsfreiheiten im städtischen Raum wurden nach Geschlecht und
sozialer Zugehörigkeit ausdifferenziert und durch Normensysteme und
Obrigkeit reguliert. Während Arbeiterfrauen in ihrem lokalen Umfeld
soziale Netzwerke einer Versorgungs- und Sozialöffentlichkeit aufbauten,
wurden bürgerliche Frauen weitgehend aus der städtischen Öffentlichkeit
verdrängt. Unsichtbare Grenzen des Aus- und Zugangs fanden ihre
Festschreibung in Konventionen und Etikette, damit auch in Regeln der
Begegnung. Die Bewegungsfreiheit von Frauen, die nicht in den Verdacht
moralischer Anrüchigkeit geraten wollten, war begrenzt und an Begleitung
gekoppelt – bis um 1900 vor allem an männliche, sukzessive dann auch an
weibliche. Schließlich reichten durchaus bestimmte Zeichen wie etwa
Reiseführer oder Tageszeitungen, die eine Frau bei sich trug, um
Respektabilität zu signalisieren.
Soziale Entmischung und Geschlechterdifferenzierung begannen
kommunalpolitisch aber nicht erst mit der Hochphase der "Urbanisierung".
Bereits Louis-Sébastien Mercier, Großstadtreporter und Zeitkritiker des
18. Jahrhunderts, definierte bestimmte Pariser Straßen und Viertel als
Problemzonen und leitete daraus den Wunsch nach reinigenden und
ordnungsstiftenden öffentlichen Interventionen ab. Die Verdrängung der
Bettelei aus dem Berliner Stadtzentrum gegen den Widerstand des sich
durch milde Gaben legitimierenden Adels war für diesen
Interventionsdrang charakteristisch.[9] Mit ähnlicher Stoßrichtung
begrenzte die Pariser Verwaltung die angeblich chaotische und moralisch
zweifelhafte Tätigkeit der Marktfrauen, indem sie klarer voneinander
getrennte Verkaufsstände vorschrieb.[10] Im späten 19. Jahrhundert
wurden aus stadthygienischen wie imagepolitischen Motiven, und ohne
Rücksicht auf die Bewohner, arme Quartiere wie das Hamburger
Gängeviertel oder das jüdische Ghetto in Prag saniert, was später von
den Nationalsozialisten fortgesetzt und radikalisiert wurde.
Die bürgerliche Ordnung der Stadt hatte ihren Höhepunkt um die Mitte des
19. Jahrhunderts. Trotz aller Kontrollversuche wurde sie in den
darauffolgenden Jahrzehnten zunehmend in Frage gestellt. Dies geschah
weniger durch die Arbeiterbewegung oder die bürgerliche Sozialreform als
vielmehr durch vielfältige individuelle Grenzüberschreitungen, die immer
wieder für Konflikte sorgten. In London tummelten sich Adlige auf der
Suche nach neuen Erfahrungen im proletarischen East End, während Frauen
aus den Mittelschichten am Leben im luxuriösen West End teilhaben
wollten und eigene Cafés, Klubs und Toiletten forderten.[11] Jugendliche
aus den proletarischen Außenbezirken St. Petersburgs griffen bürgerliche
Passanten in der Straßenbahn oder auf dem Newski Prospekt verbal wie
physisch an und wurden daraufhin in Boulevardzeitungen als "Hooligans"
bezeichnet.[12] An metropolitanen Orten wie dem Potsdamer Platz wurden
soziale Differenzen zwar keineswegs aufgehoben, verloren aber ihre klare
räumliche Zuordnung, die ihrerseits erst ein Produkt des 19.
Jahrhunderts war.
Die Erosion eindeutiger sozialer Grenzen im öffentlichen Raum wurde auch
durch eine Vielzahl halböffentlicher Begegnungs- und Zwischenräume in
der modernen Stadt bedingt. An Warenhaus, Kino oder Grandhotel lassen
sich Verschiebungen zwischen räumlicher Interaktion und sozialer
Zugehörigkeit beobachten. So spielte der "Hochstapler" als neue
Sozialfigur der Jahrhundertwende um 1900 mit der aufkommenden Anonymität
bei fortbestehendem Respekt vor großen Namen – aber erfolgreich war
dabei nur, wer die soziale Imitation beherrschte und so die Brüchigkeit
ihres Geltungsanspruchs mit vorantrieb. Distinktion verlagerte sich von
Stand und Stil zu Konsum und Kleidung. Nicht umsonst wurden in den
1960er Jahren städtische Räume zu Laboratorien einer neuen Jugendkultur,
deren Antibürgerlichkeit einen Anspruch auf die symbolische Beherrschung
öffentlicher Räume beinhaltete.
Ethnische Trennungen
Rückzug ins Private, funktionale Differenzierung und städtische
Baupolitik überkreuzten sich in europäischen und amerikanischen Städten
im 19. und 20. Jahrhundert vielfältig mit ethnischen Trennungen. Daraus
resultierende Dynamiken spielten aber auch bei Grenzziehungen und
Grenzüberschreitungen in kolonialen Städten eine große Rolle. Hier
trennten die Planer in Übertragung bürgerlicher Leitbilder indigene von
europäischen Vierteln, die entweder nach einheimischen Vorbildern oder,
wie in Rabat oder Casablanca, in einem pseudoauthentischen, in diesem
Fall "neomaurischen" Stil errichtet wurden. Der Fall Hanois zeigt
jedoch, wie die aufwendig errichteten Grenzen zur einheimischen
Bevölkerung wieder aufgeweicht werden mussten: Gerade die neu errichtete
Kanalisation, das Vorzeigeprojekt europäischer Modernität, ermöglichte
es Ratten und damit auch Pesterregern, in die Häuser der Franzosen zu
gelangen. Vietnamesische Rattenjäger mussten engagiert werden, um die
Tiere zu töten.[13] Auch die Präsenz des Imperialen in den Städten
Europas war mit Risiken verbunden: Bei Kolonialausstellungen, in
Zoologischen Gärten oder Häfen wurde Herrschaft über koloniale Subjekte
inszeniert und gelebt. In Marseille waren Besucher und Einwanderer aus
den Kolonien jedoch so sichtbar, dass der Stadt ihr europäischer
Charakter abgesprochen wurde.[14]
Vor allem die ethnischen Grenzziehungen ließen im 20. Jahrhundert
größere Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Städten
entstehen. Bis dahin überwogen trotz offensichtlicher Differenzen,
insbesondere hinsichtlich der neuen und rationaleren Raumgestaltung, der
schwächeren Rolle der Kommunalpolitik und der stärkeren Präsenz
ethnischer Minderheiten in den amerikanischen Städten, die
Gemeinsamkeiten zwischen den Kontinenten. Tiefgreifender wurden die
Unterschiede, als in und nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von
schwarzen Bürgern der USA aus dem Süden in den Norden und Mittleren
Westen der USA zogen. Die weißen Einwohner wehrten sich gegen das
gemeinsame Zusammenleben in Stadtvierteln und griffen zu einer ganzen
Skala von Maßnahmen vom Druck auf Makler und Hausverkäufer bis hin zu
physischen Attacken oder Brandstiftungen. Wo dies keine Wirkung zeigte,
verabschiedeten sie sich ganz von der jeweiligen Stadt, nahmen Kaufkraft
und Steuergelder in die Suburbs mit und hinterließen den schwarzen
Bewohnern Armut und Perspektivlosigkeit. Die schweren Unruhen und der
urban decay der 1960er und 1970er Jahre hatten hier ihren Ursprung.[15]
Gemeinsam sind europäischen und amerikanischen Städten vielfach die
Grenzen sozialpolitischer Maßnahmen, die diese Separierung abzuschwächen
oder rückgängig zu machen versuchten. Wie zuletzt an den banlieues in
Paris, aber schon länger an gescheiterten Musterbauprojekten etwa in
Chicago sichtbar geworden ist, führen Unterschichtung und ethnische
Trennung selbst und gerade dort zu Ghettoisierungen, wo vermeintlich
moderne Sozialbauten entstanden sind. Ursprünglich von einem
Fortschrittskonzept modernen, rationellen Wohnens getragen, mündeten
viele dieser Projekte gerade nicht in freie Mobilität, jenes Ideal der
modernen Urbanität, sondern in verdichtete ethnische Zugehörigkeiten und
Grenzziehungen. Dieses Scheitern lag unter anderem in der Kontinuität zu
den bürgerlichen Kontroll- und Disziplinierungsansprüchen des 19.
Jahrhunderts begründet. Sie machte es unmöglich, die betroffenen
Bevölkerungsgruppen als Akteure einzubeziehen, die an der Definition und
Gestaltung des städtischen Raums beteiligt sind und dabei auch Grenzen
verflüssigen und überschreiten.
Eindämmungen und Entgrenzungen des Urbanen
In den europäischen Gesellschaften dominierte Urbanität keineswegs die
ganze Stadt. Kommunalpolitik, bürgerliche Eliten und die breite
Bevölkerung bemühten sich vielmehr intensiv um Räume, in denen ein
Rückzug vom städtischen Leben möglich war und sich Modernität und
konstruierte Tradition vermengten: Parks und Gärten, Aschingers
Schnellrestaurants in Berlin, wo die Kellnerinnen Dirndl trugen, oder
die Ränder des stalinistischen Moskau, wo das Leben der zugewanderten
Arbeiter immer noch ländlichen Rhythmen folgte.[16] Der
Dynamisierungsdruck der modernen Stadt und ihrer Antriebskräfte fand
zahlreiche Widerlager, die Interaktionsräume auf vielfältige Weise
ausdifferenzierten und Wandlungsimpulse abfederten oder eindämmten. Dass
die Mittelschichten in den 1950er und 1960er Jahren in Scharen in die
Randviertel oder Vorstädte zogen, ermöglichte ihnen eine Halbdistanz zur
Urbanität: Familiäre Privatheit konnte im Einfamilienhaus verwirklicht
werden, während die Innenstadt aufgrund ihres Kultur- und
Einkaufsangebots weiterhin genutzt, gleichzeitig aber auch mit Ängsten
vor Verbrechen besetzt wurde.[17]
Damit ist der Raumbezug von Urbanität, gefördert durch wachsende
Mobilität, die sich ausbreitenden technischen Kommunikationsformen und
einen längeren Trend zu entdichtetem Bauen entgrenzt und relativiert
worden. Indem der lebenskulturelle Entwicklungsabstand zwischen im
engeren Sinne urbanen und nichtstädtischen Gebieten im 20. Jahrhundert
rapide gesunken ist, hat sich auch die Bestimmungsgröße des "Raums" für
das, was "Stadt" ist, nachhaltig relativiert. Das reicht von der
Echtzeitübernahme kernstädtischer Jugendkulturen auf vermeintlichen
Dörfern hin zu Siedlungsplänen in den Niederlanden und Israel, die das
gesamte Staatsgebiet als einen urbanen Besiedlungszusammenhang gestalten
wollen. Damit würden die wuchernden Auslagerungen der ursprünglich
städtisch gebundenen, aber aus ihr herauswachsenden Konsum-, Wohn- und
Lebenskultur einer übergeordneten Steuerung unterworfen.
Diese Tendenz zum Urbanen als Dominante des gesellschaftlichen
Handlungsraums, das in sich konsumkulturell differenziert, aber nicht
mehr stadträumlich gebunden ist, verbindet Europa mit den USA. Ob die
Sonderentwicklungen der amerikanischen Städte (weitergehende
Suburbanisierung bis hin zur völligen Abkehr von der Stadt,
Ethnisierung) rückgängig gemacht oder im Gegenteil fortgesetzt werden
soll, ist in den USA derzeit heftig umstritten. Der Konflikt um die
Frage, was die eigene Gesellschaft noch mit Europa verbindet, basiert
auf einem kulturellen Gegensatz innerhalb der Mittel- und Oberschichten,
der sich räumlich manifestiert: Während der eine Teil von Portland bis
Brooklyn das Revival des Städtischen vorantreibt, zieht es den anderen
in die von jeglichem Bezug auf ein Zentrum freien Exurbs in Florida oder
Nevada. Mit ihnen wird eine längerfristige Entwicklung des 20.
Jahrhunderts radikalisiert: die Ablösung der Varietät der Lebensformen,
die über eine breite Konsumkultur städtischen Ursprungs mitgeneriert
wurden, vom engeren Stadtraum.
Manche der dorthin führenden Transformationsdynamiken städtischer
Zentren während des 19. und 20. Jahrhunderts lassen sich in den
Megastädten der südlichen Welt im Zeitraffer erkennen. Sie führen zu
katastrophaler Armut in sich ungeregelt ausbreitenden Siedlungen,
Schwarzmarktökonomien als Aufstiegsfenstern und horrendem Luxus in den
inner-city areas. Allerdings entstehen weit mehr als in Berlin oder
London im 19. und frühen 20. Jahrhundert Mischformen aus ländlichen und
städtischen Engpassökonomien, die in hohem Maße raumgebunden sind. Lösen
sich in der westlichen Welt viele Produktions- und Konsumformen von
einer räumlichen Bindung ab, so entstehen angesichts der Vielzahl und
Masse solcher Randzonenwirtschaften in den südlichen Megastädten auf
längere Sicht Ventile und Sammelbecken, die Raum und soziale Mobilität
wieder in ein engeres Verhältnis setzen. Ob in den urbanen
Entwicklungszonen der Armutsländer über längere Sicht ähnliche Dynamiken
einer gleichzeitigen Entgrenzung des Urbanen und einer Entbindung von
räumlichen Determinanten greifen, erscheint überaus fraglich.
Perspektiven einer Gesellschaftsgeschichte urbaner Interaktionsräume
Die hier vorgestellten konzeptionellen Überlegungen und empirischen
Studien haben gezeigt, wie Differenzen zwischen sozialen Schichten,
Geschlechtern und ethnischen Gruppen als Grenzen im städtischen Raum
konstruiert wurden. Diese Grenzen ließen sich jedoch nur dort fixieren,
wo sich bürgerliche oder in bürgerlichen Kontinuitäten stehende
Kontroll- und Disziplinierungsansprüche obrigkeitlich durchsetzen ließen
und die Betroffenen wenig Gegenwehr ausüben konnten. Überall sonst
sticht dagegen ihr fluider und kontroverser Charakter ins Auge. Damit
werden die soziale und kommunikative Konstruiertheit und die
Wandelbarkeit urbaner Modernität deutlich. Schließlich treten gerade mit
Blick auf das 20. Jahrhundert und unter Einbeziehung der USA die
Eindämmungen und Entgrenzungen des Städtischen bis hin zur Lösung des
Konnexes zwischen Modernität und Urbanität zu Tage. Das wäre in Zukunft
noch besser empirisch zu untermauern und konzeptionell
weiterzuentwickeln. Die Forschung könnte sich dabei an folgenden
Perspektiven orientieren:
1. Eine Urbanitätsgeschichte, die sich am Konzept der Grenze orientiert,
müsste zum Ziel haben, nicht "die Stadt" oder gar einzelne Städte als
Objekte ihres Interesses im Zentrum zu haben, sondern den spezifischen
Beitrag urbaner Lebensweisen und Interaktionsräume für Prozesse der
modernen Vergesellschaftung herauszuarbeiten. Dazu ist gezielt nach
Schnittstellen von Interaktionsräumen, Urbanität und Vergesellschaftung
zu suchen, wie zum Beispiel im Feld der interethnischen Beziehungen oder
von Konsumstilen.
2. Interaktionsräume können innerstädtische Trennlinien markieren, aber
auch solche, die mit einer Verlagerung und Differenzierung des Urbanen
einhergehen und damit auch die räumliche Grenze der Stadt überwinden.
Hier sind Diffusions- und Abgrenzungsprozesse etwa im Wechselverhältnis
von zentralen und peripheren Lagen, von urbanen und nicht- oder
wenig-urbanen Regionen zu thematisieren. Die Durchdringung der modernen
Gesellschaft mit ursprünglich städtisch gewachsenen Stilen und Praktiken
verlief weder einseitig noch kann sie allein als ökonomischer oder
infrastruktureller Makroprozess erfasst werden.
3. Urbanisierung und die Diffusion von Urbanität waren keine linearen
Prozesse, sondern gestalteten sich als Abfolgen von Grenzziehungen und
Grenzerosionen. An diesem Wechselverhältnis sind Distinktionspraktiken,
Verhaltensformen und moralische Konventionen mit Bezug zu konkreten
Handlungsfeldern herauszuarbeiten. Dies kann aber zugleich nicht unter
Absehung von der imaginären und diskursiven Aufladung von Urbanität
geschehen. Die wechselseitigen Übertragungen zwischen konkreten und
konstruierten Handlungsfeldern und Orten sind als wichtiges generatives
Moment der modernen Selbstverständigung zu untersuchen.
4. Eine Gesellschaftsgeschichte urbaner Interaktionsräume sollte sich
der immanenten Modernisierungslogik entziehen, die vielfach die
Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts grundiert hat. Hinsichtlich der
Kontinuitäten hat sie nach Vorformen und Einlagerungen vorbürgerlicher
Verhaltensformen und deren langer Dauer zu fragen, hinsichtlich des
Funktionszusammenhangs der Stadt sind Regelungsansprüche und deren
Krisen aufschlussreich, um Krisenmanagement räumlich gebunden als einen
Modus moderner Vergesellschaftung herauszuarbeiten. Im 20. Jahrhundert
betrifft dies insbesondere die Einbrüche der beiden Weltkriege, aber
seit den 1970er Jahren auch das Verhältnis von Urbanität, Entgrenzung
des urbanen Lebensstils und verfügbaren Energieressourcen.
Dr. Moritz Föllmer ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für
Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
Interessengebiete: Deutsche und französische Geschichte des 20.
Jahrhunderts, Stadtgeschichte, Geschichte der Subjektivität und der
interpersonalen Kommunikation. E-Mail: moritz.foellmergmx.de
Dr. Habbo Knoch ist Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Mittlere
und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen.
Interessengebiete: Europäische Zeitgeschichte, Repräsentation von Gewalt
und Emotion im 19. und 20. Jahrhundert, Kultur- und Sozialgeschichte der
"klassischen Moderne". E-Mail: hknoch01019freenet.de
Literaturempfehlungen:
Driver, Felix; Gilbert, David (Hgg.), Imperial Cities: Landscape,
Display and Identity, Manchester 1999
Geisthövel, Alexa; Knoch, Habbo (Hgg.), Orte der Moderne.
Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 2005
Habermas, Rebekka, Frauen und Männer im Bürgertum. Eine
Familiengeschichte 1750-1850, Göttingen 2000
Hoffmann, David L., Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow,
1929-1941, Ithaca 1994
Korff, Gottfried, Mentalität und Kommunikation in der Großstadt.
Berliner Notizen zur "inneren" Urbanisierung, in: Kohlmann, Theodor;
Bausinger, Hermann (Hgg.), Großstadt. Aspekte empirischer
Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361
Marcus, Sharon, Apartment Stories. City and Home in Nineteenth-Century
Paris and London, Berkeley 1999
Neuberger, Joan, Hooliganism. Crime, Culture, and Power in St.
Petersburg, 1900-1914, Berkeley 1993
Rappaport, Erika Diane, Shopping for Pleasure. Women in the Making of
London's West End, Princeton 2000
Von Saldern, Adelheid, Häuserleben. Zur Geschichte städtischen
Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, Bonn 1999
Satjukow, Silke, Bahnhofstraßen. Geschichte und Bedeutung, Köln 2002
Schürmann, Sandra, Dornröschen und König Bergbau. Kulturelle
Urbanisierung und bürgerliche Repräsentationen am Beispiel der Stadt
Recklinghausen (1930-1960), Paderborn 2005
Sugrue, Thomas J., The Origins of the Urban Crisis. Race and Inequality
in Postwar Detroit, Princeton 1996
Thompson, Victoria E., The Virtuous Marketplace. Women and Men, Money
and Politics in Paris, 1830-1870, Baltimore 2000
Anmerkungen:
[1] Korff, Gottfried, Mentalität und Kommunikation in der Großstadt.
Berliner Notizen zur "inneren" Urbanisierung, in: Kohlmann, Theodor;
Bausinger, Hermann (Hgg.), Großstadt. Aspekte empirischer
Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343-361.
[2] Schürmann, Sandra, Dornröschen und König Bergbau. Kulturelle
Urbanisierung und bürgerliche Repräsentationen am Beispiel der Stadt
Recklinghausen (1930-1960), Paderborn 2005; Satjukow, Silke,
Bahnhofstraßen. Geschichte und Bedeutung, Köln 2002.
[3] Simmel, Georg, Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in:
Ders., Gesamtausgabe Bd. 7, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt am
Main 1995, S. 116-131.
[4] Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum und "Klassen". Leçon sur la leçon,
Frankfurt am Main 1985.
[5] Rohrbacher, Stefan, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische
Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815-1848/49), Frankfurt am
Main 1993.
[6] Habermas, Rebekka, Frauen und Männer im Bürgertum. Eine
Familiengeschichte 1750-1850, Göttingen 2000.
[7] Föllmer, Moritz, Das Appartement, in: Geisthövel, Alexa; Knoch,
Habbo (Hgg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20.
Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005, S. 325-334.
[8] Saldern, Adelheid von, Häuserleben. Zur Geschichte städtischen
Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, Bonn 1999.
[9] Hüchtker, Dietlind, Einvernehmen und Distanz. Auseinandersetzungen
um die Bitt- und Bettelkultur in Berlin 1770-1838, in:
WerkstattGeschichte 10 (1995), S. 17-28.
[10] Thompson, Victoria E., The Virtuous Marketplace. Women and Men,
Money and Politics in Paris, 1830-1870, Baltimore 2000.
[11] Rappaport, Erika Diane, Shopping for Pleasure. Women in the Making
of London's West End, Princeton 2000.
[12] Neuberger, Joan, Hooliganism. Crime, Culture, and Power in St.
Petersburg, 1900-1914, Berkeley 1993.
[13] Vann, Michael, Of Rats, Rice, and Race: The Great Hanoi Rat
Massacre, an Episode in French Colonial History, in: French Colonial
History 4 (2003), S. 191-203.
[14] Driver, Felix; Gilbert, David (Hgg.), Imperial Cities: Landscape,
Display and Identity, Manchester 1999.
[15] Sugrue, Thomas J., The Origins of the Urban Crisis. Race and
Inequality in Postwar Detroit, Princeton 1996; Kruse, Kevin M., The
Politics of Race and Public Space: Desegration, Privatization, and the
Tax Revolt in Atlanta, in: Journal of Urban History 31 (2005), S.
610-633.
[16] Hoffmann, David L., Peasant Metropolis. Social Identities in
Moscow, 1929-1941, Ithaca 1994.
[17] Schürmann (wie Anm. 2).
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Reference:
FORUM: Foellmer/Knoch: Grenzen und Urbane Modernitaet. In: ArtHist.net, Sep 14, 2006 (accessed Jan 15, 2025), <https://arthist.net/archive/28535>.