11.09.2006

FORUM: Editorial: Das Ende der Urbanisierung?

Karsten Borgmann

Perspektiven auf die Stadt, ihre Geschichte und
Erforschung

Editorial (11.09.2006):

Liebe Leserinnen und Leser,

unter dem Titel "Das Ende der Urbanisierung?" werden H-Soz-u-Kult und
H-Arthist in den folgenden Tagen eine Reihe von Texten zur Geschichte
und Erforschung der Stadt veröffentlichen. Der Grund dafür, diese Frage
als Motto über einen Themenschwerpunkt beider Netzwerke zu stellen,
liegt nicht allein in einer spürbaren Konjunktur von elektronisch
publizierten Beiträgen aus dem Umkreis "Stadtgeschichte".[1] Anlass war
auch die Wahrnehmung, dass die fachliche Beschäftigung mit dem Thema
Stadt, ihrer Geschichte und Erforschung aktuell in Bewegung zu sein
scheint.

So ist einerseits festzustellen, dass "post-urbane" oder "neo-urbane"
Untersuchungsperspektiven in Stadtplanung, Städtebau, Stadtsoziologie,
Architektur und Stadtgeschichte vermehrt anzutreffen sind, was die Frage
erlaubt, ob der Prozess der "Urbanisierung" als ein vom industriellen
Strukturwandel Europas vorangetriebenes Phänomen selber zu historisieren
ist. Andererseits feiert das kulturelle Bild der Stadt als Metapher und
Leitbild kommunalen Lebens nach oder trotz des genannten Strukturwandels
eine Renaissance. Die Auseinandersetzung mit dem imaginären Raum der
Stadt beförderte in der Vergangenheit immer wieder die Überwindung von
traditionellen Grenzen, und seien es nur die Begrenzungen eingefahrener
disziplinärer Sichtweisen.

Die Statements unseres aktuellen Themenschwerpunkts zeigen jedenfalls,
dass das Bewusstsein für einen fortgeschrittenen Stand der Urbanisierung
von einem gesteigerten Interesse an der Fortentwicklung des Urbanen
begleitet wird. Die Beiträge, die teilweise in Reaktion auf den im
Januar veröffentlichten Call for Papers eingereicht wurden, teilweise
von den Herausgebern auch unmittelbar angefragt worden sind, liefern
zumindest keinen Hinweis auf ein Ende von Urbanität als emphatischem
Gegenstand kultursoziologischer oder kulturhistorischer Analysen.

Friedrich Lenger, dessen Beitrag zusammen mit diesem Editorial
veröffentlicht wird, stellt einleitend die Frage nach "Der Zukunft der
europäischen Stadt". Er nennt drei Charakteristika des europäischen
Stadtmodells, die bei einer Projektion des Modells auf globale
Verhältnisse zu problematisieren sind und die auch in den folgenden
Beiträgen des Forums aufgegriffen werden: Suburbanisierung, öffentliche
Räume und soziale Polarisierung.

Mit der Suburbanisierung und Schrumpfung von Städten, gesehen als
Reaktion auf postindustrielle Strukturveränderungen, beschäftigen sich
am Dienstag die Beiträge von Anne Pfeifer und Meik Woyke. Beide wenden
sich gegen eine Sichtweise, die diese Prozesse nur als Enturbanisierung
und Zerfall des Urbanen wahrnimmt, und plädieren für neue
stadtplanerische Handlungsoptionen, bzw. neue Forschungsperspektiven.

Verdichtung des städtischen, aber auch des ländlichen Raums, steht
dagegen am Mittwoch im Mittelpunkt der Beiträge von Wolfgang Sonne und
Sonja Hildebrand. Beide stellen fast komplementäre Modelle urbanen Raums
im Wandel vor, wobei insbesondere die Stadtplanungsgeschichte des 20.
Jahrhunderts kritisch reflektiert wird: als reale Entwicklung wie als
historiografisches Konstrukt.

Dass eine Kulturgeschichtsschreibung der Stadt - insbesondere des
städtischen öffentlichen Raums - alles andere als an ihr Ende gekommen
ist, verdeutlicht am Donnerstag die programmatische Musterung dieses
Feldes durch Moritz Föllmer und Habbo Knoch. Ihrem "tour d'horizon" ist
die Auseinandersetzung mit einem Klassiker der Stadtforschung an die
Seite gestellt. Kirsten Wagner untersucht Kevin Lynchs mehrfach
aufgelegte und vielzitierte Studie "The Image of the City" (1960), die
mit dem Versuch einer Erfassung der Stadt als geordneter Menge von
Gestaltelementen nicht nur die Stadtplanung sondern auch die
Kulturtheorie inspirierte.

Am Freitag wird das Forum vorerst beschlossen mit drei Beiträgen, die
alle auf unterschiedliche Weise die dynamische Veränderung, und auch
Neubildung, städtischer Gemeinschaftsformen im Zuge der umfassenden
Verbreitung digitaler Kommunikationstechnik betonen. Per-Ru Tsen
analysiert die Auswirkungen von Informationstechnologie auf die Stadt
als Standort für Börsen-Unternehmen, Stefan Haas schildert die Auflösung
traditioneller urbaner Wohnformen von Immigranten/innen und Oliver Frey
spürt der fluiden Gruppe der "kreativen Milieus" in der Stadt nach. Alle
zeigen wie, u.a. bedingt durch neue Kommunikationswege, neue Formen
sozialer Organisation im urbanen Raum entstehen.

Die Beiträge werden bis Freitag dieser Woche per Mail verschickt. Sie
sind aber auch bereits jetzt unter der Adresse:

http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?pn=texte&id=665

abzurufen. Die Texte dieses Forums werden außerdem, wünschenswerterweise
ergänzt um weitere Reaktionen, einen weiteren Band der elektronischen
Publikationsreihe "Historisches Forum" bilden.[2]

Ein Ende der Beschäftigung mit der Stadt und ihrer Geschichte ist also
nicht abzusehen. Eine vollständige Berücksichtigung aller in diesem
produktiven Feld wissenschaftlicher Betätigung laufenden Arbeiten und
Ansätze konnte dabei naturgemäß nicht das Ziel dieses elektronischen
Diskussionsforums sein, die Anregung weiterer Diskussionen - gerade auch
zwischen den Disziplinen - wäre es dagegen in eminenter Weise.

Berlin, im September 2006
Karsten Borgmann, Matthias Bruhn, Sven Kuhrau, Marc Schalenberg

Anmerkungen:
[1] Abfrage: "Stadtgeschichte" aus der HSK-Datenbank:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/suchen/type=suchen&geschichte=81>
(07.09.2006)
[2] Vgl. <http://edoc.hu-berlin.de/histfor/archiv.php >

Übersicht über die Beiträge:

Zur Einführung: Das Ende der Urbanisierung? Wandelnde Perspektiven der
Stadtgeschichte und Stadtentwicklung
11.09.2006: Karsten Borgmann, Matthias Bruhn, Marc Schalenberg, Sven
Kuhrau (Berlin / Zürich), Editorial
11.09.2006: Friedrich Lenger (Gießen), Zur Zukunft der europäischen
Stadt

Urbanisierung und Suburbanisierung
12.09.2006: Meik Woyke (Hamburg), Einfamilienhausidyllen,
Shopping-Center, Golfplätze. Grundzüge der interdisziplinären
Suburbanisierungsforschung und erfahrungsgeschichtliche Perspektiven
12.09.2006: Anne Pfeifer (Zürich), Schrumpfung - Ende der Urbanisierung
und Neuschöpfung des Urbanen

Wandelnde Konzepte der Stadtentwicklung
13.09.2006: Wolfgang Sonne (Glasgow), Kultur der Urbanität. Die dichte
Stadt im 20. Jahrhundert
13.09.2006: Sonja Hildebrandt (Zürich), Urbane Schweiz. Urbanistische
Konzepte für die Schweiz von 1930 bis heute

Kulturtheoretische Überlegungen
14.09.2006: Moritz Föllmer / Habbo Knoch (Berlin), Grenzen und urbane
Modernität. Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte städtischer
Interaktionsräume
14.09.2006: Kirsten Wagner (Berlin), Die visuelle Ordnung der Stadt. Das
Bild der Stadt bei Kevin Lynch

Stadt und Kommunikation
15.09.2006: Pe-Ru Tsen (Berlin), Electronic Markets and the City
15.09.2006: Oliver Frey (Wien), Ein neuer Stadttypus in der
Wissensgesellschaft: Die amalgame Stadt der kreativen Milieus
15.09.2006: Stefan Haas (Toronto), Designing a Virtual Habitat.
Sinngenerierung in posturbanen Migrantenstädten am Beispiel Torontos

Quellennachweis:
FORUM: Editorial: Das Ende der Urbanisierung?. In: ArtHist.net, 11.09.2006. Letzter Zugriff 15.01.2025. <https://arthist.net/archive/28467>.

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