Das Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 32 (2005), ist
erschienen. Wir möchten Sie auf den Inhalt aufmerksam machen.
Aufsätze
Kilian Heck
Die Bezüglichkeit der Kunst zum Leben. Franz Kugler und das erste
akademische Lehrprogramm der Kunstgeschichte (S. 7-16)
Mit seinem bislang unveröffentlichten "Plan über wissenschaftliche
Vorlesungen für Künstler" legte Franz Kugler im Jahre 1833 ein erstes
Lehrprogramm der Kunstgeschichte vor. In dieser Ausbildungsordnung wird
der phänomenologisch-hermeneutischen Sachforschung gegenüber allen Formen
philosophisch-ästhetischer Theoriebildung der Vorrang eingeräumt. Die
weitere Entwicklung der akademischen Kunstgeschichte als empirische
Wissenschaft scheint in starkem Maße von diesem Ursprung bestimmt zu sein.
Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch der soziale
Funktionsbegriff, der sich aus der empirisch orientierten akademischen
Lehre entwickelt hat. Kuglers Lehrprogramm beruhte auf dem um 1830 gerade
in Berlin breit diskutierten Modell der Kulturlandschaft als Staatsidee,
wie es vor allem von Karl Friedrich Schinkel und Wilhelm von Humboldt
vertreten wurde.
Rita Amedick
Dornauszieher. Bukolische und dionysische Gestalten zwischen Antike und
Mittelalter (S. 17-51)
Dornauszieherfiguren sind prominente Beispiele für die Rezeption antiker
Motive im Mittelalter. Der Beitrag versucht, einen möglichst vollständigen
Überblick über die umfangreiche monumentale und literarische Überlieferung
des Motivs in Antike und Mittelalter zu geben. In der bildenden Kunst sind
mehrere Fassungen bekannt; neben Einzelfiguren gibt es auch zweifigurige
Gruppen. Die weitgehenden typologischen Übereinstimmungen zwischen antiken
und mittelalterlichen Figuren sprechen für eine ungebrochene Tradierung
des Motivs. Dem entsprechen die literarischen Zeugnisse beider Epochen, in
denen Dornauszieher als Gestalten einer dionysisch-bukolischen Welt
begegnen. Dabei werden entweder die lieblichen Züge eines schönen
Hirtenjungen oder die groben Züge eines tölpelhaften "rusticus" hervorgehoben.
Jeanette Kohl
"Ercole adorno della pelle del leone". Genealogiekonstruktionen eines
Renaissance-Condottiere (S. 53-72)
Unter den Grabkapellen des Quattrocento nimmt die des venezianischen
Condottiere Bartolomeo Colleoni durch Art und Umfang ihres aufwendigen
Bildprogramms eine herausragende Stellung ein. Als Ruhmesdenkmal "pro
gloria imperatoris" und "pro redemptione animae" konzipiert, entfaltet die
Kapelle eine differenzierte bildliche Rhetorik, die den Auftraggeber mit
einer ambitionierten Ahnenreihe (Herkules, Cäsar, Trajan, Alexander der
Große) versieht. Colleoni läßt sich einerseits als Glied einer
genealogischen Kette herrscherlicher "Spitzenahnen" darstellen, zugleich
jedoch wird seine Überlegenheit über die antiken Tugend- und Kriegshelden
inszeniert. Der Beitrag untersucht die Motivationen und Ausprägungen der
genealogischen Stilisierungen sowie die scheinbar gegenläufigen Strategien
der Authentifizierung, die dem "self-fashioning" eines unter
Legitimationsdruck stehenden Territorialfürsten in Historiographie und
Ikonographie zugrunde liegen.
Tanja Michalsky
"Conivges in vita concordissimos ne mors qvidem ipsa disivnxit". Zur Rolle
der Frau im genealogischen System neapolitanischer Sepulkralplastik (S. 73-91)
Am Beispiel einiger neapolitanischer Ehepaargrabmäler aus der Zeit um
1500, die Mann und Frau gemeinsam darstellen und die eheliche Liebe
preisen, werden sowohl die repräsentative Funktion der Monumente sowie
zeitgenössische Ehekonzepte diskutiert. In einer Zeit ständiger
Machtwechsel in der Residenzstadt Neapel entstanden, geben die gewählten
Beispiele Aufschluß über die konkrete Intention, die mit der Wahl
bestimmter Grabtypen verbunden war. Die genealogische Denkform des Adels
benötigte offensichtlich in prekären Situationen das Bild vom weiblichen
Körper als Gelenkstelle zwischen sozialem System und dessen historisch
konkreter Materialisierung. Zu diesem Zweck wurden sepulkrale Formen
geschaffen, die das omnipräsente Modell der Genealogie im alltäglichen
Machtkampf gleichberechtigter Familien effektiv zu nutzen erlaubten.
Peter Lüdemann
"Pennati comites linquere cubilia Divae". Beobachtungen zu Giorgiones
'Schlafender Venus' (S. 93-116)
Giorgiones Darstellung der schlafenden Liebesgöttin schien lange Zeit eine
ikonographische Neuschöpfung zu sein. Lediglich in spätantiken
Brautgedichten hat sich bislang eine Erwähnung des Motivs nachweisen
lassen, aber die dort geschilderten Szenen unterscheiden sich erheblich
vom Darstellungsgegenstand des Bildes. Jedoch könnten frühneuzeitliche
Beispiele dieser im 15. und 16. Jahrhundert fortgeschriebenen Gattung das
Thema des Gemäldes vorweggenommen haben: So beweist ein Epithalamium des
Mantuaner Dichters Alessandro Rodolfini (das mehrere Gemeinsamkeiten mit
Giorgiones Werk aufweist), daß in den Brautgedichten des Humanismus der
Schlaf der Venus erneut eine Rolle gespielt hat. Die Erotik des liegenden
Frauenaktes dürfte daher die legitime "voluptas" der Ehefrau
widerspiegeln, die in den zeitgenössischen Epithalamia stets hervorgehoben
wird.
Michael Thimann
Erinnerung an das Fremde: Jean Jacques Boissards Trachtenbuch für Johann
Jakob Fugger. Zu Provenienz und Zuschreibung der Bildhandschrift Cod. Oct.
193 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar (S. 117-148)
Die Anna Amalia Bibliothek in Weimar verwahrt die umfangreiche
Bildhandschrift eines Trachtenbuches, die dem Humanisten und Antiquar Jean
Jacques Boissard (1528-1602) zugeschrieben werden kann. Boissard hatte die
Zeichnungen zwischen 1556 und 1559 während seiner ausgedehnten Reisen
durch Italien und den Mittelmeerraum angefertigt. Als Geschenk an Johann
Jakob Fugger gelangte die Bildhandschrift nach Augsburg und 1571 in die
Münchener Kunstkammer. Das Trachtenbuch wird im Kontext der antiquarischen
Projekte Boissards untersucht und sein wissenschaftsgeschichtlicher Status
als frühes Dokument einer empirisch fundierten Ethnographie analysiert.
Als ein in diesem Sinn naturwissenschaftliches Werk belegt das
illustrierte Kostümbuch die vielseitigen Interessen des Zeichners
Boissard, dessen graphisches Frühwerk, etwa im Vergleich mit Melchior
Lorck, auch in kunsthistorischer Perspektive gewürdigt wird.
Tomaso Montanari
Una nuova fonte per l'invenzione del corpo di Santa Cecilia: testimoni
oculari, immagini e dubbi (S. 149-165)
In un manoscritto Chigi della Biblioteca Vaticana è contenuta una
relazione del famoso rinvenimento del corpo di santa Cecilia, avvenuto nel
1599, che contiene la prima testimonianza grafica al riguardo. Il disegno
mostra un corpo femminile normalmente disteso sul fondo di una bara aperta
dall'alto, con le gambe stese, le mani raccolte in grembo e il viso ed i
capelli che traspaiono distintamente attraverso un velo: un'immagine che
non ha niente a che fare con la statua di Maderno, né con i celebri
referti dei testimoni oculari. L'articolo pubblica integralmente e discute
il nuovo documento visivo, inserendolo nel complesso contesto documentario
e bibliografico relativo alla scoperta del corpo di Cecilia e alla sua
rappresentazione artistica.
Christina Strunck
Ein Machtkampf zwischen Florenz und Pisa. Genealogische Selbstdarstellung
der Medici in der Pisaner Ordenskirche Santo Stefano dei Cavalieri (S.
167-202)
Am Beispiel der Dekoration von Santo Stefano dei Cavalieri lassen sich die
Strategien aufzeigen, mit deren Hilfe die Medici-Großherzöge ihre Präsenz
im einst republikanischen Pisa zu demonstrieren und zu legitimieren
suchten. Bislang unbekannte Quellen dokumentieren Kooperation und
Konflikt, ja ein regelrechtes ikonographisches "Tauziehen" zwischen dem
nach Autonomie strebenden Stefansorden und seinem Medici-Großmeister im
Zeitraum 1601-1614. Der Beitrag analysiert die verschiedenen Stadien der
Programmgenese; dabei wird untersucht, welche Rollen Hof, Künstler und
Geldgeber in den komplexen Entscheidungsprozessen spielten und welche
politische Funktion genealogischen Argumentationsmustern im Kirchenraum zukam.
Eckhard Leuschner
"Une Histoire telle que celle-ci, qui tient un peu du Roman". Allegorie
und Historie in Antonio Tempestas 'Infanten von Lara' und bei André
Félibien (S. 203-243)
Der Beitrag untersucht Entstehungsbedingungen und Ikonographie der
'Infanten von Lara', einer Serie des Antonio Tempesta, die 1611/12 in
Zusammenarbeit mit Otto van Veen entstand. Besonderes Augenmerk gilt der
sogenannten gemischten Kompositionsform, also der Gleichordnung von
historischen und allegorischen Figuren. Die 'Infanten' werden als eines
der bedeutendsten Beispiele für diese Erzählweise zwischen der
italienischen Renaissance und dem Medici-Zyklus von Rubens herausgestellt.
Der zweite Teil des Artikels analysiert André Félibiens Erörterung von
Tempestas Serie im Kontext von Verwendungen der gemischten
Kompositionsform bis ca. 1680. Gezeigt wird, daß Félibien Tempestas
Radierwerk nicht zuletzt deshalb in aller Ausführlichkeit bespricht, um
Rubens Fehler bei der Verwendung allegorischer Elemente nachweisen zu können.
Maarten Delbeke
Gianlorenzo Bernini as "la fenice degl'ingegni", or the history of an
epithet (S. 245-253)
According to Domenico Bernini's biography of his father Gianlorenzo,
Bernini was called "fenice degl'ingegni" by Sforza Pallavicino, the Jesuit
and Cardinal at the court of Alexander VII. The history of this epithet up
to that point, most notably the fact that Sforza Pallavicino himself had
been similarly famed in the days of Urban VIII, suggests that Domenico
made the attempt not only to transfer Pallavicino's reputation to Bernini,
but also to bestow upon Bernini's work the dignity of being the prime
endeavour of the Alexandrine era. Domenico's text fits into a wider debate
on the relative merits of art, poetry, philosophy, or sciences to bring
about a new Golden Age.
Stefan Morét
Ein deutscher Maler des 18. Jahrhunderts in Rom. Zeichnungen von Anton
Clemens Lünenschloß für den Concorso Clementino der römischen Accademia di
San Luca im Jahre 1706 (S. 255-270)
Der Maler Anton Clemens Lünenschloß verbrachte fast 20 Jahre in Italien,
bis er 1719 an den Würzburger Hof berufen wurde. Einige Zeichnungen aus
seinem Nachlaß in Würzburg können mit der Teilnahme am Concorso Clementino
der römischen Accademia di San Luca von 1706 verbunden werden, bei dem der
Künstler einen ersten Preis gewann. Doch ist sein Wettbewerbsbeitrag (im
Gegensatz zur Mehrzahl der prämierten Zeichnungen) im Akademiearchiv nicht
erhalten. Durch Auffindung und Identifikation eines Kompositionsentwurfes
und weiterer Einzelstudien kann diese Überlieferungslücke nun geschlossen
und beispielhaft die Arbeitsweise eines Künstlers im Ambiente der in jenen
Jahren maßgeblich von Maratti geprägten Akademie verdeutlicht werden.
Ralf Michael Fischer
"... a pleasant atmosphere in which to work". Wechselwirkungen zwischen
Schein und Sein im filmischen Raum von Stanley Kubricks 'Paths of Glory'
(USA 1957) (S. 271-312)
Die Analyse ausgewählter Sequenzen in Stanley Kubricks "Paths of Glory"
will die zentrale Rolle des filmischen Raums für die Interpretation des
Films erhellen. Anhand der Einbindung des Neuen Schlosses Schleißheim in
das Raumkonzept sowie der Inszenierungs-, Kamera- und Montagestrategien
wird gezeigt, daß weniger der Krieg gegen einen externen Feind im
Mittelpunkt der Handlung steht; statt dessen widmet sich Kubrick der
Darstellung der paradoxen Grundlagen eines hierarchischen,
gefängnisartigen Systems, das durch Intrigen, Inszenierungen und
(Selbst-)Täuschungen am Leben erhalten wird. Die damit verknüpfte
Wechselwirkung von Räumen des Scheins und des Seins umfaßt auch die
Reflexion unterschiedlicher Kunstkonzepte und ihrer Wirkungspotentiale.
Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft. Marburg: Verlag des
Kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg. ISSN
0342-121X
Internetseite:
http://www.uni-marburg.de/fb09/khi/forschung/zeitschriften1/jahrbuch/index_html
Redaktion Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft
Philipps-Universität Marburg
Kunstgeschichtliches Institut
Biegenstr. 11
35037 Marburg / Lahn
E-Mail: kieferfotomarburg.de
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Quellennachweis:
TOC: Marburger Jahrbuch, Bd. 32 (2005). In: ArtHist.net, 07.04.2006. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/archive/28138>.