x-post H-GERMANISTIK
Die Redaktion und die Herausgeber des "Archiv für Mediengeschichte"
(Lorenz Engell, Joseph Vogl und Bernhard Siegert) laden ein, bis zum
31.12.2005 Textvorschläge für das Heft 2006 einzureichen, die sich mit
folgendem Themenschwerpunkt befassen:
Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa)?
In der Nachfolge Cassirers und Foucaults scheint sich seit den 80er Jahren
ein Erbfolgekrieg um den seit der Abdankung einer "Kritik der Vernunft"
vakanten Thron des Transzendentalen abzuspielen. Seit der Renaissance der
Disziplin Kulturwissenschaft in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts
treten Kulturgeschichte und Mediengeschichte dabei in einer Allianz auf,
die sowohl die Form der Intrige als auch des Zweckbündnisses haben kann.
Symptomatisch scheint in jedem Fall zu sein, dass in dieser Allianz der
Kulturbegriff wie auch der Medienbegriff von den verschiedenen Seiten in
Anspruch genommen wird, die Grundlage jedoch, auf der dies jeweils
geschieht, im Dunkeln gelassen wird.
Ausgehend von dieser Beobachtung diskutiert die nächste Ausgabe des Archiv
für Mediengeschichte (2006) daher die verschiedenen
wissenschaftstheoretischen, methodologischen oder historischen
Figurationen, in denen das Verhältnis von Mediengeschichte und
Kulturgeschichte zu denken und zu beschreiben wäre. Untrennbar verbunden
mit dieser Frage ist die Frage nach der Ebene, auf der das Verhältnis von
Kultur und Medien selbst anzusiedeln ist: auf der Ebene beobachtbarer
(historischer) Realität oder auf der Ebene des Beobachters. Zwar haben
Kunst- und Kulturwissenschaftler regelmäßig auf die mediale Vermittlung
von Kultur als ein wesentliches Element des Kulturbegiffs selbst
hingewiesen. Andererseits haben Autoren mediengeschichtlicher Studien
diese oftmals als Exempel einer medienhistorisch orientierten
Kulturwissenschaft ausgegeben. Aber sowohl die Verfasser von
Mediengeschichte(n) als auch die Verfasser von Kulturgeschichte( n)
umschiffen regelmäßig die Auseinandersetzung mit der Frage, welcher Art
die Relation zwischen Medien- und Kulturgeschichte ist. Enthält die
Kulturgeschichte die Geschichte der Medien oder umgekehrt? Beerbt die
Mediengeschichte die Kulturgeschichte?
Stehen sie nebeneinander, übereinander oder überkreuz? Dient die eine zur
Beobachtung der anderen? Die seit langem etablierten Begriffe Buchkultur,
Briefkultur, Computerkultur, digitale Kultur lassen eine Pluralität von
Kulturen erscheinen, die sich offenbar durch die Beobachtung der einem
bestimmten Medium (Buchdruck, Brief, Computer) zugeschriebenen sozialen,
ökonomischen, kunstgeschichtlichen, wissenschaftsgeschichtlichen usw.
Effekte definieren. Umgekehrt scheint es außer Zweifel zu stehen, dass
Medieninnovationen ihrerseits kulturell bedingt sind. Das Archiv für
Mediengeschichte 2006 lädt zu historischen wie systematischen
Untersuchungen dieses Themenkomplexes ein, wobei Einzelfallanalysen ebenso
willkommen sind wie theoretische und methodologische Auseinandersetzungen,
für die u. a. folgende Schwerpunkte und Perspektiven vorgeschlagen werden:
1. Kultur- oder Medienanthropologie? Cassirers neokantianischer Formel:
"Die Kritik der Vernunft wird zur Kritik der Kultur" steht seit dem
Auftreten einer an Foucault orientierten Mediengeschichtsschreibung eine
alternative Formel zur Seite: "Die Kritik der Vernunft wird zur Kritik der
Medien." Heißt Mensch sein, unter den Bedingungen der Möglichkeit von
Kultur leben oder unter den Bedingungen der Möglichkeit von Medien leben?
Sind Medien Teil der Kultur oder ist Kultur die besondere Art und Weise
wie durch Medien bestimmte Handlungen, Kommunikationen und
Erwartungserwartungen bobachtbar werden? Ist die Medienkritik Erbin der
Kulturkritik?
2. Kunstgeschichte und Mediengeschichte. Längst ist die Kunstgeschichte in
eine produktive Auseinandersetzung mit der Mediengeschichte eingetreten.
Seit die Kunstgeschichte begonnen hat, Methoden und Sichtweisen der
Kulturwissenschaft ihren eigenen Untersuchungen zugrunde zu legen,
erscheint die Geschichte der bildenden Kunst als Ergebnis der
Ausdifferenzierung kultureller Bildpraktiken. Damit ist die
Kunstgeschichte in einen - sowohl was ihre Gegenstände als auch was ihre
Theorien und Methoden betrifft - erweiterten Kontext eingetreten, in dem
sie sich in einem Spannungsfeld zwischen Kulturwissenschaft und
Medienwissenschaft wiederfindet. Der Kunstgeschichte kommt daher mit ihrem
erweiterten Aufgabengebiet in der Frage nach dem Verhältnis von Kultur-
und Mediengeschichte möglicherweise eine Schlüsselfunktion zu. In diesem
Kontext wäre auch eine neuerliche Diskussion des Ritual-Begriffs unter
medientheoretischen und medienhistorischen Perspektiven angezeigt.
3. Wissenschaftsgeschichte als Mediengeschichte/Mediengeschichte als
Wissenschaftsgeschichte. Mit ihrer Entteleologisierung des
wissensgeschichtlichen Prozesses, der Abkehr von der Geschichte der
Theorien und der Hinwendung zu den konkreten Praktiken der Konstruktion
wissenschaftlicher Tatsachen ist die neuere Wissenschaftsgeschichte seit
Latour, Woolgar, Rheinberger, Galison u. a. in eine komplizierte Beziehung
zur Kulturgeschichte einerseits, zur Mediengeschichte andererseits
eingetreten. Der Begriff "Experimentalkultur" will deutlich machen, dass
Wissenschaftsgeschichte Teil der/einer Kulturgeschichte ist, die wiederum
beispielsweise als Geschichte von Visualisierungsstrategien und -techniken
greifbar wird. Eine Beschreibung dieser Visualisierungstechniken und
-strategien als Medien und damit eine Klärung der Beziehung zwischen dem
Prozess der Wissensformation und der epistemologischen Leistung der
Medien, ist indes stets nur punktuell und bislang noch nicht systematisch
erarbeitet worden.
4. Systemtheorie. Versteht man unter Kultur die Bedingungen, unter denen
Handlungen, Rollen und Systeme beobachtbar sind, was sie einschließen, wie
auch das, was sie ausschließen, erscheint Kultur selbst als Medium: als
Medium der Beobachtung, das auf die Ebene des Beobachteten durchschlägt.
Kultur als Begiff eines Beobachters zweiter Ordnung, schließt dann
Kommunikationen und ihre Reproduktionsformen ein, insofern diese unter dem
Aspekt auf ihre Selektivität, Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit
beobachtbar werden, wobei die Performanz dieser Kommunikationen etc.
immerschon ihre Beobachtung voraussetzt - das, was beobachtbar ist, ist
also rückgekoppelt mit dem Akt des Beobachtens selbst. Auf diese Weise
"emgieren" Kulturen stets im Modus ihrer eigenen Dekonstruktion; ihre
Umweltblindheit ist eine gespielte, ihre Selektivität eine zitierte, ihre
Kontingenz eine selbstgewisse. Lässt sich eine solche Beschreibung von
Kultur als Medium selbst an historische bzw. mediale Bedingungen knüpfen?
5. Dekonstruktion. Das Projekt der Kulturgeschichte wurde bereits um 1900
von Historikern mit Metaphern und Denkfiguren beschrieben, in denen man
heute die Arbeit einer Dekonstruktion der Geschichte erkennen kann, setzte
der Diskurs der Kulturgeschichte doch stets den Ausfall des
transzendentalen Signifikats der Geschichte, ihre ontologisch gedachte
arrativität, voraus. Was sich nicht erzählen lässt, ist nicht historisch,
allenfalls statistisch. Inwiefern ist also Kulturgeschichte
konstitutionell einer medialen Historiographie zugewandt, die eine
statistische Auswertung gesammelter Daten favorisiert? Ist die "Spur" als
Figur historischer Evidenz ein gemeinsamer Nenner von Kultur- und
Mediengeschichte und trotzdem beiden entzogen? Beiträge zu diesen und
weiteren Aspekten des Themas "Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder
vice versa)" sind höchst willkommen. Die Herausgeber und die Redaktion
bitten zunächst um Textvorschläge, die mit einem Kurztext (1000 Zeichen)
bis zum 31. 12. 2005 bei der Redaktion des Archiv für Mediengeschichte -
Dr. Markus Krajewski, Fakultät Medien, Bauhaus Universität Weimar,
markus.krajewskimedien.uni-weimar.de -
eintreffen sollen. Ausgearbeitete Beiträge sollten einen Umfang von 30.000
Zeichen nicht überschreiten und bis spätestens April 2006 vorliegen.
Zu einer Übersicht der bisherigen Ausgaben des Jahrbuchs vgl. auch
www.uni-weimar.de/medien/philosophie/publikationen/afmg.htm
Insbesondere sei auf die jüngste, noch druckfrische Ausgabe des "Archiv
für Mediengeschichte" hingewiesen, die sich dem Thema "Wolken" widmet.
Kontakt:
Bauhaus-Universität
Dr. Markus Krajewski
Fakultät Medien
Bauhausstrasse 11
99423 Weimar
03643.583840
03643.583791
markus.krajewskimedien.uni-weimar.de
Quellennachweis:
CFP: Archiv für Mediengeschichte, Heft 2006 (31 Dec 05). In: ArtHist.net, 16.12.2005. Letzter Zugriff 09.05.2025. <https://arthist.net/archive/27771>.