Tagung "Totenkulte"
Graduiertenkolleg "Die Figur des Dritten"
Universität Konstanz
Fachbereich Literaturwissenschaft, Konstanz
12. - 14. Januar 2005, Universität Konstanz, Senatssaal, V 1001
Wie die Lebenden mit den Verstorbenen umgehen, gibt wichtige Hinweise
auf die Ordnung einer Gesellschaft. Auch wenn Verwandte, Freunde,
öffentliche Personen oder Fremde mit ihrem Tod "von uns gehen", bleiben
sie doch im sozialen Leben präsent. Die Lebenden schaffen kultische und
rituelle Formen der Begegnung mit den Toten: Man erzählt von
verstorbenen Menschen in Legenden, Geschichten und Alltagsgesprächen,
gibt ihnen einen Platz im Kalender, glaubt sie durch Magie beschwören
und bannen zu können, bewahrt ihr Andenken in Bildern und Filmen,
besucht ihre Gräber oder gedenkt ihrer an besonderen Gedächtnisorten,
ersetzt sie durch Masken oder Totemzeichen. Manche Tote werden in
besonderer Weise erinnert: Man widmet ihnen Nachrufe und Biografien,
feiert ihre Geburts- und Todestage, verehrt sie als Heilige oder
kanonisiert sie als Klassiker. Andere werden dagegen rasch vergessen
oder bewusst aus dem kollektiven oder kul-turellen Gedächtnis
ausgeschlossen. Von der Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten
hängt Vieles ab: die Selbstdeutungen von Individuen und Gemeinschaften,
ihr Verständnis von Tradition, Erbe und historischer Verantwortung, die
sozialen Beziehungen der Lebenden untereinander, die Kontinuität ihrer
Normen, Institutionen und Symbole.
Die vom Konstanzer Graduiertenkolleg "Die Figur des Dritten"
veranstaltete Tagung "Totenkulte" wird Umschlagplätze in Augenschein
nehmen, in denen der Austausch zwischen den Anwesenden und Abwesenden
stattfindet. Diese Kontaktnahmen treiben vielfältige "Figurationen des
Dritten" hervor: dritte Räume jenseits der Opposition von Diesseits und
Jenseits, Medien, welche die Kluft zwischen dem Reich der Lebenden und
dem der Toten überbrücken sollen, Zwischenwesen, die sich der
eindeutigen Zuordnung zu einer der beiden Welten entziehen, schließlich
spezifische Zeiten des Übergangs von der einen Ordnung in die andere wie
der Vergegenwärtigung der Toten durch die Lebenden.
Auch die Literatur bildet eine Art "Zwischenreich", in dem die
Opposition von Leben und Tod selbst zur Disposition steht. In ihr
vollziehen sich Prozesse der Mortifikation und der Verlebendigung und
geben sich zugleich als solche zu lesen. Als eine Form des Totenkults
lässt sich schließlich auch die Literaturwissenschaft begreifen: Was
wäre sie ohne die "großen Toten" der Literatur? In den Kanon aufgenommen
und zur wissenschaftlichen Exploration freigegeben wird ein
literarischer Textkorpus in der Regel erst dann, wenn der Verfasser
nicht mehr lebt. Kanonisch gewordene Autoren sind Tote, die von den
Lesern, der Wissenschaft, den Verlagen oder den Medien immer wieder von
Neuem heraufbeschworen und somit buchstäblich am Leben erhalten werden.
Die Tagung richtet ihr Augenmerk auf literarische und nichtliterarische
Praktiken, die diese Zwischenräume, -wesen und -zeiten verwalten und
gestalten. Dazu sollen unterschiedliche Rituale und
Repräsentationsformen kulturwissenschaftlich analysiert und zugleich die
Bedeutung von Totenkulten für die Konstitution sozialer Ordnungen
untersucht werden. Die Tagung ist interdisziplinär ausgerichtet und soll
neue Konzepte literatur- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung und
Praxis exemplarisch erproben.
Sektion 1: Grabmale
Grabmale geben der Erinnerung an das Leben und Sterben von Herrschern,
Dichterfürsten, Märtyrern oder Kriegshelden einen architektonischen
Raum. In ihnen manifestiert sich der Anspruch auf bleibende Würdigung
und Wirkung; ihr symbolischer Gehalt macht sie zu Umschlagplätzen
individueller wie kollektiver Sinndeutungen. So dienen Grabmale oftmals
nicht nur einer letzten Selbstdarstellung der Toten sondern auch einer
Selbstverständigung der Lebenden unter- und übereinander. Was geben
Grabmale zu sehen und zu lesen über die Toten, an deren Stelle sie
gesetzt sind und über die Lebenden, von denen sie in Dienst genommen
werden? Wie inszenieren sie "Bedeutsamkeit", auf welche Weise stiften
sie "Traditionen"? Welcher politische Wille kommt in den Monumenten und
den Ritualen ihrer Nutzung zum Ausdruck, welche Legitimierungsstrategien
verbergen sich darin?
Sektion 2: Erzählte Tode
Der Tod markiert eine Grenze des Erzählens und setzt dieses zugleich in
Gang. Der erzählte Tod zeichnet sich dadurch aus, dass er zwangsweise
unvollkommen bleibt und als solcher auch wahrgenommen werden muss.
Welche literarischen Darstellungsformen, welche Topologien, Motiviken,
Rhetoriken und Poetiken zeitigt dieses Dilemma? Welche
(literaturwissenschaftlichen, anthropologischen, politischen usw.)
Bedürfnisse drücken sich darin aus?
Sektion 3: Tote Körper
Wenn ein Mensch stirbt, "hinterlässt" er einen toten Körper. Von den
Lebenden wird dieser bestimmten Riten unterzogen, die der Erinnerung,
der Reinigung, der Heiligung oder Verewigung dienen. Dabei kommt es zu
Bewegungen der Verdinglichung und Verlebendigung: Aus einer leibhaftigen
Person wird ein toter Körper, der begraben, verbrannt, konserviert oder
ausgestellt wird. Zugleich können unbelebte Objekte (Reliquien, Bilder,
Artefakte) den Status von Subjekten erhalten, Verstorbene verkörpern
oder Verbindung zu ihnen herstellen. Welche Kontinuitäten und
Diskontinutitäten von Leben und Tod werden durch diese Prozesse
hergestellt? Wie werden diese medial inszeniert und perspektivisch
vermittelt? Durch welche Normen, Interessen und Tabus ist der Umgang mit
dem toten Körper bestimmt?
Sektion 4: Lebende Tote
Lebende Tote oder tote Lebende sind bedrohliche Oxymora. Sie erschüttern
die vermeintlich eindeutigen Trennlinien zwischen Tod und Leben. Zwar
kennt man die Vorstellung einer Übergangsschwelle (Sterben, Geburt),
verbleibt aber ein Wesen auf dieser Schwelle, wirkt dies zumeist in
hohem Maße beunruhigend. Untote, Zombies oder Vampire ängstigen und
faszinieren die Lebenden, die ihnen einen unbefriedeten Platz in
verfemten, oftmals arkanen Zwischenwelten zuweisen. Welche Rolle nehmen
diese dritten Räume und Figurationen in unterschiedlichen kulturellen
Topografien ein? Welche Bedeutung besitzen sie für die (Neu-) Bestimmung
der Grenzen zwischen Lebenden und Toten? Ist die
Literatur(-wissenschaft) mit ihren Prozessen der Kanonisierung,
Mortifizierung und "Wiederbelebung" selbst eine lebende Tote?
Sektion 5: Erbschaften
Der Tod begründet eine Hinterlassenschaft, in deren Spur Figuren des
Dritten entstehen - sei es als Restbestände, als Formen des Überlebens
oder als Kritik am Vorangegangenen. So stehen auch die Normen und
sozialen Ordnungen im Zeichen eines Vorgängigen, zu dem sie sich teils
subversiv, teils pflegend und bewahrend verhalten. Ist der Tod also
konstitutiv für den Fortbestand einer Gemeinschaft? Welche Möglichkeiten
eröffnet er, was wird durch ihn sanktioniert? Worin besteht seine
autoritative Kraft? Was bedeutet im Gegenzug der Tod der Autoritäten
(Gott, Vater, Herrscher) für die Praxis einer Gemeinschaft? Wer sind die
"großen Toten" der Gegenwart und welche Formen des Kultes haben wir
ihnen gewidmet? Welches Erbe haben sie uns hinterlassen, welche
Erbschaften nehmen wir an bzw. schlagen wir aus?
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Programm
Mittwoch, 12. Januar
Vormittag
9.00 h Albrecht Koschorke Begrüßung und Einführung
Sektion 1: Grabmale
9.30 h
Olaf Rader, Neuer Sinn aus alten Knochen. Zur Konstruktion
kollektiver Erinnerungen durch Gräberkulte
10.30 h
Philipp Zitzlsperger, Das Grabmal als Zukunftsinvestition.
Papst- und Kardinalsgräber im Rom der Frühneuzeit
Pause
12.00 h
Patrick Eiden, Der Tod des Vergil: Beerbung und Beerdigung einer
Tradition
13.00 h Mittagspause
Nachmittag
Sektion 2: Erzählte Tode
14.30 h
Haiko Wandhoff, Im Mausoleum des Textes: Zur Inszenierung des
Todes in mittelalterlichen Grabmalbeschreibungen
15.30 h
Nikita Sedov, Die Lethargie des Textes und der Kommentar als
Wiederbelebung in N. Gogols Dramen
Pause
17.00 h
Tobias Weber, "I began with the desire to speak with the dead" -
Stephen Greenblatts Unterhaltung mit den Toten
Donnerstag, 13. Januar
Vormittag
Sektion 3: Tote Körper
9.00 h
Christiane Arndt, Die Reproduzierbarkeit des Todes -
Leichenphotographie im 19. Jahrhundert
10.00 h
Eva Blome/Johanna Offe, Der Tod als Spiegel des Lebens. Der
anatomisch-klinische Blick in der Ausstellung "Körperwelten"
Pause
11.30 h
Volker Gottowik, Vergegenwärtigte Ahnen. Aspekte des
Maskenwesens auf Bali
12.30 h Mittagspause
Nachmittag
Sektion 4: Lebende Tote
14.30 h
Brigitte Weingart, Repräsentationen des Todes im AIDS-Diskurs
15.30 h
Martin Zillinger, Besessen von Leben und Tod: Dämonen- und
Heiligenkulte in Marokko
Pause
17.00 h
Tobias Wendl, Nollywood Zombies - Zur Ikonografie der Lebenden
Toten in westafrikanischen Horrorvideos
19.00 h Abendvortrag:
Klaus-Peter Köpping, Kultischer Selbstmord in Japan zwischen Bühne und
Leben
Freitag, 14. Januar
Vormittag
Sektion 5: Erbschaften
9.00 h
Petra Gehring, "Eigenes" Lebensende von fremder Hand? Geschichte
und Aktualität der Sterbehilfe-Paradoxie
10.00 h
Konstanze Baron, Heilige Bündnisse über den Tod hinaus.
Emmanuel Levinas als Philosoph des Testaments
Pause
11.30 h
Nacim Ghanbari, Totenglocken: Was von Hegel bleibt.
Mittagsimbiss
12.30 h
Abschlussvortrag:
Burkhard Gladigow, Dauer des Todes und Zahl der Toten. Normative
Implikationen expandierender Jenseitsvorstellungen
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Graduiertenkolleg "Die Figur des Dritten"
Dr. Ulrich Bröckling
Wissenschaftlicher Koordinator
Universität Konstanz
Fachbereich Literaturwissenschaft
Fach D 153
78457 Konstanz
Tel.: 07531/88-2537
Mail: Ulrich.Broecklinguni-konstanz.de
Homepage <http://www.uni-konstanz.de/figur3/>
Reference:
CONF: Totenkulte (Konstanz, 12.-14. Jan 2005). In: ArtHist.net, Dec 3, 2004 (accessed Dec 17, 2025), <https://arthist.net/archive/26870>.