CONF Jan 30, 2002

Lebensreform, 19.01.02, Darmstadt

Ulrich Pfarr

Bericht zum Symposium
"Experiment Leben. Die Permanenz der Lebensreform"
(Darmstadt, 19. Januar 2002)

im Rahmen der Ausstellung
"Die Lebensreform. Entwuerfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (
bis 10. Maerz 2002)

Institut Mathildenhoehe
Sabaisplatz 1
D-64287 Darmstadt

http://www.dielebensreform.de

-----------------------------------------------------

"Experiment Leben" geglueckt?

"Vier grosse Illusionen", die Dietrich Brants mit den Stichworten Natur,
Schoenheit, gutes Leben und Sinnstiftung umriss, hatte man sich in Darmstadt
vorgenommen. Der Aktualitaet dieser Verheissungen der deutschen
Reformbewegung um 1900 galt ein Gespraechsforum des Instituts Mathildenhoehe
zur gegenwaertigen Ausstellung "Die Lebensreform"

Im letzten Referat wurde das gesamte Anliegen verworfen: Gentests und
Praeimplantationsdiagnostik veranlassten Barbara Duden zu dem Postulat eines
radikalen Schnitts, der uns heute vom Optimismus der Reformer vor 100 Jahren
trenne. Bereits das ungeborene Leben sei keine Angelegenheit des Hoffens
mehr, sondern werde als "risikobehafteter genetischer Anlagetraeger"
betrachtet. Peter Weingart wies dies als "antizivilisatorischen" Impuls
zurueck. Ein konturiertes Bild der Auswirkungen moderner Eugenik blieb sein
Plaedoyer schuldig.

Joachim Radkau und Uwe Fritsch resuemierten, erst die Verwissenschaftlichung
der Oekologiebewegung habe messbaren Nutzen fuer Oekosysteme und
Lebensqualitaet erbracht. Artenschutz sei keine "Frage der Liebe" mehr,
sondern Gegenstand nuechterner Verwaltungsvorgaenge. Die Sorge um
Umweltprobleme denunzierte Radkau als Produkt einer im alternativen Milieu
grassierenden Angst vor dem Aelterwerden. Dagegen verwies eine Hoererin auf
das sinnliche Erleben, das die fachkundige Sensibilisierung fuer
oekologische Merkmale des heimischen Waldes eroeffnen koenne. Martin Dinges
hob die Aktualitaet ethischer Begruendungen des Vegetarismus hervor, stellte
allerdings die Naturheilkunde unter den Verdacht des Irrationalen, da sie in
Reinheitsvorstellungen und romantischen Gleichgewichtslehren wurzele. Die
Diskussion um Bilder leidender Natur, die in der Oeffentlichkeit Emotionen
weckten, ohne damit schon Einsicht in globale Probleme zu foerdern,
offenbarte ein Manko: zwischen Philosophen, Soziologen und
Wissenschaftshistorikern blieb die Kunstwissenschaft unbesetzt. Nicht erst
mit dem Vorschlag Wilhelm Schmids, schoen sei, was bejaht werden koenne,
geriet die Aesthetik zum Absorptionsraum ungeloester Fragen. Aus dem
Publikum wurde an die Bedeutung der Oekologie fuer Kuenstler wie Joseph
Beuys und James Turrell erinnert.

Gernot Boehme bestritt die wirksame Kompensation von Modernitaetsverlusten
im Angesicht staendigen Wirtschaftswachstums. Dessen mangelnde
Umweltvertraeglichkeit werde durch das Konzept der "Nachhaltigkeit"
verschleiert. Hier wird man fragen muessen, ob Entlastungsfunktionen eher
einer Aesthetisierung des Alltags durch Designerprodukte, oder vielmehr der
Virtualisierung von Wirtschaft und Politik zugetraut werden koennen. Schmid
erklaerte denn auch die "Sonntagsreden" vom Gemeinwohl zur Heuchelei; nur
dem eigenen Leben koenne man Form und Sinn verleihen. Freilich konstatierte
Boehme, viele Errungenschaften der Reformbewegung seien in die heutige
Lebenswirklichkeit eingegangen. Fritsche betonte die Chancen, die von der
Integration der Oekologie in saemtliche Politikfelder ausgingen. Mit dem
Tutzinger Manifest werde eine neue Verbindung von Oekologie und Aesthetik
eingefordert.
http://www.kupoge.de/ifk/tutzinger-manifest/index.html

Ulrich Pfarr,
Doktorand am Kunstgeschichtlichen Institut der Johann Wolfgang
Goethe-Universitaet Frankfurt

*
Copyright (c) 2001 by H-ArtHist (H-NET) and the author, all rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is
given to the author and the list. For other permission, please contact
H-ArtHisth-net.msu.edu. In review matters please contact:
hah-redaktionh-net.msu.edu

Falls Sie Ausstellungen, Buecher oder Tagungen fuer H-ArtHist besprechen
oder hierfuer Vorschlaege unterbreiten moechten, schreiben Sie bitte an:
hah-redaktionh-net.msu.edu

Reference:
CONF: Lebensreform, 19.01.02, Darmstadt. In: ArtHist.net, Jan 30, 2002 (accessed May 5, 2025), <https://arthist.net/archive/24836>.

^