07.01.2020

Martin Warnke (1937–2019)

Michael Diers

Kunstgeschichte als kritische Wissenschaft
Zum Tod von Martin Warnke

Bis gegen Ende der 1960er Jahre galt die Kunstgeschichte als Orchideenfach, in welchem den großen Meistern mit großen, oft jedoch leeren Worten gehuldigt wurde. Die Welt außerhalb der Kunst drang in die wissenschaftlichen Überlegungen nur sehr vermittelt ein. Man glaubte oder gab vor, aus den Erfahrungen der Nazi-Zeit gelernt zu haben, und war daher bestrebt, alles „Außerkünstlerische“, darunter das Politische, von der Kunst fernzuhalten. Die Generation der Achtundsechziger hat mit diesem konservativen, bisweilen auch reaktionären Selbstverständnis gebrochen, ja abgerechnet und es als Tarnung der Protagonisten decouvriert. Der Kölner Kunsthistorikerkongress von 1970 hat mit der von dem jungen, damals frisch habilitierten Martin Warnke geleiteten Sektion „Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung“ die definitive Wende eingeleitet. Die Referenten bereiteten dem Spuk eines akademischen l’art pour l’art ein Ende und verlangten eine Rückkehr zu einem Kunstverständnis, das die Werke wieder mit dem Leben verband, das heißt, sie historisch verortete und im Kontext ihrer Epoche als kulturelle Zeugnisse philosophischer, politischer, sozialer und ökonomischer Verhältnisse verstand. Die kritische Kunstgeschichte trat auf den Plan und forderte die (Selbst-)Reflexion der wissenschaftlichen Tätigkeit, ihrer Methoden und Diskurse sowie insbesondere auch der Sprache, mit welcher man den Kunstwerken begegnete.

Martin Warnke hat dazu zahlreiche Untersuchungen vorgelegt. Unter anderem zur Hofkunst mit monographischen Studien über Cranach, Velázquez, Rubens oder Goya, zur Kunst des Mittelalters und der Gegenwart, zum Bildersturm, zur politischen Landschaft und Architektur, zur Wissenschaftsgeschichte, darunter Editionen zu Jacob Burckhardt, Aby Warburg oder Reflexionen über Heinrich Wölfflin, sowie zur Zeitgeschichte. Er hat jeweils gezeigt, dass ein „kritisches“ Nachdenken keineswegs zu einer Beschädigung der Idee der Kunst, ihrer Theorie und Historie, sondern, im Gegenteil, zu einem gründlicheren Verstehen führt, indem Geschichte und Gegenwart aufeinander bezogen und nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Mit seinem Fachverständnis hat Warnke unter anderem an jene Tradition angeknüpft, die sich in den 1920er Jahren als Hamburger Schule um den Philosophen Ernst Cassirer und die Kunsthistoriker Erwin Panofsky und Aby Warburg herausgebildet und in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg ihr wissenschaftliches Organ und öffentliches Zentrum hatte. Warnke hat der Kunstgeschichte vor allem auch das weite Feld der - wie er es genannt hat - „Politischen Ikonographie“ hinzugewonnen, sich demnach als Bildhistoriker begriffen und dadurch dem Kanon der klassischen Kunst das allgemeine, alltägliche Presse-, Werbe- oder Propagandabild zur Seite gestellt und auf diesem Weg in der Nachfolge Warburgs die Bildwissenschaft als zentralen kunsthistorischen Aufgabenbereich bestimmt.

Weniger die Frage danach, was einen Kunsthistoriker oder eine Kunsthistorikerin bewegt, sondern vielmehr die Frage, was er in seinem Fach (und folglich in der Welt) bewegt hat, kann Aufschluss über sein Vermögen (und Vermächtnis) geben. Im Fall von Martin Warnke lautet die Antwort schlicht: viel, sehr viel, ja außerordentlich viel. Er hat geholfen, das Fach vom Kopf auf die Füße zu stellen, es zu erden, und zwar ohne das zugehörige Gedankengewölbe darüber zu zerstören.

Am 11. Dezember 2019 ist Martin Warnke nach längerem Leiden im Alter von 82 Jahren in Halle an der Saale gestorben. Mit ihm verliert nicht nur die Kunstgeschichte, sondern die wissenschaftliche Welt insgesamt einen der international angesehensten und bedeutendsten, mit vielen Preisen und Ehrungen bedachten Gelehrten, der sich neben seiner in vielfältige Richtungen ausgreifenden Forschung zugleich als ein herausragender Diplomat der Wissenschaft und, nicht zu vergessen, als ein ungewöhnlich inspirierender Lehrer ausgezeichnet hat.

[Anmerkung der Redaktion: Eine variierende und kürzere Fassung des Textes ist in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. Dezember 2019 erschienen.]

Quellennachweis:
Martin Warnke (1937–2019). In: ArtHist.net, 07.01.2020. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/archive/22344>.

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